TE OGH 2010/8/19 13Os80/10d (13Os81/10a, 13Os82/10y, 13Os83/10w, 13Os84/10t)

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2010
beobachten
merken

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. August 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Lässig, Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bayer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Sascha G***** wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Bezirksgerichts Leibnitz vom 21. Jänner 2010, GZ 11 U 186/09z-11, und andere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler, zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache AZ 11 U 186/09z des Bezirksgerichts Leibnitz verletzen das Gesetz

1. die Durchführung der Hauptverhandlung und die Fällung des Urteils am 21. Jänner 2010 in Abwesenheit des Angeklagten in § 32 Abs 1 JGG iVm § 46a Abs 2 JGG;

2. das Urteil dieses Gerichts vom 21. Jänner 2010 (ON 11) im Adhäsionserkenntnis in §§ 245 Abs 1a, 369 Abs 1 StPO (iVm § 447 StPO, § 31 JGG);

3. der in der Hauptverhandlung vorgenommene Vortrag von Aktenstücken in § 252 Abs 2a StPO (iVm § 447 StPO, § 31 JGG);

4. die Unterlassung der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls an die Beteiligten in § 271 Abs 6 letzter Satz StPO (iVm § 447 StPO, § 31 JGG);

5. der Vorgang, dass dem Angeklagten anlässlich der Zustellung des Abwesenheitsurteils eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung erteilt wurde, in § 6 Abs 2 StPO (iVm § 31 JGG).

Das Urteil des Bezirksgerichts Leibnitz vom 21. Jänner 2010, GZ 11 U 186/09z-11, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Bezirksgerichts Leibnitz vom 21. Jänner 2010, GZ 11 U 186/09z-11, wurde der am 20. September 1990 geborene, zur Hauptverhandlung nicht erschienene Sascha G***** wegen einer am 26. August 2009 begangenen Tat des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und - (ohne erkennbare Auswirkung) „unter Bedachtnahme auf § 36 StGB“ (ON 11 S 1; § 260 Abs 1 Z 4 StPO), der jedoch die genannte strafbare Handlung im Hinblick auf deren Strafdrohung (von Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen) nicht erfasst - zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe sowie - unter unzulässiger Bestimmung einer Leistungsfrist von 14 Tagen (ON 11 S 2; Spenling, WK-StPO § 369 Rz 13 mwN) - zu einer Zahlung von 500 Euro an den Privatbeteiligten Renaldo O***** verurteilt. Die Zustellung des Urteils an den Angeklagten verfügte der Richter mit dem Beisatz „weiß mit RMB2“ (ON 11 S 7). Eine Ausfertigung des Protokolls der Hauptverhandlung ließ er ihm nicht zustellen.

Rechtliche Beurteilung

In diesen Vorgängen liegen, wie die Generalprokuratur in der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zu Recht aufzeigt, mehrere Gesetzesverletzungen:

1. Gemäß § 32 Abs 1 JGG iVm § 46a Abs 2 JGG sind die Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren nicht anzuwenden, wenn der Angeklagte das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Daher stehen die vorliegende Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des damals 19-jährigen Angeklagten mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Daran ändert der Umstand nichts, dass dem Angeklagten diese - verfehlte - Vorgangsweise vor der Hauptverhandlung anlässlich eines Telefonats in Aussicht gestellt und von diesem „zur Kenntnis“ genommen worden war (so der Amtsvermerk ON 1 S 17 vom 20. Jänner 2010; US 5 oben; 14 Os 105/06g, SSt 2006/71; Ratz, WK-StPO § 478 Rz 1).

2. Zufolge § 245 Abs 1a StPO (hier iVm § 447 StPO und § 31 JGG [Schroll in WK² JGG § 31 Rz 1 aE, § 46a Rz 4]), ist der Angeklagte in der Hauptverhandlung auch über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Bei dieser Vernehmung handelt es sich um ein der Gewährleistung des beiderseitigen rechtlichen Gehörs dienendes Erfordernis, ohne dessen Beachtung ein Zuspruch an den Privatbeteiligten nicht erfolgen darf (RIS-Justiz RS0101197; Kirchbacher, WK-StPO § 245 Rz 23; Spenling, WK-StPO Vor §§ 366-379 Rz 11). Daher verletzt der ohne diese Vernehmung erfolgte Zuspruch an den Privatbeteiligten (§ 369 Abs 1 StPO) das Gesetz.

