TE Vfgh Erkenntnis 2011/5/2 B1700/10

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Veröffentlicht am 02.05.2011
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art5
PersFrSchG 1988 Art1 Abs3
FremdenpolizeiG 2005 §76 Abs2 Z1, §76 Abs2a

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönlicheFreiheit) durch teilweise Abweisung einer Schubhaftbeschwerde; keineBerücksichtigung des Gebots der Verhältnismäßigkeit

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.580,-

bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 21. Februar 2010 einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher vom Bundesasylamt mit Bescheid vom 24. Juni 2010 zurückgewiesen wurde. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer gemäß §10 Abs1 Z2 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG) aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Griechenland ausgewiesen.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde beim Asylgerichtshof, der dieser mit Bescheid vom 16. Juli 2010 die aufschiebende Wirkung zuerkannte.

2. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 25. Juni 2010 wurde über den Beschwerdeführer gemäß §76 Abs2 Z1 und Abs3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (im Folgenden: FPG) zum Zweck der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG und der Sicherung der Abschiebung Schubhaft angeordnet. Der Beschwerdeführer befand sich vom 25. Juni 2010 bis 23. Juli 2010 in Schubhaft.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich (im Folgenden: UVS) vom 22. Oktober 2010 wurde der vom Beschwerdeführer eingebrachten Schubhaftbeschwerde gemäß §83 FPG insoweit Folge gegeben, als die Rechtswidrigkeit der Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft in der Zeit von 17. Juli 2010 bis 23. Juli 2010 festgestellt wurde. Sonst wurde der Beschwerde nicht Folge gegeben und festgestellt, dass die Festnahme und Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft von 25. Juni 2010 bis einschließlich 16. Juli 2010 nicht rechtswidrig waren.

Begründend führt der belangte UVS im Wesentlichen aus:

"Die im Gegenstand erhobene Beschwerde erweist sich als rechtzeitig eingebracht. Im Hinblick auf den Umstand, dass der Bf zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung bereits aus der Schubhaft entlassen war, bildet den Gegenstand der Entscheidung ausschließlich die Überprüfung der Festnahme und der Anhaltung des BF in Schubhaft im Rahmen der geltend gemachten Beschwerdepunkte.

Festzustellen ist, dass zum Zeitpunkt der Anordnung gegenständlicher Schubhaft die Tatbestandsvoraussetzung §76 Abs2 Z1 FPG - wie die des §76 [Abs] 2a FPG - wegen der - nicht in Abrede gestellten - Erlassung des mit Ausweisungsentscheidung verbundenen vorgenannten Zurückweisungsbescheides - keine Zuerkennung aufschiebender Wirkung einer Berufung - des BAA vom 24.6.2010 vorlag. Wenn in diesem Zusammenhang die Meinung vertreten wird, dass, entgegen dem §28 Abs1 AsyIG 2002, nach Ablauf der in §28 Abs2 AsyIG genannten Frist - so auch einer Entscheidung des AGH zu entnehmen - der Zurückweisungsbescheid nicht mehr hätte ergehen dürfen, wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Schubhaft gegenüber Asylwerbern nur bei Vorliegen der gesetzlich normierten Tatbestände verhängt werden darf, somit an den jeweiligen Stand des Asylverfahrens geknüpft ist, welches Verfahren der Kognition der Fremdenpolizeibehörde nicht unterliegt. Dass ein Vorrang der Rechtslage nach den asylrechtlichen Bestimmungen gegenüber den auf Grund dieses Gesetzes ergangenen Individualakten bestünde, was von der Fremdenpolizeibehörde bei der Beurteilung des Vorliegens von Schubhafttatbeständen zu berücksichtigen wäre, ist den gesetzlichen Bestimmung nicht zu entnehmen, sodass der Bescheid des BAA die Rechtslage des Bf nach dem Asylrecht gestaltete, wie nicht hervortrat, dass es sich bei diesem behördlichen Akt um einen Nichtakt, der dem Rechtsbestand sohin niemals angehörte und damit auch keine Grundlage für das Vorliegen einer Schubhaftstatbestandsvoraussetzung zu bilden vermochte, gehandelt haben könnte. Das Vorbringen in diesem Zusammenhang erweist sich als insoweit berechtigt, als mit Beschluss des AGH vom 16. 7. 2010 der Berufung gegen den Bescheid des BAA die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde, nach dem AIS dieser Beschluss an diesem Tag beim BAA einging und veröffentlicht wurde, sodass, wenn sich auch eine diesbezügliche Information der Fremdenpolizeibehörde erster Rechtsstufe nicht nachvollziehen lässt, die formelle Durchsetzbarkeit der Ausweisungsentscheidung wegfiel und somit mangels Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen §§76 Abs2 Z1 bzw. §76 Abs2a Z1 erster Fall FPG die gegenständliche Schubhaftanhaltung ab dem 17. 7. 2010 nicht weiter erfolgen hätte dürfen."

4. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, mit welcher der angefochtene Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt I 2.Satz angefochten wird, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

Begründend wird in der Beschwerde wörtlich wie folgt ausgeführt (Hervorhebungen wie im Original):

"Der Unabhängige Verwaltungssenat im Land Niederösterreich hat im bekämpften Bescheid der Schubhaftsbeschwerde des BF teilweise Recht gegeben, indem die Schubhaft für den Zeitraum ab dem 17.7.2010 (Beschluss des Asylgerichtshofes, mit welchem der Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesasylamtes die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde) für rechtswidrig erklärt wurde. Hinsichtlich der Festnahme und Anhaltung des Bf in Schubhaft vom 25.6.2010 bis einschließlich 16.7.2010 kam die belangte Behörde im Bescheid jedoch zum Schluss, dass dieser Teil der Beschwerde abzuweisen sei, da zum Zeitpunkt der Anordnung der gegenständlichen Schubhaft bis zur Erlassung des Beschlusses des Asylgerichtshofes die Tatbestandsvoraussetzung des §76 Abs2 Z1 FPG wegen des Bescheides des Bundesasylamtes und der darin enthaltenen Ausweisungsentscheidung gegeben gewesen sei.

Nach Ansicht des BF war jedoch die Inschubhaftnahme und auch die gesamte[] Anhaltung [...] aus zwei Aspekten rechtswidrig:

Einerseits war aufgrund eines Fristversäumnisses des Bundesasylamtes (§28 Abs2 AsylG) das Asylverfahren des BF ex lege zuzulassen gewesen. Gem. §28 Abs2 AsylG war die Frist zur Überstellung des BF nach Griechenland bereits verstrichen. Die belangte Behörde argumentiert nun im Ergebnis dahingehend, die gesetzlich normierten Tatbestände würden am jeweiligen Stand des Asylverfahrens anknüpfen, welches jedoch nicht der Kognition der Fremdenpolizeibehörde unterliegen würde. Damit bringt sie zum Ausdruck, dass bei Vorliegen eines Ausweisungsbescheides des Bundesasylamtes der fremdenpolizeilichen Behörde bei Anwendung des §76 Abs2 Z1 FPG kein Ermessensspielraum zukäme. Dies widerspricht jedoch der ständigen höchstgerichtlichen Judikatur zum Schutz der persönlichen Freiheit. Selbstverständlich signalisiert auch die Formulierung dieser Norm als 'kann'-Bestimmung, dass die Behörde in Anwendung des Gesetzes selbstverständlich verpflichtet ist, von einer Anordnung bzw. Fortsetzung der Schubhaft Abstand zu nehmen, wenn sie im Einzelfall nicht notwendig und verhältnismäßig ist. Indem die belangte Behörde der Meinung ist, dass alleine die Tatsache der Erlassung des mit Ausweisungsentscheidung verbundenen Zurückweisungsbescheides des BAA die Tatbestandsvoraussetzung nach §76 Abs2 Z1 FPG (worauf sich der mit Schubhaftbeschwerde bekämpfte Schubhaftbescheid einzig stützt) vorliege und dies eine weitere Prüfung der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit ausschließe, unterstellt sie dem Gesetz einen verfassungswidrigen Inhalt.

Zweitens ist weder dem nunmehr bekämpften Bescheid noch dem zugrunde liegenden Schubhaftbescheid vom 25.6.2010 eine dem Gesetz entsprechende Begründung der Notwendigkeit der Schubhaftverhängung zu entnehmen. Weder dem Schubhaftbescheid noch dem nunmehr bekämpften Bescheid ist zu entnehmen, warum die Anordnung und Aufrechterhaltung der Schubhaft gegen den BF notwendig war, um den angestrebten Sicherungszweck (nämlich die geplante Überstellung nach Griechenland) zu erreichen und geht aus dem bekämpften Bescheid sowie aus dem Schubhaftbescheid nicht hervor, dass der BF irgendwelche Verhaltensweisen hätte erkennen lassen, dass er dem Verfahren nicht mehr zur Verfügung stünde bzw. einer Durchsetzung der Ausweisung nicht Folge leisten würde.

Der BF erachtet sich daher durch jegliches Fehlen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bzw. des Abstellens auf den konkreten Einzelfall sowie aufgrund der Tatsache, dass sein Verfahren im Hinblick auf die bereits verstrichene Frist des §28 Abs2 AsylG ex lege als in Österreich zu führen zuzulassen war, weshalb überhaupt kein Grund für die Inschubhaftnahme des BF vorhanden war, in seinem Recht auf persönliche Freiheit sowie in seinem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt."

5. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie dem Beschwerdevorbringen entgegentritt und die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt. Der Beschwerde sei zwar nicht entgegenzutreten, wenn sie behauptet, dass jeder Schubhaftverhängung eine Notwendigkeit- und Verhältnismäßigkeitsprüfung voranzugehen habe, jedoch sei der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinbringung aus der Schubhaft entlassen gewesen, wodurch der Entscheidungsspielraum des UVS bei der nachprüfenden Kontrolle auf das Beschwerdevorbringen reduziert gewesen sei. Gegenstand der Entscheidung sei somit ausschließlich die behauptete Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, die im konkreten Fall mit der Rechtswidrigkeit der asylrechtlichen Entscheidung begründet worden sei.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

1. §§76 und 83 FPG idF BGBl. 122/2009 lauten:

"Schubhaft und gelinderes Mittel

Schubhaft

§76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern. Über Fremde, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, darf Schubhaft verhängt werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, sie würden sich dem Verfahren entziehen.

(2) Die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde kann über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn

1. gegen ihn eine durchsetzbare - wenn auch nicht rechtskräftige - Ausweisung (§10 AsylG 2005) erlassen wurde;

2. gegen ihn nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde;

3. gegen ihn vor Stellung des Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare Ausweisung (§§53 oder 54) oder ein durchsetzbares Aufenthaltsverbot (§60) verhängt worden ist oder

4. auf Grund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass der Antrag des Fremden auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung zurückgewiesen werden wird.

(2a) Die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde hat über einen Asylwerber Schubhaft anzuordnen, wenn

1. gegen den Asylwerber eine mit einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §5 AsylG 2005 verbundene durchsetzbare Ausweisung erlassen wurde oder ihm gemäß §12a Abs1 AsylG 2005 ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukommt;

2. eine Mitteilung gemäß §29 Abs3 Z4 bis 6 AsylG 2005 erfolgt ist und der Asylwerber die Gebietsbeschränkung gemäß §12 Abs2 AsylG 2005 verletzt hat;

3. der Asylwerber die Meldeverpflichtung gemäß §15a AsylG 2005 mehr als einmal verletzt hat;

4. der Asylwerber, gegen den nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 ein Ausweisungsverfahren eingeleitet wurde, der Mitwirkungsverpflichtung gemäß §15 Abs1 Z4 vorletzter Satz AsylG 2005 nicht nachgekommen ist, oder

5. der Asylwerber einen Folgeantrag (§2 Abs1 Z23 AsylG 2005) gestellt hat und der faktische Abschiebeschutz gemäß §12a Abs2 AsylG 2005 aufgehoben wurde,

und die Schubhaft für die Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung notwendig ist, es sei denn, dass besondere Umstände in der Person des Asylwerbers der Schubhaft entgegenstehen.

(3) Die Schubhaft ist mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß §57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß §57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

(4) Hat der Fremde einen Zustellungsbevollmächtigten, so gilt die Zustellung des Schubhaftbescheides auch in dem Zeitpunkt als vollzogen, in dem eine Ausfertigung dem Fremden tatsächlich zugekommen ist. Die Zustellung einer weiteren Ausfertigung an den Zustellungsbevollmächtigten ist in diesen Fällen unverzüglich zu veranlassen.

(5) Wird ein Aufenthaltsverbot oder eine Ausweisung durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

(6) Stellt ein Fremder während der Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrecht erhalten werden. Liegen die Voraussetzungen des Abs2 vor, gilt die Schubhaft als nach Abs2 verhängt. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anordnung der Schubhaft gemäß Abs2 ist mit Aktenvermerk festzuhalten.

(7) Die Anordnung der Schubhaft kann mit Beschwerde gemäß §82 angefochten werden.

Entscheidung durch den unabhängigen Verwaltungssenat

§83. (1) Zur Entscheidung über eine Beschwerde gemäß §82 Abs1 Z2 oder 3 ist der unabhängige Verwaltungssenat zuständig, in dessen Sprengel die Behörde ihren Sitz hat, welche die Anhaltung oder die Schubhaft angeordnet hat. In den Fällen des §82 Abs1 Z1 richtet sich die Zuständigkeit nach dem Ort der Festnahme.

(4) Sofern die Anhaltung noch andauert, hat der unabhängige Verwaltungssenat jedenfalls festzustellen, ob zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen. Im Übrigen hat er im Rahmen der geltend gemachten Beschwerdepunkte zu entscheiden."

2. Das Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr. 684/1988 idF BGBl. 2/2008 lautet auszugsweise:

"Artikel 1

(1) Jedermann hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit).

