TE OGH 2011/1/25 12Os182/10x (12Ns91/10v)

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Veröffentlicht am 25.01.2011
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Der Oberste Gerichtshof hat am 25. Jänner 2011 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Michel als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Fischer als Schriftführerin in der Strafsache gegen T***** wegen des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall, 15 Abs 1 StGB, AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt, über den Antrag des T***** auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers und auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO in Ansehung des Urteils des Oberlandesgerichts Wien vom 18. Mai 2010, AZ 22 Bs 94/10z, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

1./ Der Antrag des T***** auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zur Ausführung oder Unterfertigung seines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt wird abgewiesen.

2./ Der Antrag des T***** auf Erneuerung des Strafverfahrens AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt in Ansehung des Urteils des Oberlandesgerichts Wien vom 18. Mai 2010, AZ 22 Bs 94/10z, wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 15. Oktober 2009, GZ 39 Hv 2/09d-93b, wurde T***** des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 148 erster Fall, 15 Abs 1 StGB schuldig erkannt.

Die dagegen von T***** ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde wurde mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 2. März 2010, GZ 14 Os 13/10h-4, zurückgewiesen.

Der Berufung des T***** gab das Oberlandesgericht Wien mit Urteil vom 18. Mai 2010, AZ 22 Bs 94/10z (GZ 39 Hv 2/09d-236 des Landesgerichts Wiener Neustadt), keine Folge.

Mit dem auf eine behauptete Verletzung des Art 6 MRK abstellenden Antrag begehrt der Verurteilte eine Erneuerung des Strafverfahrens AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt in Ansehung des Urteils des Oberlandesgerichts Wien vom 18. Mai 2010, AZ 22 Bs 94/10z.

Zugleich stellte der Verurteilte den Antrag, ihm zur Ausführung oder zur Unterfertigung des von ihm vorbereiteten Begehrens nach § 363a StPO einen Verfahrenshilfeverteidiger zu bestellen.

Rechtliche Beurteilung

Da T***** bereits im Verfahren AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben wurde (S 17 in ON 1 und ON 33a zu AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt) und diese Verteidigerbestellung nach § 61 Abs 4 StPO mangels einer einschränkenden Anordnung des Gerichts für das gesamte weitere Verfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss sowie für ein allfälliges Verfahren aufgrund eines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens gilt, besteht keine Veranlassung für die Neubestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers.

Daran vermögen die Einwände gegen das Vorgehen des dem Antragsteller beigegebenen Verfahrenshilfeverteidigers nichts zu ändern. Das Gericht ist nicht berechtigt, die Tätigkeit eines bestellten Verteidigers insofern zu überwachen, ob er sein Amt richtig und/oder zweckmäßig ausübt (vgl Fabrizy StPO10 § 61 Rz 17). Ein Einschreiten des Staates ist nur dann geboten, wenn das Fehlen einer ordnungsgemäßen Pflichtverteidigung offensichtlich ist (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 163; Grabenwarter in Korinek/Holoubek B-VG Art 6 MRK Rz 209; EGMR U 27. 4. 2006, Sannino gg Italien, ÖJZ-MRK 2007/9, 513) oder aber die nationalen Behörden von dieser Nachlässigkeit des Pflichtverteidigers sonst Kenntnis erlangt haben (vgl EGMR U 27. 4. 2006, Sannino gg Italien, ÖJZ-MRK 2007/9, 513; EGMR U 19. 12. 1989, Kamasinski gg Österreich, ÖJZ-MRK 1990/10, 412).

Zwar wird mit der bloßen Bestellung eines Verteidigers allein noch nicht der Forderung des Art 6 Abs 3 lit c MRK nach einem wirksamen Verfahrensbeistand Genüge getan, sondern erst durch die Ermöglichung einer diesem Verfassungsgebot entsprechenden materiellen Verteidigung (vgl 12 Os 14/01; 15 Os 37/93, JBl 1994, 767; VwGH 2000/10/0019; EGMR U 13. 5. 1980, Artico gg Italien, EuGRZ 1980, 662; VfSlg 9535/1982 ua; Kühne in IntKommEMRK Art 6 Rz 566 ff). Nach der Rechtsprechung des EGMR bleibt die Gestaltungsmöglichkeit zur wirksamen Gewährleistung der in der MRK verbrieften Rechte allerdings grundsätzlich der innerstaatlichen Normsetzung überlassen. Unter dem Blickwinkel des Art 6 Abs 3 lit c MRK ist in diesem Zusammenhang lediglich zu prüfen, ob sich der vom nationalen Gesetzgeber eingeschlagene Weg im Rahmen der Anforderungen an ein faires Verfahren bewegt (vgl EGMR U 27. 4. 2006, Sannino gg Italien, ÖJZ-MRK 2007/9, 513; EGMR U 24. 5. 1991, Quantara gg Schweiz, ÖJZ-MRK 1991/16, 745). Demnach fällt es in die Kompetenz des Staates, jene Behörde zu nominieren, der die Wahrnehmung einer effektiven Verteidigung und die damit allenfalls notwendig werdende Prüfung der Tätigkeit eines beigegebenen Rechtsanwalts obliegt. Gegen diese Erwägungen spricht auch nicht die Entscheidung des EGMR im Fall Goddi gg Italien, weil auch der hier geforderte Beitrag des Gerichts zur fallbezogen bestmöglichen Aufgabenerfüllung des Pflichtverteidigers auf dem Boden der umfassenden Rücksichtnahme auf das grundlegende Prinzip der Unabhängigkeit der Anwaltschaft zu erfolgen hat (vgl EGMR U 9. 4. 1984, Goddi gg Italien, EuGRZ 1985, 234).

Der österreichische Gesetzgeber bestimmte im § 45 Abs 4 RAO die Rechtsanwaltskammern zur Kontrolle der Gewährleistung eines wirksamen anwaltlichen Beistands im Strafverfahren (vgl 12 Os 14/01; 15 Os 37/93, JBl 1994, 767; VwGH 2000/10/0019). Für die Abberufung des beigegebenen Verfahrenshilfeverteidigers und die sodann notwendige Neubestellung eines Verteidigers wäre daher die - vom Antragsteller nach seinem Vorbringen bereits (erfolglos) eingeschaltet gewesene - Rechtsanwaltskammer Niederösterreich zuständig gewesen. Die vom Antragsteller ins Treffen geführte Fürsorgepflicht des Gerichts kann insoweit keinen Kompetenzübergang bewirken. Sie verpflichtet die Gerichte lediglich, einen rechtsunkundigen Angeklagten bei Kenntnisnahme einer ineffektiven Verteidigung zur Stellung zweckdienlicher Anträge anzuleiten und allenfalls von Amts wegen der Rechtsanwaltskammer davon Mitteilung zu machen, dass nach Ansicht des Gerichts ein wirksamer Beistand nicht gewährleistet ist (vgl 12 Os 14/01).

Selbst diese Fürsorgepflicht kommt allerdings nur im Fall einer objektiv wahrnehmbaren Ineffektivität der Verteidigung in Betracht, während sie bei behaupteten Fehlleistungen des Verteidigers in der Regel mit dem Inhalt der dem Rechtsanwalt erteilten Informationen, welcher nach österreichischem Prozessverständnis der Geheimhaltung unterliegt, in einem Spannungsverhältnis stünde (§ 9 Abs 2 RAO, § 157 Abs 1 Z 2 StPO, § 104 Abs 1 lit d und Abs 2 FinStrG; vgl 12 Os 14/01; VwGH 2000/10/0019; siehe auch EGMR U 27. 4. 2006, Sannino gg Italien, ÖJZ-MRK 2007/9, 513).

Abgesehen davon, dass nach den Ausführungen des Verurteilten die von ihm angerufene Rechtsanwaltskammer Niederösterreich keinen Anlass für ein Vorgehen nach § 45 RAO fand, bringt die Kritik des Antragstellers in seinem Schreiben weder eine habituelle Untüchtigkeit noch eine staatliches Einschreiten gebietende Inaktivität des beigegebenen Verteidigers zum Ausdruck, bei welcher von einer wirksamen Verteidigung nicht mehr gesprochen werden könnte. Denn T***** reklamiert lediglich, dass sowohl die vom Substituten des bestellten Verteidigers eingebrachte Nichtigkeitsbeschwerde als auch die Berufung - mit Blick auf das für ihn negative Ergebnis -
„Rechtsmittelschund“ gewesen seien, er die am Gerichtstag einschreitende, als inkompetent bezeichnete Verteidigerin nicht gekannt habe und sich der Verfahrenshilfeverteidiger in der Folge die vom Verurteilten vorgebrachten Argumente für eine Antragstellung nach § 363a StPO - ohne Anzeichen einer objektiv wahrnehmbaren Ineffektivität - nicht zu eigen machte. Zudem zeigt der Aktenverlauf eine diametral zum Vorbringen des T***** stehende Verteidigungstätigkeit des für den beigegebenen Verteidiger eingeschrittenen Substituten, der mehrere Anträge einbrachte, mehrfach Rechtsbehelfe, Beschwerden sowie Grundrechtsbeschwerden ergriff und darüber hinaus eine Nichtigkeitsbeschwerde und eine Berufung ausführte (vgl ON 40, 41, 48, 49, 66, 73, 77, 80, 105, 127, 128, 134, 144, 148, 167, 196, 202). Von einer Inaktivität des Verteidigers kann daher keine Rede sein.