3. Die durch § 252 Abs 2a StPO ermöglichte Abstandnahme von der Vorlesung oder Vorführung von Aktenstücken nach § 252 Abs 1 und Abs 2 StPO (vgl § 258 Abs 1 StPO) zugunsten eines zusammenfassenden Vortrags ihres Inhalts durch den die Verhandlung leitenden Richter ist unter anderem an die Zustimmung auch des Angeklagten gebunden, die in dessen Fernbleiben von der Hauptverhandlung nicht erblickt werden kann (vgl RIS-Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103, 134; ErläutRV 679 BlgNR 22. GP 13 f).

Demnach entsprach es nicht dem Gesetz (§ 252 Abs 2a iVm § 447 StPO und § 31 JGG), von einer Verlesung zu Gunsten einer resümierenden Darstellung abzusehen (ON 10 S 4).

4. Nach § 271 Abs 6 letzter Satz StPO ist den Beteiligten, soweit sie nicht darauf verzichtet haben, eine Ausfertigung des Protokolls ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung zuzustellen. Gegen diese Bestimmung (iVm § 447 StPO und § 31 JGG) wurde im gegebenen Fall verstoßen, indem der Richter keine Protokollzustellung verfügte.

5. Zufolge § 152 Abs 3 Geo ist dem Angeklagten mit dem Abwesenheitsurteil stets eine Rechtsmittelbelehrung zuzustellen und dies vom Richter in der Zustellverfügung ausdrücklich anzuordnen. So vorzugehen entspricht auch § 6 Abs 2 StPO.

Die Verfügung, mit dem Abwesenheitsurteil das Formular RMB2 zuzustellen (ON 11 S 7), lief darauf hinaus, dass der Angeklagte in - Unrichtigkeit gleich kommender - unvollständiger Weise über die Anfechtbarkeit des Urteils unterrichtet wurde. Er wurde solcherart nicht davon in Kenntnis gesetzt, dass die Berufung gegen ein nicht in Anwesenheit des Angeklagten verkündetes Urteil binnen drei Tagen nach seiner Verständigung hievon anzumelden ist (§ 466 Abs 2 StPO) und ihm diesfalls die Ausführung der Berufung offen steht, und zwar binnen vier Wochen ab Anmeldung (§ 467 Abs 1 StPO). Ebenso wenig wurde er über sein Recht auf Erhebung eines Einspruchs binnen 14 Tagen ab Zustellung des Urteils (wegen nicht gehöriger Vorladung oder eines unabwendbaren Hindernisses, § 478 Abs 1 StPO) sowie darüber informiert, dass entweder schon mit dem Einspruch oder erst mit der an das Landesgericht gerichteten Beschwerde gegen die Verwerfung des Einspruchs durch das Bezirksgericht das Rechtsmittel der Berufung verbunden werden kann (§ 478 Abs 2 StPO), das in diesen Fällen nicht gesondert angemeldet werden muss (11 Os 133/06b, 11 Os 81/08h; Ratz, WK-StPO § 478 Rz 6).

Die vom Richter verfügte, dem Angeklagten die Möglichkeiten der Anfechtung eines Abwesenheitsurteils nicht aufzeigende Rechtsmittelbelehrung entsprach nicht dem Gesetz (§ 6 Abs 2 StPO, § 31 JGG).

Angesichts dieser Gesetzesverletzungen sah sich der Oberste Gerichtshof über deren Feststellung hinaus mit Blick auf § 292 letzter Satz StPO zu Urteilsaufhebung und Anordnung neuer Verhandlung und Entscheidung veranlasst.

Im weiteren Verfahren wird im Fall abermaligen Schuldspruchs das Verschlechterungsverbot (§§ 290 Abs 2, 293 Abs 3 StPO) auch im Hinblick auf die Entscheidung über den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht (vgl ON 11 S 2; Jerabek in WK² § 498 Rz 8) zu beachten sein.

Schlagworte

Strafrecht

Textnummer

E95042

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0130OS00080.10D.0819.000

Im RIS seit

12.10.2010

Zuletzt aktualisiert am

12.10.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten