TE OGH 2018/12/19 7Ob194/18g

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Veröffentlicht am 19.12.2018
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** K*****, vertreten durch Poduschka Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei A***** SE Direktion für Österreich, *****, vertreten durch Themmer Toth & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 16. August 2018, GZ 1 R 25/18z-10, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 19. Dezember 2017, GZ 4 C 529/17y-6, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 939,24 EUR (darin enthalten 156,54 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu zahlen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat mit Versicherungsbeginn 1. 11. 2000 einen Lebensversicherungsvertrag mit Ablauf zum 1. 11. 2020 abgeschlossen. Er erklärte mit Schreiben vom 29. 11. 2016 den Vertragsrücktritt mit der Begründung, er sei mangelhaft über sein Rücktrittsrecht belehrt worden. Der Lebensversicherer lehnte am 29. 12. 2016 den Rücktritt mit der Begründung ab, dass die Rücktrittsfrist bereits abgelaufen sei.

Der Kläger war von 1. 1. 2001 bis 1. 1. 2004 und ist seit 15. 1. 2009 aufrecht bei der Beklagten rechtschutzversichert. Dem früheren Versicherungsvertrag lagen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtssschutzversicherung (ARB 2000) und dem aufrechten Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB 2003) zugrunde. Diese lauten (insoweit übereinstimmend) auszugsweise:

„Artikel 2

Was gilt als Versicherungsfall und wann gilt er als eingetreten?

[...]

3. In den übrigen Fällen gilt als Versicherungsfall der tatsächliche oder behauptete Verstoß des Versicherungsnehmers, Gegners oder eines Dritten gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften; der Versicherungsfall gilt in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem eine der genannten Personen begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen.

Bei mehreren Verstößen ist der erste, adäquat ursächliche Verstoß maßgeblich, wobei Verstöße, die länger als ein Jahr vor Versicherungsbeginn zurückliegen, für die Feststellung des Versicherungsfalls außer Betracht bleiben. [...]

Art 3

Für welchen Zeitraum gilt die Versicherung? (Zeitlicher Geltungsbereich)

1. Die Versicherung erstreckt sich auf Versicherungsfälle, die während der Laufzeit des Versicherungsvertrags eintreten.

2. Löst eine Willenserklärung oder Rechtshandlung des Versicherungsnehmers, des Gegners oder eines Dritten, die vor Versicherungsbeginn vorgenommen wurde, den Versicherungsfall gemäß Art 2.3 aus, besteht kein Versicherungsschutz. Willenserklärungen oder Rechtshandlungen, die länger als ein Jahr vor Versicherungsbeginn vorgenommen wurden, bleiben dabei außer Betracht.

[...]“

Der Kläger begehrte die Feststellung, dass ihm die Beklagte Rechtsschutzdeckung zur Geltendmachung von Rückabwicklungsansprüchen gegen den Lebensversicherer zu gewähren habe. Er sei von diesem nicht rechtsrichtig über sein Rücktrittsrecht aufgeklärt worden. Der Versicherungsfall sei die Ablehnung der Rückabwicklung durch den Lebensversicherer.

Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Der Versicherungsfall (= behauptete fehlerhafte Belehrung über das Rücktrittsrecht) sei vor Wirksamwerden des Versicherungsschutzes eingetreten.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Sowohl die mangelhafte Belehrung über das Rücktrittsrecht als auch die ungerechtfertigte Ablehnung des Rücktritts durch den Lebensversicherer seien ein Verstoß im Sinn des Art 2.3 der ARB 2003. Der erste Verstoß sei länger als ein Jahr vor Beginn des laufenden Vertrags erfolgt und habe deshalb für die Feststellung des Versicherungsfalls außer Betracht zu bleiben. Es bestehe daher Deckungspflicht.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und änderte die Entscheidung des Erstgerichts im Sinn der Abweisung des Klagebegehrens ab. Die Ablehnung des Rücktritts durch den Lebensversicherer sei lediglich die Folge des nach den Behauptungen des Klägers davor gelegenen Verstoßes durch eine nicht gesetzeskonforme Belehrung über sein Rücktrittsrecht. Risken, die vor Abschluss des Versicherungsvertrags eingetreten seien und sich lediglich nach Abschluss des Rechtsschutzversicherungsvertrags aktualisierten, weil sie erst dann zum Anlass einer rechtlichen Auseinandersetzung würden, seien nicht gedeckt. Mehrere Verstöße lägen nicht vor.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil die Klärung der hier zu lösenden Rechtsfrage über den Einzelfall hinaus Bedeutung habe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Klagsstattgebung; hilfsweise stellt der Kläger auch einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise dieser keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

1. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RIS-Justiz RS0050063 [T71], RS0112256 [T10], RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0008901 [insb T5, T7, T8, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RIS-Justiz RS0050063 [T3]).

2. Der Kläger begehrt Rechtsschutzdeckung aus einer von 1. 1. 2001 bis 1. 1. 2004 aufrecht gewesenen bzw der seit 15. 1. 2009 aufrechten Rechtsschutzversicherung.

2.1. Unbestritten ist, dass hier für den Eintritt des Versicherungsfalls Art 2.3 ARB (2000 bzw 2003) maßgeblich ist.

2.2. Nach dieser Bestimmung liegt der Versicherungsfall in der Rechtsschutzversicherung vor, wenn einer der Beteiligten begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen. Es bedarf daher eines gesetzwidrigen oder vertragswidrigen Verhaltens eines Beteiligten, das als solches nicht sofort oder nicht ohne weiteres nach außen zu dringen braucht. Ein Verstoß ist ein tatsächlich objektiv feststellbarer Vorgang, der immer dann, wenn er auch wirklich vorliegt oder ernsthaft behauptet wird, den Keim eines Rechtskonflikts in sich trägt, der zur Aufwendung von Rechtskosten führen kann. Damit beginnt sich die vom Rechtsschutzversicherer übernommene Gefahr konkret zu verwirklichen. Es kommt nicht darauf an, ob der Handelnde sich des Verstoßes bewusst oder infolge von Fahrlässigkeit oder unverschuldet nicht bewusst war, es soll sich um einen möglichst eindeutig bestimmbaren Vorgang handeln, der in seiner konfliktauslösenden Bedeutung für alle Beteiligten, wenn auch erst nachträglich, erkennbar ist. Es kommt weder auf den Zeitpunkt an, zu dem die Beteiligten von dem Verstoß Kenntnis erlangten, noch darauf, wann aufgrund des Verstoßes Ansprüche geltend gemacht oder abgewehrt werden (RIS-Justiz RS0114001). Bei mehreren (gleichartigen) Verstößen ist auf den ersten abzustellen (RIS-Justiz RS0114209). Ist kein einheitliches Verstoßverhalten des Schädigers erkennbar, handelt es sich bei einzelnen schädigenden Verhaltensweisen jeweils um einen rechtlich selbständigen neuen Verstoß. Die Beweislast für den Eintritt des Versicherungsfalls im versicherten Zeitraum trifft den Versicherungsnehmer. War nach der Sachlage beim ersten Verstoß mit weiteren gleichartigen Verstößen zu rechnen, liegen in der Regel nicht mehrere selbständige Verstöße, sondern ein einheitlicher Verstoß im Rechtssinn vor. Dies kann sowohl bei vorsätzlichen Verstößen der Fall sein, bei denen der Wille des Handelnden von vornherein den Gesamterfolg umfasst und auf dessen „stoßweise Verwirklichung“ durch mehrere gleichartige Einzelhandlungen gerichtet ist, wie auch bei Fällen gleichartiger fahrlässiger Verstöße, die unter wiederholter Außerachtlassung der selben Pflichtenlage begangen werden (RIS-Justiz RS0111811). Die Bestimmung des Zeitpunkts des Versicherungsfalls im Rahmen der Rechtsschutzdeckung für die Wahrnehmung rechtlicher Interessen aus schuldrechtlichen Verträgen soll vermeiden, dass die Rechtsschutzversicherung mit Kosten solcher Rechtskonflikte belastet wird, die bei Abschluss des Versicherungsfalls bereits die „erste Stufe der konkreten Gefahrenverwirklichung“ erreicht haben, also gewissermaßen „vorprogrammiert“ sind (7 Ob 144/10t mwN).

2.3. Der Kläger leitet aus einer behaupteten fehlerhaften Belehrung über sein Rücktrittsrecht durch den Lebensversicherer ein unbefristetes Rücktrittsrecht vom Lebensversicherungsvertrag und darauf aufbauend Rückabwicklungsansprüche ab, für deren Verfolgung er vom Rechtsschutzversicherer Kostendeckung begehrt. In diesem Fall liegt bereits in der behaupteten fehlerhaften Belehrung im Jahr 2000 der Keim der späteren Auseinandersetzung über die Wirksamkeit des Rücktritts. Dieser allein maßgebliche Verstoß (fehlerhafte Belehrung) ist der Versicherungsfall. Die Bestreitung der Wirksamkeit des nach Ansicht des Lebensversicherers verfristeten Rücktritts und die darauf gestützte Ablehnung der Rückabwicklung begründen hingegen keine (selbständigen) Verstöße, sondern sind als Auseinandersetzung gerade über die Rechtsfolgen der behauptetermaßen fehlerhaften Belehrung deren konsequente Folge. Durch die Bestreitung des Lebensversicherers aktualisiert sich also nur der bereits in der fehlerhaften Belehrung gründende Rechtskonflikt und in dieser keimt bereits die Gefahr der späteren Verursachung von Kosten der Rechtsverfolgung. Der erst danach erfolgte Abschluss des Rechtsschutzversicherungsvertrags deckt dieses bereits zuvor begründete Risiko nicht. Dass ein bereits im Keim bestehender Rechtskonflikt, der erst nach Abschluss des Rechtsschutzversicherungsvertrags aktuell wird, nach dem Wortlaut des Art 2.3 ARB (2000 bzw 2003) nicht gedeckt ist, ist einem durchschnittlich versierten Versicherungsnehmer einsichtig.

2.4. Diese Rechtsansicht steht überdies im Einklang mit der zu einer durchaus vergleichbaren Konstellation ergangenen Entscheidung 7 Ob 144/10t, in der der Fachsenat bereits die Aufnahme einer angeblich intransparenten Klausel in einen Versicherungsvertrag und nicht erst die Berufung auf die vermeintlich unwirksame Klausel als den, den Versicherungsfall darstellenden, Verstoß gewertet hat.

2.5. Die in Art 2.3 ARB (2000 bzw 2003) normierte Jahresfrist bezieht sich bereits nach ihrem Wortlaut nur auf das Vorliegen – hier nicht gegebener – mehrerer Verstöße (7 Ob 32/18h), sodass sie hier nicht zur Anwendung kommt.

2.6. Vor dem Hintergrund dieser österreichischen Rechtslage und Judikatur hat daher das Berufungsgericht die Vorvertraglichkeit zutreffend bejaht.

3.1. Der Bundesgerichtshof geht dagegen in seiner jüngeren Rechtsprechung davon aus, dass für die Festlegung der dem Vertragspartner des Versicherungsnehmers vorgeworfenen Pflichtverletzung ausschließlich jener Tatsachenvortrag entscheidend sei, mit dem der Versicherungsnehmer den Verstoß begründet. Daher urteilte er in einem mit dem vorliegenden vergleichbaren Fall dahin, dass der maßgebliche Verstoß die Weigerung des Lebensversicherers sei, den nach den Klagsbehauptungen zulässigen Rücktritt anzuerkennen. Der Rechtskonflikt sei bei Abschluss des Lebensversicherungsvertrags noch nicht vorprogrammiert. Vielmehr verfolge der Kläger einen Bereicherungsanspruch, der erst mit Ausübung seines Widerspruchsrechts entstanden sein könne (BGH IV ZR 23/12; zum Widerruf für Haustürgeschäfte IV ZR 37/07 = VersR 2008/113).

3.2. Diese Entscheidung zur Deckungspflicht bei Lebensversicherungsstreitigkeiten ist in der deutschen Lehre tendenziell auf Zustimmung gestoßen (etwa Maier, Versicherungsfall und streitauslösende Willenserklärung in der Rechtsschutzversicherung, r+s 2017, 574; Cornelius-Winkler in Harbauer Rechtsschutzversicherung9 ARB 2010 § 4 Rn 134; aA Obarowski in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch3 § 37 Rn 418).

3.3. Der neuen Judikaturlinie des Bundesgerichtshofs zur Definition des Versicherungsfalls in der Rechtsschutzversicherung, die allein auf die Behauptungen des Versicherungsnehmers abzielt und damit auch verpönte Zweckabschlüsse erleichtert, ist der Fachsenat schon bisher nicht gefolgt (vgl 7 Ob 36/18x) und er vermag sich dieser Änderung des Meinungsstands in Deutschland auch im vorliegenden Fall nicht anzuschließen, muss sich doch der Versicherungsnehmer zwingend auf eine fehlerhafte Belehrung des Lebensversicherers berufen, weil andernfalls seinem Rücktritt die Rechtsgrundlage fehlte und die Klagsbehauptungen unschlüssig blieben.

4. Bei Art 3.2 ARB (2000 bzw 2003) handelt es sich um einen zeitlichen Risikoausschluss. Er begründet eine Erweiterung der Vorvertraglichkeit, wenn eine Willenserklärung oder Rechtshandlung, die vor Beginn des Versicherungsschutzes vorgenommen wurde, den späteren Verstoß ausgelöst hat. Die Willenserklärung oder Rechtshandlung, die den Streit auslöst, muss streng von dem für den Eintritt des Versicherungsfalls maßgeblichen Verstoß unterschieden werden. Art 3.2 ARB (2000 bzw 2003) ist nicht maßgeblich, wenn die Willenserklärung (Rechtshandlung), um die es geht, selbst schon der tatsächliche oder behauptete Verstoß ist (7 Ob 66/18h mwN). Da hier bereits die fehlerhafte Belehrung über das Rücktrittsrecht der für den Eintritt des Versicherungsfalls maßgebliche Verstoß ist, kommt eine Anwendung des Art 3.2 ARB (2000 bzw 2003) nicht in Betracht. Entgegen der Ansicht des Klägers kann daher aus dieser zeitlichen Risikobegrenzung nicht – im Umkehrschluss – eine jedenfalls bestehende Deckungspflicht abgeleitet werden.

5. Der Revision war daher der Erfolg zu versagen. Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 41, 50 ZPO.

Textnummer

E124043

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:0070OB00194.18G.1219.000

Im RIS seit

15.02.2019

Zuletzt aktualisiert am

25.02.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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