TE OGH 2010/9/14 10ObS121/10g

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Veröffentlicht am 14.09.2010
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter DI Rudolf Pinter (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Thomas Kallab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Alexander R*****, vertreten durch Steinwender Mahringer Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Mai 2010, GZ 11 Rs 64/10a-19, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 1. Februar 2010, GZ 17 Cgs 22/09z-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass sie zu lauten haben:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 8. 2008 zu zahlen, wird abgewiesen.

Der Kläger hat seine Kosten des Verfahrens erster Instanz selbst zu tragen.“

Der Kläger hat auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 12. 1. 1955 geborene Kläger hat den Beruf eines Schlossers erlernt. Er ist seit 1977 bei der D***** GmbH als LKW-Fahrer in einem aufrechten Dienstverhältnis beschäftigt. In den ersten 15 Jahren seiner Tätigkeit für dieses Unternehmen fuhr er mit Sattelauflieger und LKW-Anhänger und führte auch Schwertransporte wie beispielsweise die Überstellung von Baumaschinen durch. In der Folge fuhr er mit einem LKW mit aufgebauter Betonpumpe mit einem Gesamtgewicht von 27 Tonnen. Er fuhr hauptsächlich im Inland, beförderte jedoch auch einige Male Steine nach Freilassing, Piding bzw Hammerau (BRD). Zu diesem Zeitpunkt gab es zwischen Deutschland und Österreich noch einen Grenzverkehr und es mussten Stempelmarken geklebt werden.

Der Kläger weist in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 165 Beitragsmonate der Pflichtversicherung auf, in denen er immer als Kraftfahrer beschäftigt war.

Berufskraftfahrer lenken Kraftfahrzeuge, die der Güter- oder Personenbeförderung dienen. Sie führen sowohl im Nahverkehr als auch im Fernverkehr Güter- oder Personentransporte durch. Sie überprüfen dabei regelmäßig die Fahrtüchtigkeit der Fahrzeuge und nehmen die Wartung sowie kleinere Reparaturen vor. Sie planen die Fahrtrouten, führen die Fahrtenbücher und erledigen verschiedene Verwaltungsaufgaben, wie Zollformalitäten im grenzüberschreitenden Verkehr. Bei der Verladung der Waren überwachen sie die Einhaltung der transport- und sicherheitstechnischen Vorschriften und nehmen selbst die Verladung vor. Sie planen die Fahrtrouten, soweit sie nicht schon vom Transportunternehmen festgelegt wurden.

Unter Heranziehung des Maßstabs der Lehrabschlussprüfung und des Berufsprofils gemäß der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung hat der Kläger die Kenntnisse und Fähigkeiten eines gelernten Berufskraftfahrers und ist daher einem gelernten Berufskraftfahrer, der die Ausbildung dazu absolviert hat, gleichzusetzen. Der Kläger konnte insbesondere im Rahmen einer branchenkundlichen Befragung am 21. 12. 2009 von 12 gestellten Fragen 11 „sehr gut“ und 1 „gut“ beantworten. Der Fragenblock „grenzüberschreitender Güterverkehr“ wurde vom Kläger zu 90 % richtig beantwortet.

Aufgrund seines Leistungskalküls kann der Kläger die Tätigkeit als Berufskraftfahrer nicht mehr ausüben, weil er hinsichtlich der Hebe- und Tragebelastung entsprechend eingeschränkt ist. Auch qualifizierte Verweisungstätigkeiten wie etwa die Tätigkeiten eines Fuhrparkdisponenten, eines Müllwagenfahrers oder eines Zustellers von Gasflaschen sind dem Kläger nicht mehr möglich.

Mit Bescheid vom 28. 11. 2009 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung, der Kläger sei nicht invalid, ab.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren statt. Es sprach aus, dass der Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension dem Grunde nach ab 1. 8. 2008 zu Recht bestehe, die Leistung jedoch erst anfalle, wenn der Kläger seine Tätigkeit als Berufskraftfahrer aufgebe. Weiters trug es der beklagten Partei die Erbringung einer vorläufigen Zahlung an den Kläger ab Aufgabe der Tätigkeit als Berufskraftfahrer auf.

