TE OGH 2018/9/13 10ObS57/18g

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Veröffentlicht am 13.09.2018
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner und Mag. Bianca Hammer (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*****, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr. Michael Stögerer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Betriebsrente, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. März 2018, GZ 7 Rs 4/18m-14, mit dem infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 16. November 2017, GZ 27 Cgs 142/17v-10, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der Kläger erlitt bei Waldarbeiten am 24. 5. 2014 einen Arbeitsunfall, als er sich mit der Motorsäge am linken Knie verletzte.

Der Kläger erlitt bei diesem Unfall folgende Verletzungen: Rissquetschwunde am linken Knie mit Gelenksöffnung, Knochendefekt an der inneren Oberschenkelrolle und Durchtrennung eines Bandes (meniskofemoral links). Diese Verletzungen wurden regelrecht diagnostiziert und zwei Mal operativ versorgt.

Mit Bescheid vom 20. 7. 2016 erkannte die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Bauern dem Kläger eine Betriebsrente als Dauerrente im Ausmaß von 25 vH der Vollrente ab dem 25. 5. 2015 zu.

Zum Untersuchungszeitpunkt durch die Sachverständige in diesem Verfahren (25. 9. 2017, ON 6) bestanden unfallchirurgisch folgende Unfallfolgen: Leichtgradige Bewegungseinschränkung des linken Kniegelenks; Muskelverschmächtigung des linken Oberschenkels; blande Narben auf Höhe des linken Kniegelenks; subjektive Beschwerden. Die Sachverständige schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 15 % ein.

Im Vergleich zum Bescheid vom 20. 7. 2016 ist im Zustand des Klägers zwar eine Verbesserung eingetreten, allerdings lediglich eine geringe. Es ist eine geringe Verbesserung der Streckbarkeit des Kniegelenks erfolgt, die jedoch nur 5 Grad messbar beträgt. Dies stellt (aus tatsächlicher Sicht) keine wesentliche Verbesserung dar.

Eine wesentliche Verbesserung ist im Vergleich zum Vorzustand aus dem Jahr 2014 eingetreten, nicht jedoch im Vergleich zum 20. 7. 2016.

Mit Bescheid vom 19. 5. 2017 entzog die Beklagte dem Kläger die zuletzt mit Bescheid vom 20. 7. 2016 festgestellte Dauerrente mit Ablauf des Monats Juni 2017 gemäß §§ 63, 149d BSVG. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit sei auf ein Ausmaß gesunken, welches keinen weiteren Anspruch auf Betriebsrente begründe.

Der Kläger begehrt mit seiner dagegen gerichteten Klage die Zuerkennung einer Betriebsrente im gesetzlichen Ausmaß über den Juni 2017 hinaus als Dauerrente. In den tatsächlichen Verhältnissen, welche der letzten Feststellung zugrunde lagen, sei keine Veränderung eingetreten.

Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage, weil eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit mit Ablauf des Juni 2017 nicht mehr bestehe.

Das Erstgericht erkannte dem Kläger eine Betriebsrente im Ausmaß von 25 vH der Vollrente als Dauerrente über den 30. 6. 2017 hinaus zu. Im Verhältnis zwischen den Zeitpunkten der Leistungszuerkennung mit Bescheid vom 20. 7. 2016 und dem Zustand zum Leistungsentzug sei es zu keiner wesentlichen Verbesserung gekommen, „und zwar in dem Sinn, dass bereits am 20. 7. 2016 der Zustand des Klägers wesentlich verbessert“ gewesen sei. Die nachträgliche Erkenntnis, dass die Voraussetzungen für den Leistungszuspruch zur Zeit der Zuerkennung nicht vorhanden gewesen seien, rechtfertige nicht die Entziehung der Leistung.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Das Erstgericht habe die durch den Arbeitsunfall erlittenen Verletzungen des Klägers festgestellt. Es habe weiters unbekämpft die zum Untersuchungszeitpunkt durch die Sachverständige bestehenden Unfallfolgen und den Umstand, dass nur eine geringe Verbesserung der Streckbarkeit des Kniegelenks erfolgt sei, festgestellt. Die Rechtsfrage, ob eine „wesentliche Änderung“ der Verhältnisse eingetreten sei, lasse sich nach den Feststellungen des Erstgerichts verneinen. Dass eine nur mit fünf Grad messbare Verbesserung der Streckbarkeit des Kniegelenks keine wesentliche Änderung des Zustands des Versicherten darstelle, habe das Erstgericht zutreffend angenommen.

Die Revision ließ das Berufungsgericht mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung der Klage begehrt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger machte von der ihm gemäß § 508a Abs 2 ZPO eingeräumten Möglichkeit, eine Revisionsbeantwortung zu erstatten, keinen Gebrauch.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts zulässig und auch im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

Die Revisionswerberin macht zu Recht geltend, dass die bisher getroffenen Feststellungen nicht ausreichen, um die Rechtssache abschließend zu beurteilen.

1. Eine Neufeststellung der Rente ist gemäß § 148h BSVG (ebenso wie nach der entsprechenden Regelung des § 183 Abs 1 ASVG) nur bei einer „wesentlichen Änderung der Verhältnisse“ zulässig. Als wesentlich gilt eine Änderung der Verhältnisse gemäß § 148h Abs 1 Satz 2 BSVG (entspricht § 183 Abs 1 Satz 2 ASVG) nur, wenn durch sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch mehr als drei Monate um mindestens 10 vH geändert wird, durch die Änderung ein Rentenanspruch entsteht oder wegfällt (§§ 149d, 149 l Abs 1 BSVG) oder die Schwerversehrtheit entsteht oder wegfällt (§ 149e Abs 3 BSVG).

