TE OGH 2010/10/1 14Os130/10i (14Os143/10a)

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Veröffentlicht am 01.10.2010
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. Oktober 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden sowie durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Reichly als Schriftführerin in der Strafsache gegen Kurt E***** wegen zweier Verbrechen der Verleumdung nach § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, (nunmehr) AZ 091 Hv 69/10y des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zu deren Einbringung und seine Grundrechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 22. Juli 2010, AZ 20 Bs 229/10p (ON 79), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung

1. den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird zurückgewiesen

2. zu Recht erkannt:

Kurt E***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 27. Juni 2010 wurde über Kurt E***** die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatausführungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit d StPO verhängt. Dabei ging der Einzelrichter im Ermittlungsverfahren vom dringenden Verdacht aus, der Beschuldigte habe am 22. Juni 2010 in Wien versucht, (die Richterin) Dr. Gabriele T***** durch gefährliche Drohung mit dem Tode dazu zu nötigen, die Entziehung der Obsorge für seine minderjährige Tochter Katharina zu unterlassen, indem er in einem E-Mail äußerte: „Ich gehe meinen Weg bis zum Ende, aber nicht am Papier. … Seit Hollabrunn laufen die Uhren anders. …. Wir schreiten einer schrecklichen Spitze entgegen, dies auch in ihr Leben, werte Frau T***** Einzug nehmen wird, Sie weiter dabei nur zusehen.“, und beurteilte dieses Täterverhalten rechtlich als schwere Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB (ON 13 in ON 15).

Nachdem das Ermittlungsverfahren am 2. Juli 2010 zur gemeinsamen Führung mit dem dort zum AZ 14 St 106/10h gegen Mag. Herwig B***** anhängigen Verfahren an die Staatsanwaltschaft Linz abgetreten (§ 26 Abs 1 und Abs 2 StPO) und der Beschuldigte am 5. Juli 2010 an die Justizanstalt Linz überstellt worden war (ON 1 S 7 in ON 18), brachte die Staatsanwaltschaft Linz am 23. Juli 2010 beim Landesgericht für Strafsachen Wien einen Strafantrag gegen den Genannten jeweils wegen mehrerer - überwiegend als Mittäter des Mag. B***** begangener - Verbrechen der Verleumdung nach § 297 Abs 1 zweiter Fall StGB und des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 269 Abs 2 iVm Abs 1 zweiter Fall, 15 StGB, zweier Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB, eines Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und Abs 2 StGB, sowie jeweils mehrerer Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB, des Missbrauchs von Tonaufnahmen und Abhörgeräten nach § 120 Abs 2 StGB, der öffentlichen Beleidigung einer Behörde nach §§ 11 Abs 1 und Abs 2, 115 Abs 1, 116 StGB, der üblen Nachrede nach § 111 Abs 1 und Abs 2 StGB und der Beleidigung nach § 115 Abs 1 StGB ein, wobei das im Haftbeschluss beschriebene Täterverhalten §§ 15, 269 Abs 2 iVm Abs 1 zweiter Fall StGB unterstellt wurde (ON 61; B/III).

Der gegen den eingangs genannten Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 27. Juni 2010 gerichteten Beschwerde des Angeklagten gab das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 22. Juli 2010 keine Folge und setzte die Untersuchungshaft seinerseits aus dem Haftgrund der Tatausführungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit d StPO mit Wirksamkeit bis zum 22. September 2010 fort (ON 79).

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verbundene Grundrechtsbeschwerde des Kurt E***** (ON 91).

Zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand:

              Wiewohl sich das Datum der Zustellung der angefochtenen Entscheidung an den Verteidiger des Angeklagten dem Akt nicht entnehmen lässt (auf dem Vorlagebericht wurde - ersichtlich irrig - der 12. August 2010 vermerkt), war insoweit von dessen Angaben, wonach ihm der Beschluss am 29. Juli 2010 zuging, auszugehen, an denen zu zweifeln der Oberste Gerichtshof schon mit Blick darauf keine Veranlassung sah, dass die im Akt erliegende Ausfertigung erst am 26. Juli 2010 beim Erstgericht einging (vgl die Eingangsstampiglie auf ON 79). Die vierzehntägige Frist des § 4 Abs 1 GRBG endete damit am 12. August 2010. Die - wenngleich außerhalb der Amtsstunden (um 19:41 Uhr) - an diesem Tag mittels Telefax (§ 88 Abs 4 StPO) eingebrachte Grundrechtsbeschwerde erweist sich demzufolge als rechtzeitig (11 Os 187/96, zuletzt 14 Os 6/09b), womit es dem Wiedereinsetzungsbegehren an der Voraussetzung der Versäumung einer Frist mangelt. Der betreffende - aus „anwaltlicher Vorsicht“ gestellte - Antrag war daher als gegenstandslos zurückzuweisen.

              Zur Grundrechtsbeschwerde:

Sie ist nicht berechtigt.