In rechtlicher Hinsicht gelangte das Erstgericht zu dem Ergebnis, der Kläger genieße Berufsschutz als angelernter Berufskraftfahrer, weil er über die Kenntnisse eines gelernten Berufskraftfahrers verfüge. Er habe zu einem Zeitpunkt, als es noch einen Grenzverkehr zwischen Österreich und Deutschland gegeben habe, auch öfters Steine in das benachbarte Deutschland geliefert. Er habe seine Kenntnisse über den grenzüberschreitenden Verkehr aber nicht nur durch seine langjährige Tätigkeit als Kraftfahrer, sondern auch durch sein sehr gutes Ergebnis anlässlich eines berufskundlichen Tests belegen können. Da er keine qualifizierten Verweisungstätigkeiten innerhalb der Berufsgruppe des Berufskraftfahrers mehr ausüben könne, sei er invalide.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei keine Folge. Es verneinte das Vorliegen der gerügten Verfahrensmängel und übernahm im Wesentlichen die erstgerichtlichen Feststellungen als Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung. In rechtlicher Hinsicht führte das Berufungsgericht aus, der Kläger sei in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag hauptsächlich im Inland als sogenannter Betonmischwagenfahrer tätig gewesen. Einen bereits erworbenen Berufsschutz habe er damit jedenfalls erhalten. Er habe aber nicht ausschließlich diese qualifizierte (Teil-)Tätigkeit eines gelernten Berufskraftfahrers ausgeübt, sondern auch einige Male Steine in das benachbarte Deutschland geliefert; dies zu einem Zeitpunkt, als es zwischen Österreich und Deutschland noch einen Grenzverkehr gegeben habe und auch noch Stempelmarken geklebt worden seien. Auch wenn der Kläger lediglich einige Male im Auslandsverkehr tätig gewesen sei, so habe er doch über die zumindest für die Steinlieferung nach Deutschland erforderlichen Formalitäten im grenzüberschreitenden Verkehr Bescheid wissen und diese abwickeln müssen. Dazu komme, dass der Kläger ein umfassendes (theoretisches) Wissen über die verschiedenen Aspekte des grenzüberschreitenden Güterverkehrs habe. Der Umstand, dass der Kläger nicht sämtliche qualifizierten Kenntnisse eines Berufskraftfahrers durch praktische Tätigkeit erworben habe und diese nicht unabdingbare Voraussetzung für seine in den letzten 15 Jahren verrichtete Tätigkeit gewesen seien, schade bei Gesamtbetrachtung sämtlicher qualifizierten Kenntnisse und Fähigkeiten eines gelernten Berufskraftfahrers, über die der Kläger verfüge, nicht. Ziehe man den Maßstab der Lehrabschlussprüfung und das Berufsprofil gemäß der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung heran, dann habe der Kläger umfangreichste Kenntnisse und Fähigkeiten eines gelernten Berufskraftfahrers und damit zweifellos Kenntnisse und Fähigkeiten eines gelernten Berufskraftfahrers in jenem Ausmaß, in dem dies üblicherweise am Arbeitsmarkt verlangt werde.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Revision gegen seine Entscheidung nicht zulässig sei, weil die Rechtsfrage, ob der Kläger Berufsschutz als angelernter Berufskraftfahrer genieße, nur aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden könne.

Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen bzw ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist, und auch berechtigt.

Zutreffend macht die Revisionswerberin geltend, dass dem Kläger kein Berufsschutz als angelernter Berufskraftfahrer iSd § 255 Abs 2 ASVG zukommt.

Nach dieser Gesetzesstelle liegt ein angelernter Beruf vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Es kommt dabei nach ständiger Rechtsprechung darauf an, dass der Versicherte über die Kenntnisse oder Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise an Absolventen des Lehrberufs gestellt werden. Es reicht daher nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereichs beschränken, die von gelernten Arbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht werden (RIS-Justiz RS0084638, RS0084585). Die Frage, ob ein angelernter Beruf vorliegt, ist keine Tat-, sondern eine Rechtsfrage. Grundlage für die Lösung dieser Frage bilden Feststellungen über die Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte im Einzelfall verfügt und über die Anforderungen, die an einen gelernten Arbeiter in diesem Beruf üblicherweise gestellt werden (RIS-Justiz RS0084563).

Es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten eines angelernten Berufskraftfahrers an dem seinerzeit durch die Verordnung des Bundesministers für wirtschaftliche Angelegenheiten vom 28. 7. 1987, BGBl 1987/396, geschaffenen Berufsbild des Lehrberufs „Berufskraftfahrer“ gemessen werden können (RIS-Justiz RS0084792 [T10]). Ein Kraftfahrer, dessen Kenntnisse nur unwesentlich über diejenigen hinausgehen, die von jedem Lenker eines Schwerkraftfahrzeugs anlässlich der Führerscheinprüfung verlangt werden, übt keinen angelernten Beruf aus (RIS-Justiz RS0084792). Gerade der Berufskraftfahrer benötigt nicht nur die für den Güternahverkehr erforderlichen Kenntnisse, sondern darüber hinausgehende Kenntnisse, die vor allem für den grenzüberschreitenden Verkehr bedeutsam sind. Hiezu gehört nicht nur die Ausfertigung von für den Transport erforderlicher Papiere, sondern auch kaufmännisches Rechnen und Schriftverkehr sowie die Kenntnis des einschlägigen Zahlungsverkehrs, der wichtigsten europäischen Verkehrswege, der Strecken- und Terminplanung, Grundkenntnisse der Transportversicherung, der Beförderungsverträge, des Handels-, Straf- und Verwaltungsrechts, der Zollvorschriften und der Warenkunde etc (10 ObS 234/99f = SSV-NF 13/107; 10 ObS 204/06g mwN).

In der Entscheidung 10 ObS 234/99f (SSV-NF 13/107) war ebenfalls die Frage eines Berufsschutzes als angelernter Berufskraftfahrer iSd § 255 Abs 2 ASVG zu beurteilen. Der damalige Kläger war nicht im internationalen Fernverkehr eingesetzt und es wurde daher von ihm auch nicht verlangt, internationale Fahrtrouten zu planen. Er war vielmehr als Zustellfahrer im Inland tätig. Er musste jedoch auf dem Weg von Salzburg nach Westösterreich auch das sogenannte „kleine deutsche Eck“ passieren und dabei selbständig die nach einem bilateralen Abkommen erleichterten Zollformalitäten wie Waren- und Werterklärungen abgeben und durchführen. Der Oberste Gerichtshof verneinte in dieser Entscheidung das Vorliegen eines Berufsschutzes im Wesentlichen mit der Begründung, dass dem damaligen Kläger die notwendigen Kenntnisse des internationalen Transportwesens fehlen und solche Kenntnisse für die Tätigkeit des Klägers, der nicht im internationalen Güterverkehr eingesetzt war, auch gar nicht erforderlich waren.

Auch im vorliegenden Fall war der Kläger mit Ausnahme einiger Transporte von Steinen in das unmittelbar angrenzende Deutschland ausschließlich im Regionalverkehr als Baustellen-LKW-Fahrer tätig. Im internationalen Fernverkehr war der Kläger nicht eingesetzt. Auch wenn man berücksichtigt, dass der Kläger nach den Feststellungen der Vorinstanzen ein umfassendes theoretisches Wissen über verschiedene Aspekte des grenzüberschreitenden Güterverkehrs hat und somit insgesamt über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die den im Lehrberuf „Berufskraftfahrer“ erworbenen gleichzuhalten sind, ist für die auch hier zu beurteilende Frage des Vorliegens eines Berufsschutzes als angelernter Berufskraftfahrer nach § 255 Abs 2 ASVG doch entscheidend, dass es nach ständiger Rechtsprechung nicht genügt, dass der Versicherte über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die für die Annahme eines angelernten Berufs erforderlich sind, sondern es müssen diese Kenntnisse und Fähigkeiten für die von ihm ausgeübte Berufstätigkeit erforderlich, also Voraussetzung hiefür gewesen sein (10 ObS 246/88 = SSV-NF 2/98; 10 ObS 221/94 = SSV-NF 8/103; 10 ObS 234/99f = SSV-NF 13/107 ua; RIS-Justiz RS0084616). Es kann daher nach der Rechtsprechung ein Versicherter, der nur eine Teiltätigkeit eines Lehrberufs ausübt, die nicht als angelernte Tätigkeit anzusehen ist, auch beispielsweise durch einen nachträglichen Lehrabschluss ohne jede praktische Anwendung der dort erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten keinen Berufsschutz erlangen (10 ObS 221/94 = SSV-NF 8/103; 10 ObS 150/98a = SSV-NF 12/64; 10 ObS 81/05t mwN). Es ist nun aber nicht zweifelhaft, dass für die Ausübung der beschriebenen Tätigkeit des Klägers als Baustellen-LKW-Fahrer Kenntnisse und Fähigkeiten, die denen eines gelernten Berufskraftfahrers gleichzuhalten sind, nicht erforderlich waren. Dem Kläger kommt daher entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen kein Berufsschutz nach § 255 Abs 2 ASVG zu.

Da der Kläger aufgrund seines medizinischen Leistungskalküls jedoch zweifellos noch in der Lage ist, gerichtsbekannte Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wie beispielsweise die Tätigkeiten eines Verpackers, Sortierers, Adjustierers udgl zu verrichten, liegt eine Invalidität des Klägers iSd § 255 ASVG nicht vor.

In Stattgebung der Revision waren daher die Urteile der Vorinstanzen im Sinn einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Berücksichtigungswürdige Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers, die einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit rechtfertigen könnten, wurden nicht dargetan und sind auch aus der Aktenlage nicht ersichtlich.

Schlagworte

12 Sozialrechtssachen,

Textnummer

E95141

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:010OBS00121.10G.0914.000

Im RIS seit

18.10.2010

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2012
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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