TE OGH 2009/11/24 10Ob69/09h

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Veröffentlicht am 24.11.2009
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Jasmin M*****, geboren am 14. März 1995, *****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 21. September 2009, GZ 21 R 312/09t-S10, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Zell am See vom 29. Juni 2009, GZ 40 PS 139/09s-S4, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Die am 14. 3. 1995 geborene Jasmin M***** ist die eheliche Tochter von Klaudia M***** und Ehab M*****. Nach der einvernehmlichen Scheidung der Eltern am 28. 11. 2002 waren laut Scheidungsvereinbarung zunächst weiterhin beide Elternteile mit der Obsorge betraut. Mit Beschluss vom 12. 9. 2003 wurde die Obsorge der Mutter alleine übertragen.

Mit Schreiben vom 26. 5. 2009 (ON S2) beantragte die Mutter, die Obsorge für ihre Tochter auf Melanie L*****, eine langjährig enge Freundin, zu übertragen. Aufgrund einer Krebserkrankung sei ihre Lebenserwartung begrenzt und ihre Möglichkeit, ihre Tochter zu versorgen, sehr beschränkt. Dem Antrag lag ein Schreiben der Tochter bei, wonach es ihr freier Wunsch und Wille sei, bei der Familie L***** zu leben. Vor ihrem Vater, der sie ständigem Druck aussetze, habe sie Angst.

Nach Einholung einer (befürwortenden) Stellungnahme des Jugendwohlfahrtsträgers fasste das Erstgericht am 29. 6. 2009 den Beschluss, dass die Übertragung der Obsorge von der Mutter auf Melanie L***** „pflegschaftsgerichtlich genehmigt" wird (ON S 4).

Gegen diesen Beschluss erklärte der (zuvor weder vom Gericht noch vom Jugendwohlfahrtsträger förmlich gehörte) Vater am 14. 7. 2009 einen Rekurs zu gerichtlichem Protokoll, in dem er den Antrag stellte, die Übertragung der Obsorge auf Melanie L***** pflegschaftsgerichtlich nicht zu genehmigen; hilfsweise beantragte er eine Aufhebung des erstinstanzlichen Beschlusses. Inhaltlich führte der Vater aus, dass die Obsorge ihm zukommen solle, sollte die Mutter dazu nicht mehr in der Lage sein. Er sei dafür geeignet und das Kindeswohl werde dadurch auf keinen Fall gefährdet. Wäre er dem erstinstanzlichen Verfahren beigezogen worden, hätte das Erstgericht zu anderen Feststellungen gelangen müssen.

Jasmin M***** und Melanie L***** erstatteten am 11. 8. 2009 eine Rekursbeantwortung mit dem Antrag, dem Rekurs des Vaters nicht Folge zu geben (ON S 6).

Das Rechtsmittel des Vaters wurde am 13. 8. 2009 dem Rekursgericht vorgelegt ON S 7).

Am 21. 8. 2009 verstarb die Mutter (ON S 8).

Am 17. 9. 2009 langte beim Erstgericht ein Schriftsatz ein, in dem der nunmehr anwaltlich vertretene Vater zum einen seine Rekursausführungen ergänzte und zum anderen einen Antrag auf Übertragung der Obsorge an ihn gemäß § 145 ABGB stellte. Weiters beantragte er die Betrauung mit der einstweiligen Obsorge (ON S 9).

Mit Beschluss vom 21. 9. 2009 (ON S 10) gab das Rekursgericht dem Rekurs des Vaters nicht Folge und bestätigte den Beschluss erster Instanz mit der Maßgabe, dass Melanie L***** mit der Obsorge für die mj Jasmin M***** betraut werde. Inhaltlich führte es lediglich aus, dass das Erstgericht zu Recht Melanie L***** mit der alleinigen Obsorge betraut habe, weil dies dem erklärten Willen der Minderjährigen entspreche und keine Gründe ersichtlich seien, warum das Wohl der Minderjährigen dadurch gefährdet wäre. Der Vater bringe in seinem Rekurs inhaltlich auch nichts Substanzielles dagegen vor.

Der Revisionsrekurs wurde nicht zugelassen, weil die Kasuistik des Einzelfalls entscheidend sei.

Gegen die Entscheidung der zweiten Instanz richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters, in dem er den Antrag auf Abänderung dahin stellt, dass er mit der Obsorge für seine Tochter betraut werde. Hilfsweise stellt er einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag.

Rechtliche Beurteilung

Entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichts ist der Revisionsrekurs zulässig, weil eine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende erhebliche Fehlbeurteilung des Falls durch das Rekursgericht vorliegt.

Mit Beschluss vom 10. 11. 2009 hat der Oberste Gerichtshof daher dem selbständig verfahrensfähigen Kind (§ 104 AußStrG), Melanie L***** und dem Jugendwohlfahrtsträger (§ 106 AußStrG) die Beantwortung des Revisionsrekurses freigestellt.