Dem Beschwerdevorbringen zuwider lässt sich der angefochtenen Entscheidung (noch) deutlich genug entnehmen, dass das Oberlandesgericht - durch identifizierenden Verweis - zum Ausdruck bringen wollte, der Angeklagte sei auch aus seiner Sicht dringend verdächtig, die im Beschluss des Einzelrichters im Ermittlungsverfahren vom 27. Juni 2010 - wenngleich irrig §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB subsumierte -  Tat begangen zu haben (BS 1 f iVm BS 3; zu Verweisen vgl ausführlich 13 Os 81/07x mwN), womit sie insoweit den - vom Obersten Gerichtshof wiederholt dargelegten - Anforderungen an einen Haftfortsetzungsbeschluss (RIS-Justiz RS0120817) genügt.

Diese Sachverhaltsannahmen hat das Beschwerdegericht in objektiver Hinsicht (insbesonders betreffend Sinn und Bedeutungsinhalt der inkriminierten Äußerung und der Ernstlichkeit der Drohung) durch den Verweis auf das Eingeständnis des Angeklagten, Verfasser der verfahrensgegenständlichen E-Mail zu sein, und den Inhalt dieses Schreibens (vor allem die darin enthaltene Bezugnahme auf ein tödliches Schussattentat gegen eine Rechtspflegerin beim Bezirksgericht Hollabrunn) hinreichend begründet, die dringende Verdachtslage in Betreff der subjektiven Tatseite ebenso mängelfrei aus dem äußeren Täterverhalten (vgl dazu Ratz, WK-StPO § 281 Rz 452) und dem vom Beschwerdeführer angegebenen Motiv für die Übermittlung der E-Mail an die zuständige Familienrichterin abgeleitet (BS 3 f). Seine - strafrechtlich nicht relevanten Sinn und Bedeutungsinhalt des Schreibens behauptende und einen auf Nötigung durch Drohung mit dem Tode gerichteten Vorsatz leugnende - Verantwortung wurde dabei gar wohl berücksichtigt, jedoch nicht für geeignet erachtet, die qualifizierte Verdachtslage zu entkräften (BS 4). Dass die minderjährige Tochter des Angeklagten im Zuge des Pflegschaftsverfahrens einen Selbstmordversuch unternahm, steht der Annahme des Vorliegens der subjektiven Tatseite nicht entgegen, weshalb darauf bezogene Beweismittel nicht erörterungsbedürftig im Sinn der Z 5 zweiter Fall des § 281 Abs 1 StPO waren. Indem die Beschwerde den dringenden Tatverdacht durch weitwendige „Darstellung des anhängigen Pflegschaftsverfahrens“ und daran geknüpfte Erwägungen über den Beweiswert der vom Oberlandesgericht ins Treffen geführten bestimmten Tatsachen, also der den Verdachtsausspruch über das Vorliegen entscheidender Tatsachen tragenden Gründe, in Frage zu stellen sucht, greift sie bloß die (vorläufige) Beweiswürdigung der angefochtenen Entscheidung an und missachtet solcherart die gesetzlichen Anfechtungskategorien (für viele: RIS-Justiz RS0110146).

Die rechtliche Annahme einer der von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren wird vom Obersten Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens dahin geprüft, ob sie aus den in der angefochtenen Entscheidung angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als unvertretbar („willkürlich“) angesehen werden müsste (RIS-Justiz RS0117806).

Davon kann im gegebenen Fall bei den vom Oberlandesgericht angestellten Erwägungen keine Rede sein. Dem - nur einzelne Elemente der Argumentationskette des Beschwerdegerichts kritisierenden Beschwerdestandpunkt zuwider - ging das Oberlandesgericht keineswegs unbegründet von einem erhöhten Aggressionspotential des Angeklagten aus, sondern leitete diese Ansicht (aktenkonform) vor allem aus den Ergebnissen des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts als Mittäter des abgesondert verfolgten Mag. Herwig B***** begangener, oben genannter strafbarer Handlungen (zur Bedeutung der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK in Bezug auf die für die Annahme eines Haftgrundes herangezogenen bestimmten Tatsachen vgl RIS-Justiz RS0121606), seinen unter dem Nicknamen „Hades“ auf der Website „www.genderwahn.com“ veröffentlichten Beiträgen sowie der psychologischen Bewertung durch Dr. Jens H*****, Diplom-Psychologe beim „Team Psychologie & Sicherheit“ (ON 15 in ON 18), ab (BS 3 f). Ausgehend davon lassen diese zur Begründung ins Treffen geführte aggressive und problematische Täterpersönlichkeit im Zusammenhalt mit der „gesteigerten bedrohlichen Ausformung“ der verfahrensgegenständlichen E-Mail und der (damals) nach wie vor im Raum stehenden (zwischenzeitig erfolgten) Entziehung des Obsorgerechts für seine minderjährige Tochter einen ausreichenden Schluss auf das Vorliegen von Tatausführungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit d StPO zu. Dass einzelne Veröffentlichungen im Internet in der Entscheidung nicht „konkret genannt“ werden, ändert daran nichts. Indem der Beschwerdeführer weiters unter Bezugnahme auf eine einzelne Passage aus der Bewertung Dris. H***** die Ansicht vertritt, diese sei zur Fundierung der Prognoseentscheidung nicht geeignet, orientiert er sich nicht an den dargelegten Anfechtungskategorien. Im Übrigen kann die in der Begründung des Haftbeschlusses zum Ausdruck kommende sachverhaltsmäßige Bejahung oder Verneinung bloß einzelner von mehreren erheblichen Umständen (= bestimmten Tatsachen), welche erst in der Gesamtschau mit anderen die Prognoseentscheidung tragen, nach § 10 GRBG iVm § 281 Abs 1 Z 5 StPO nicht in Frage gestellt werden, es sei denn, eine solcherart angegriffene bestimmte Tatsache bildete erkennbar eine notwendige Bedingung der Prognose (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 410, für viele: 14 Os 128/03).