2. Der Leistungsbescheid über die Zuerkennung einer zeitraumbezogenen, wiederkehrenden Leistung ohne Enddatum entfaltet Rechtskraftwirkung auch für die Zukunft. Nur eine Änderung der Sach- oder Rechtslage, auf welcher der Bescheid beruht, eröffnet die Befugnis, über den Zeitraum ab dem Zeitpunkt der Änderung neuerlich abzusprechen (Müller in SV-Komm [162. Lfg] § 183 ASVG Rz 1 mwH). Unter dem Gesichtspunkt der Rechtskraft des Bescheids kann von einer „Änderung der Verhältnisse“ daher nur dann gesprochen werden, wenn sich der Sachverhalt, also die Befundlage geändert hat, und nicht bloß die Schlussfolgerungen aus der Befundlage. Wurde die Dauerrente einmal festgestellt, dann können seinerzeitige Fehleinschätzungen betreffend das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht im Weg einer Neufeststellung korrigiert werden (10 ObS 87/16s, SSV-NF 30/49 mwH; RIS-Justiz RS0084142).

3.1 Ob eine „wesentliche Änderung der Verhältnisse“ im Sinn des § 148h Abs 1 Satz 2 BSVG vorliegt, ist eine Rechtsfrage. Aufgabe des Sachverständigen ist es lediglich darzutun, in welcher Hinsicht sich der seinerzeit erhobene Befund geändert hat und ob und in welchem Ausmaß sich daraus eine Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergibt (Müller in SV-Komm § 183 ASVG Rz 13).

3.2 Entscheidend ist, ob sich der tatsächliche Zustand des Klägers seit der die Grundlage der Gewährung bildenden Untersuchung wesentlich geändert hat (10 ObS 87/16s, SSV-NF 30/49; RIS-Justiz RS0084194). Eine wesentliche Änderung des Zustands des Klägers lässt sich weder aus dem festgestellten Umstand der bloß geringen Verbesserung der Streckbarkeit seines Knies, noch aus der weiteren Feststellung, dass dies „keine wesentliche Verbesserung“ darstelle, beurteilen. Eine wesentliche Änderung im Zustand des Klägers liegt vor dem Hintergrund des § 148h BSVG im vorliegenden Fall vielmehr nur entweder dann vor, wenn sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers durch mehr als drei Monate hindurch um mindestens 10 vH geändert hat, oder wenn durch die Änderung der Rentenanspruch wegfällt (ausführlich 10 ObS 87/16s, SSV-NF 30/49).

4.1 Zur Beurteilung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse ist zunächst der Tatsachenkomplex heranzuziehen, der jener Entscheidung zugrunde lag, deren Rechtskraftwirkung bei unveränderten Verhältnissen einer Neufeststellung der Rente im Weg stünde (10 ObS 87/16s, SSV-NF 30/49; RIS-Justiz RS0084151).

4.2 Im fortzusetzenden Verfahren werden daher zunächst ergänzende Feststellungen zu jenem Befund zu treffen sein, der der Gewährung der Dauerrente mit dem Bescheid vom 20. 7. 2016 zugrunde lag. Das Erstgericht hat bereits Feststellungen zu den vom Kläger durch den Arbeitsunfall erlittenen Verletzungen getroffen. Es fehlen jedoch Feststellungen zu der dadurch bewirkten medizinischen Minderung der Erwerbsfähigkeit bezogen auf den Zeitpunkt der Gewährung.

Die rechtliche Schlussfolgerung des Erstgerichts, dass diese geringer als 25 vH gewesen sei (und zwar in einem Ausmaß, dass sie den Leistungszuspruch nicht gerechtfertigt hätte), findet in den Feststellungen, die nur den Inhalt des Bescheids vom 20. 7. 2016 wiedergeben, keine Grundlage. Die vom Erstgericht beigezogene Sachverständige aus dem Fachgebiet der Unfallchirurgie hat in ihrem schriftlichen Gutachten die unfallkausale Minderung der Erwerbsfähigkeit ab dem 1. 7. 2017 mit 15 vH eingeschätzt. Abgesehen davon, dass diese medizinische Einschätzung nicht festgestellt ist, handelt es sich dabei um den Zeitpunkt, mit dem die Entziehung der Rente begann.

4.3 In einem zweiten Schritt sind die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Gewährungsentscheidung mit den Verhältnissen, die der Entziehungsentscheidung zugrunde lagen, zu vergleichen (10 ObS 87/16s, SSV-NF 30/49; RIS-Justiz RS0084151 [T5]; Müller in SV-Komm § 183 ASVG Rz 15).

4.4 Im fortzusetzenden Verfahren werden daher Feststellungen zum Befund des Klägers bezogen auf den Zeitpunkt der Entziehung mit dem angefochtenen Bescheid (und nicht bezogen auf den Zeitpunkt der Untersuchung durch die gerichtlich bestellte Sachverständige aus dem Fachgebiet der Unfallchirurgie) zu treffen sein. In diesem Zusammenhang wird die Sachverständige darzulegen haben, ob und in welcher Hinsicht sich der seinerzeit erhobene, der Gewährung zugrunde liegende Befund geändert hat und ob und in welchem Ausmaß sich daraus eine Änderung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergibt.

5. Da sich somit das Verfahren als ergänzungsbedürftig erweist, war der Revision Folge zu geben und die Rechtssache zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf den § 2 ASGG, § 52 ZPO.

Textnummer

E123247

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:010OBS00057.18G.0913.000

Im RIS seit

27.11.2018

Zuletzt aktualisiert am

22.06.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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