(2) Niemand darf aus anderen als den in diesem Bundesverfassungsgesetz genannten Gründen oder auf eine andere als die gesetzlich vorgeschriebene Weise festgenommen oder angehalten werden.

(3) Der Entzug der persönlichen Freiheit darf nur gesetzlich vorgesehen werden, wenn dies nach dem Zweck der Maßnahme notwendig ist; die persönliche Freiheit darf jeweils nur entzogen werden, wenn und soweit dies nicht zum Zweck der Maßnahme außer Verhältnis steht.

(4) Wer festgenommen oder angehalten wird, ist unter Achtung der Menschenwürde und mit möglichster Schonung der Person zu behandeln und darf nur solchen Beschränkungen unterworfen werden, die dem Zweck der Anhaltung angemessen oder zur Wahrung von Sicherheit und Ordnung am Ort seiner Anhaltung notwendig sind."

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Gemäß §76 Abs2 Z1 FPG kann die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß §10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung anordnen, wenn gegen ihn eine durchsetzbare - wenn auch nicht rechtskräftige - Ausweisung (§10 AsylG) erlassen wurde.

Im gegenständlichen Fall lag zum Zeitpunkt der Verhängung der Schubhaft durch die Bezirkshauptmannschaft Baden eine asylrechtliche Ausweisungsentscheidung vor. Die belangte Behörde konnte ihren Bescheid somit denkmöglich auf §76 Abs2 Z1 FPG stützen.

2. Der Bescheid einer Verwaltungsbehörde, mit dem darüber entschieden wird, ob eine Festnahme oder Anhaltung einer Person rechtmäßig war oder ist, verletzt das durch Art1 ff. des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit und durch Art5 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit), wenn er gegen die verfassungsgesetzlich festgelegten Erfordernisse der Festnahme bzw. Anhaltung verstößt, wenn er in Anwendung eines verfassungswidrigen, insbesondere den genannten Verfassungsvorschriften widersprechenden Gesetzes erlassen wurde oder wenn er gesetzlos oder in denkunmöglicher Anwendung einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsgrundlage ergangen ist; ein Fall, der nur dann vorläge, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre (VfSlg. 13.708/1994, 15.131/1998, 15.684/1999 und 16.384/2001).

3. Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist die in §76 Abs2 FPG festgelegte Ermächtigung im Lichte des aus dem Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit erfließenden unmittelbar anwendbaren Gebots der Verhältnismäßigkeit auszulegen (vgl. VfSlg. 17.891/2006; 18.145/2007). Bereits in VfSlg. 17.891/2006 sprach der Verfassungsgerichtshof die Verpflichtung der Behörde, die über die Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Anhaltung iSd §76 FPG zu entscheiden hat, aus "zu überprüfen und nachvollziehbar darzulegen, inwiefern die Anordnung und Aufrechterhaltung der Schubhaft über den Beschwerdeführer notwendig war, um den Sicherungszweck zu erreichen sowie Überlegungen darüber anzustellen, ob die Sicherung des Verfahrens auch durch die Anwendung gelinderer Mittel gemäß §77 FPG erreicht werden könnte".

Neben dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung des §76 Abs2 Z1 FPG (durchsetzbare Ausweisung), ist die Verhängung der Schubhaft über einen Asylwerber gemäß §76 Abs2 Z1 FPG sohin nur zulässig, wenn die zuständige Fremdenpolizeibehörde von dem ihr eingeräumten Ermessen (arg.: "kann") im Lichte des in Art1 Abs3 des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit festgelegten Gebots der Verhältnismäßigkeit Gebrauch macht.

Im Übrigen besteht selbst bei Anwendung des §76 Abs2a FPG die Notwendigkeit der einzelfallbezogenen Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen an der Sicherung des Verfahrens bzw. der Ausweisung und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen (vgl. VwGH 26.8.2010, 2010/21/0234).

4. Im angefochtenen Bescheid hat der UVS die teilweise Abweisung der Schubhaftbeschwerde jedoch ausschließlich darauf gestützt, dass eine Tatbestandsvoraussetzung des §76 Abs2 Z1 FPG vorlag, ohne nachvollziehbar darzulegen, welche Gründe für die ermessensweise Anordnung bzw. Aufrechterhaltung der Schubhaft sprechen.

Auch die Anwendung der Bestimmung des §82 FPG, nach welcher der Entscheidungsspielraum der zur nachprüfenden Kontrolle befugten Behörde auf das Beschwerdevorbringen reduziert ist, entbindet den UVS nicht von der Verpflichtung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung.

5. Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 180,-

enthalten.

7. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Fremdenrecht,Fremdenpolizei, Schubhaft, Ermessen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2011:B1700.2010

Zuletzt aktualisiert am

21.05.2012
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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