Die Behauptung, die Begründung für die Verneinung einer Substituierbarkeit der Haft durch die beantragten gelinderen Mittel mit der „durch nichts belegten problematischen Persönlichkeitsstruktur und der ersichtlichen Aggressionsbereitschaft“ sei „unzutreffend“, entzieht sich mangels Auseinandersetzung mit der (eben dargestellten) Argumentation des Oberlandesgerichts (BS 5) einer inhaltlichen Erwiderung.

Im Hinblick auf die Bedeutung der Sache und den zur Verfügung stehenden Sanktionsrahmen einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren kann von einer Unverhältnismäßigkeit der - zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht einmal einen Monat andauernden - Haft keine Rede sein. Ob die zu erwartende Strafe bedingt nachgesehen werden könnte, ist - der Beschwerde zuwider - für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ohne Bedeutung (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 173 Rz 14 mwN).

Inwiefern aufgrund der gleichzeitig mit der Abtretung des Ermittlungsverfahrens an die Staatsanwaltschaft Linz - gesetzeskonform - angeordneten (§ 26 Abs 1 StPO, § 183 Abs 1 iVm § 36 Abs 1 StPO) und am 5. Juli 2010 durchgeführten Überstellung des Angeklagten in die Justizanstalt Linz eine „effektive Kontaktherstellung“ zu seinem Verteidiger zwecks Vorbereitung der Beschwerde gegen den am 27. Juni 2010 - übrigens in Anwesenheit des Verteidigers - verkündeten Beschluss auf Verhängung der Untersuchungshaft unmöglich gewesen sein soll, erklärt die - insoweit eine grundrechtswidrige Schmälerung der Verteidigungsrechte reklamierende - Beschwerde nicht.

Soweit sie ebenfalls eine Verletzung der Verteidungsrechte darin erblickt, dass die Zustellung der Kopie eines - nach Verhängung der Untersuchungshaft beim Erstgericht eingegangenen (ON 15 in ON 18 iVm ON 1 S 7 in ON 18 und der daran angeschlossenen Aktenübersicht), vom Oberlandesgericht jedoch bei der Prognoseentscheidung berücksichtigten - Aktenstücks erst am 14. Juli 2010, sohin zwei Tage nach Ablauf der Frist für die Einbringung der Beschwerde gegen die Verhängung der Untersuchungshaft, zugestellt wurde (ON 1 S 21), womit darauf Bezug nehmende Ausführungen in der Haftbeschwerde unterbleiben mussten, wird verkannt, dass das Gesetz für dieses Rechtsmittel - anders als bei der Nichtigkeitsbeschwerde (§§ 285 Abs 1 zweiter Satz, 285a Z 2 StPO) - keine „Einmaligkeit“ in dem Sinn kennt, dass Beschwerdevorbringen nur in einer einzigen Schrift erstattet werden dürfte (RIS-Justiz RS0118014). Solcherart wäre es dem Verteidiger frei gestanden, nach Erhalt der Ablichtung entsprechende Ergänzungen des Rechtsmittelvorbringens nachzureichen, welche das Oberlandesgericht - bis zu seiner Entscheidung am 22. Juli 2010 - als nachträglich bekannt gewordenen Umstand auch zu berücksichtigen gehabt hätte (§ 89 Abs 2 zweiter Satz StPO; Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 176 Rz 10; 13 Os 95/08g, EvBl 2008/182, 965; 13 Os 55/09a [13 Os 73/09y]; zuletzt 14 Os 145/09v [14 Os 146/09s]).

Somit wurde der Angeklagte in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, weshalb die Beschwerde ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen war.

Schlagworte

22 Grundrechtsbeschwerden,Strafrecht

Textnummer

E95356

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0140OS00130.10I.1001.000

Im RIS seit

12.11.2010

Zuletzt aktualisiert am

12.11.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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