Der im nunmehrigen Begehren hervorgehobene, vom Verurteilten selbst gestellte Antrag auf Vertagung der Berufungsverhandlung wurde vom Vorsitzenden des Berufungssenats abgewiesen, weil in diesem Antrag weder ein offensichtlicher Mangel einer wirksamen Vertretung durch den Pflichtverteidiger aufgezeigt wurde noch aus dem Akt ein solches Verteidigungsdefizit hervorging (vgl dazu den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 10. Mai 2010, AZ 22 Bs 94/10z). Dass der Verteidiger diesen Antrag zu Beginn der Berufungsverhandlung nicht wiederholte, vermag daher eine offenkundig unwirksame Vertretung nicht zu begründen. Die vom Antragsteller reklamierte Vornahme einer Substitution zieht per se keine unzureichende Verteidigung nach sich. Aus der Tatsache schließlich, dass der Antragsteller die für ihn einschreitenden Rechtsanwälte Dr. S***** und Mag. K***** bei der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich anzeigte und gegen diese Anwälte nunmehr eine Klage wegen einer unzureichenden Vertretung im Strafprozess einbrachte, kann auf eine aktenkundig unwirksame Verteidigung nicht geschlossen werden.

Das weitere Vorbringen des Verurteilten zu einer angeblich uneffektiven Verteidigung anlässlich des Gerichtstags über die Berufung vor dem Oberlandesgericht Wien findet im Protokoll über diese Verhandlung keine Deckung (vgl ON 235 in AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt). Vielmehr schloss sich der nunmehrige Antragsteller ausdrücklich dem Vorbringen der für den Verfahrenshilfeverteidiger einschreitenden (mit diesem eine Kanzleigemeinschaft führenden) Rechtsanwältin an, die sich wiederum auf die nach entsprechender Vorbereitungszeit zuvor schriftlich ausgeführte Berufung bezog (ON 167 in AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt).

Bleibt anzumerken, dass es dem damaligen Angeklagten offen stand, nach der Berufungsausführung aufgetretene Neuerungen, sei es über seine Vertreterin, sei es von sich aus vorzubringen, weil im Berufungsverfahren kein Neuerungsverbot besteht (vgl Ratz, WK-StPO § 295 Rz 2; SSt 43/9 verstärkter Senat). T***** machte in der Berufungsverhandlung von diesem Recht auch ausdrücklich Gebrauch (vgl ON 235 in AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt).

              Daher war der beim Obersten Gerichtshof eingebrachte Antrag des Verurteilten auf Beigebung eines (neuen) Verfahrenshilfeverteidigers zur Ausführung bzw zur Unterfertigung seines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt abzuweisen.

Die gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 sowie Art 35 Abs 1 und Abs 2 MRK (vgl auch Art 35 Abs 4 erster Satz MRK) gelten sinngemäß auch für Anträge auf Erneuerung des Strafverfahrens nach § 363a StPO, denen kein Erkenntnis des EGMR zugrunde liegt (vgl 13 Os 135/06m, EvBl 2007/154, 832; 11 Os 132/06f, EvBl 2008/8, 32). Darüber hinaus müssen allerdings auch die in § 363b Abs 2 StPO genannten Voraussetzungen für die Einbringung eines solchen Antrags erfüllt sein (inzidenter 13 Ns 14/08z, AnwBl 2009, 52).

Zulässigkeitskriterium für ein innerstaatliches Begehren auf Erneuerung des Strafverfahrens ist unter anderem die Unterfertigung des Antrags durch einen Verteidiger (§ 363b Abs 2 Z 1 StPO). Die Unterschrift einer zur Vertretung im Strafverfahren befugten Person (§ 48 Abs 1 Z 4 StPO) liegt fallbezogen nicht vor, weil sich schon nach dem Antragsvorbringen der zu AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt bestellte Verfahrenshilfeverteidiger geweigert hatte, den vom Verurteilten vorbereiteten Schriftsatz zu unterfertigen, mit dem eine Erneuerung des Strafverfahrens zu AZ 39 Hv 2/09d des Landesgerichts Wiener Neustadt in Ansehung des Urteils des Oberlandesgerichts Wien vom 18. Mai 2010, AZ 22 Bs 94/10z, begehrt wird.

Da bei einem Antrag nach § 363a StPO in Ansehung einer fehlenden Verteidigerunterschrift ein Verbesserungsverfahren (vgl § 285a Z 3 StPO, § 3 Abs 2 GRBG) nicht vorgesehen ist, war auch der vom Verurteilten selbst verfasste Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens als unzulässig zurückzuweisen.

Schlagworte

Strafrecht

Textnummer

E96443

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:0120OS00182.10X.0125.000

Im RIS seit

18.03.2011

Zuletzt aktualisiert am

17.03.2014
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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