TE OGH 2009/5/7 13Os37/09d

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Veröffentlicht am 07.05.2009
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. Mai 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Hofmann als Schriftführerin in der Strafsache gegen Philipp M***** wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall SMG, § 15 StGB, AZ 325 HR 73/09k des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 17. März 2009, AZ 21 Bs 105/09h (ON 59), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Philipp M***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.

Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer an den Beschwerdeführer auferlegt.

Text

Gründe:

Über Philipp M***** wurde am 8. Februar 2009 wegen dringenden Verdachts eines vom Erstgericht nach „§§ 28a Abs 1 SMG" beurteilten Verhaltens (Verkauf und versuchter Verkauf von Heroin; vgl § 28a Abs 1 fünfter Fall, § 15 StGB) aus den Gründen der Flucht-, Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1, 2 und 3 lit b die Untersuchungshaft verhängt (ON 20, 24).

Mit per Telefax eingelangtem Schreiben vom 11. Februar 2009 ersuchte der Verfahrenshilfeverteidiger um „Veranlassung einer Aktenkopie" (ON 27).

Mit Beschluss vom 23. Februar 2009 wurde die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO fortgesetzt (ON 29, 32), wogegen der Beschuldigte Beschwerde erhob. Darin machte er geltend, dass mehrere Versuche, Akteneinsicht zu erhalten, vergeblich gewesen und Schreiben vom 11. Februar 2009 (ON 27) und vom 18. Februar 2009 (ON 45, 48), mit denen um dringende Übersendung einer Aktenkopie „oder zumindest Gelegenheit zur Aktenabschrift angesucht" worden sei, ohne Reaktion geblieben seien (ON 33 S 2). Selbst bei der Haftverhandlung am 23. Februar 2009 habe sein Verfahrenshilfeverteidiger noch keine Aktenkenntnis gehabt. „Durch die Verzögerungen seitens der Staatsanwaltschaft" sei dem Verfahrenshilfeverteidiger jede Möglichkeit genommen worden, „das Vorliegen von Gründen für oder gegen die Verhängung der Untersuchungshaft zu prüfen". Bei rechtzeitiger Aktenkenntnis hätte sich ergeben, dass kein dringender Tatverdacht und keine Haftgründe vorlägen, die Untersuchungshaft außerdem unverhältnismäßig sei und gelindere Mittel genügt hätten.

Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien der Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichts vom 23. Februar 2009 nicht Folge. Es ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO iVm § 35 Abs 1 zweiter Satz JGG an und führte in den Gründen der Entscheidung aus, dass ein Verstoß gegen § 52 Abs 2 Z 2 iVm Abs 3 StPO stattgefunden, es aber mit der Feststellung der Gesetzesverletzung sein Bewenden habe, weil die Aktenabschrift dem Verfahrenshilfeverteidiger zwischenzeitig (nämlich am 10. März 2009) bereits zugekommen sei (ON 59 S 21).

Dagegen wendet sich die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten.

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

1. Soweit der Beschuldigte Vorbringen der Haftbeschwerde zu jenem der Grundrechtsbeschwerde erklärt (und wiederholt), verfehlt er deren Bezugspunkt (RIS-Justiz RS0106464).

2. Die Verpflichtung, dem Verfahrenshilfeverteidiger unverzüglich Kopien des Aktes von Amts wegen zuzustellen (§ 52 Abs 3 erster Satz StPO), dies, wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet, bis zur ersten Haftverhandlung oder zur früher stattfindenden Hauptverhandlung hinsichtlich aller Aktenstücke, die für die Beurteilung des Tatverdachts oder der Haftgründe von Bedeutung sein können (§ 52 Abs 2 Z 2, Abs 3 zweiter Satz StPO), trifft im Ermittlungsverfahren nach geltender Rechtslage (vgl aber Art 18 Z 11 f der RV Budgetbegleitgesetz 2009, 113 BlgNR 24. GP) die Staatsanwaltschaft (§ 53 Abs 1 StPO).

3. In der Haftbeschwerde machte der Beschuldigte eine ins Gewicht fallende Säumnis der Staatsanwaltschaft bei Erfüllung der vorgenannten Verpflichtung geltend (ON 33).

Es steht (aufgrund einer Beschwerde) dem Oberlandesgericht zu, im Fall einer Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen im Bereich der Staatsanwaltschaft Abhilfe durch einen konkreten Auftrag an diese zu schaffen (14 Os 108/08a, EvBl 2008/174; 13 Os 122/08b). Hat die Staatsanwaltschaft das zunächst Verabsäumte inzwischen nachgeholt, ist zwar für einen gerade darauf gerichteten Auftrag - naturgemäß - kein Raum mehr. Diesfalls obliegt es allerdings dem (wegen der Verzögerung mit Haftbeschwerde angerufenen) Oberlandesgericht, nach Möglichkeit Abhilfe gegen Folgen der Säumnis zu schaffen, um ein Fortwirken der Verzögerung hinanzuhalten.

Im gegebenen Fall war mit der vom Oberlandesgericht konstatierten Verletzung der Verpflichtung, dem Verfahrenshilfeverteidiger unverzüglich Kopien des Aktes von Amts wegen zuzustellen, eine gewichtige Schmälerung der Verteidigungsrechte verbunden, denn der Beschuldigte war durch diese Säumnis nicht in der Lage, zur Vorbereitung der Haftverhandlung die ihm nach dem Gesetz zustehenden Verteidigungsrechte (vgl § 176 Abs 4 StPO) effizient in Anspruch zu nehmen. Indem das Oberlandesgericht die ins Gewicht fallende Säumnis der Staatsanwaltschaft zwar als nicht zu vertretende Verzögerung der Gewährung von Akteneinsicht beanstandete, daran aber keine konkreten Maßnahmen wie insbesondere einen Auftrag zu umgehender neuerlicher Haftprüfung durch das Erstgericht knüpfte, stattdessen selbst die Fortsetzung der Untersuchungshaft beschloss, ohne dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger noch Gelegenheit zu inhaltlicher Stellungnahme zur Haftfrage (nach Erhalt einer vollständigen Aktenkopie) zu geben, verletzte es Philipp M***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit.

Dies war - ohne Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (§ 7 Abs 1 GRBG) - festzustellen.

Durch die - im Fall des § 7 Abs 2 GRBG mit der Feststellung einer Grundrechtsverletzung von Gesetzes wegen verbundene - Anordnung umgehend erneuter Haftprüfung wird (anders als im Fall der Haftprüfung aufgrund vom Beschuldigten beantragter Freilassung; §§ 175 Abs 5, 176 Abs 1 Z 2 StPO) die Entscheidung einer kassatorischen Erledigung so weit wie möglich angenähert, um das Bemühen der Gerichte, einen Ausgleich für die festgestellte Grundrechtsverletzung zu finden, zu unterstreichen und das Fortwirken der Grundrechtsverletzung zu unterbinden.

4. Entsprechend dem Gebot des § 7 Abs 2 GRBG wird der Einzelrichter des Landesgerichts umgehend eine neuerliche Haftprüfung vorzunehmen haben (RIS-Justiz RS0119858).

5. Der Kostenausspruch beruht auf § 8 GRBG.

Textnummer

E90780

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0130OS00037.09D.0507.000

Im RIS seit

06.06.2009

Zuletzt aktualisiert am

11.08.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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