Melanie L***** beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs des Vaters zurück- bzw abzuweisen. Der Jugendwohlfahrtsträger berichtet über eine Vorsprache von Jasmin M***** 17. 11. 2009 und legt deren Schreiben vor, wonach sie in Zukunft beim Vater leben wolle; damit erklärte sich der Jugendwohlfahrtsträger einverstanden.

Zusammengefasst macht der Vater in seinem Revisionsrekurs geltend, dass die Vorinstanzen die konkret zu erwartenden Lebensumstände des Kindes nicht erhoben hätten, sondern allein dessen Willen für maßgeblich erachtet, und schließlich den Vorrang leiblicher Eltern vor Dritten bei der Obsorgeübertragung nicht beachtet hätten.

Melanie L***** erwidert in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, dass die Vorinstanzen zu Recht von § 145 Abs 1 ABGB abgewichen seien; weiterer Erhebungen bedürfe es nicht.

Dazu wurde erwogen:

1. Im Zeitpunkt der Entscheidung zweiter Instanz war die Mutter bereits verstorben, was dem Rekursgericht auch bekannt war. Unter Berücksichtigung dieser Sachverhaltsänderung (vgl RIS-Justiz RS0006893) ist daher gemäß § 145 Abs 1 Satz 2 ABGB zu prüfen, ob unter Beachtung des Kindeswohls der Vater (in erster Linie) oder Groß- bzw Pflegeeltern (in zweiter Linie) mit der Obsorge zu betrauen sind. In dritter Linie hat das Gericht dann, wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (§ 187 ABGB).

Mit anderen Worten bedarf es dann, wenn ein Elternteil allein mit der Obsorge betraut war, eines Gerichtsbeschlusses, wer - unter Bedachtnahme auf das Kindeswohl - ganz oder zum Teil mit der Obsorge betraut wird. Dem ehelichen Elternteil kommt dabei im Licht des Art 8 EMRK eine Vorrangstellung gegenüber den anderen Personen zu (RIS-Justiz RS0014474; ausführlich Verschraegen in Schwimann, ABGB3 I § 145 Rz 8 ff).

2. Der Vater wurde im Verfahren erster Instanz nicht gehört, sondern es wurde vom Erstgericht nach Einholung einer Stellungnahme des Jugendwohlfahrtsträgers „die Übertragung der Obsorge auf Melanie L***** pflegschaftsgerichtlich genehmigt". Letztlich kommt damit zum Ausdruck, dass das Erstgericht auf diese Weise die Obsorge zur Gänze an Melanie L***** übertragen wollte. Gegen diese Übertragung wandte sich der Vater in seinem Rekurs.

Zwar wird der Mangel des rechtlichen Gehörs im Außerstreitverfahren behoben, wenn Gelegenheit bestand, den eigenen Standpunkt im Rekurs zu vertreten. Davon ausgehend meinte das Rekursgericht, der Vater habe in seinem Rechtsmittel inhaltlich nichts Substanzielles gegen die Übertragung der Obsorge auf Melanie L***** vorgebracht.

Dieser Standpunkt kann nicht geteilt werden. Der Vater hat in seinem Rekurs ausreichend zum Ausdruck gebracht, dass er für die Ausübung der Obsorge geeignet sei. Wäre er dem erstinstanzlichen Verfahren beigezogen worden, hätte das Erstgericht zu anderen Feststellungen gelangen müssen. Das Rekursgericht verkennt die Rechtslage, wenn es meint, dass für die Betrauung mit der Obsorge im konkreten Fall der erklärte Wille des Kindes maßgeblich sei, sofern nicht das Kindeswohl gefährdet wäre.

3. Wie bereits unter 1. ausgeführt wurde, ist nach der Gesetzeslage in erster Linie entscheidend, ob der Vater zur Ausübung der Obsorge geeignet oder ungeeignet ist, das Kind zu erziehen. Nur wenn sich herausstellen sollte, dass aus schwerwiegenden Gründen seine Eignung verneint werden müsste, kann die Obsorge einer anderen Person übertragen werden (RIS-Justiz RS0047970). Um die Eignung des Vaters für die Obsorge beurteilen zu können, sind weitere Erhebungen unumgänglich, insbesondere die Einvernahme des Vaters, aber auch die Anhörung des Kindes (§ 105 AußStrG), das sich offensichtlich persönlich einem enormen Entscheidungsdruck ausgesetzt sieht.

4. Dem Revisionsrekurs des Vaters ist daher Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.

Es muss betont werden, dass mit diesem Aufhebungsbeschluss keine Aussage über die Eignung oder fehlende Eignung des Vaters für die Obsorge getroffen wird.

5. Zu beachten ist, dass die Minderjährige seit dem Tod der Mutter keinen gesetzlichen Vertreter hat, weshalb es dringend einer Entscheidung durch das Erstgericht bedarf, das den entsprechenden Antrag des Vaters bisher auch nicht zum Anlass genommen hat, über eine vorläufige Einräumung der Obsorge zu entscheiden (§ 107 Abs 2 AußStrG).

Textnummer

E92446

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0100OB00069.09H.1124.000

Im RIS seit

24.12.2009

Zuletzt aktualisiert am

19.10.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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