TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/11 S9 400775-1/2008

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Veröffentlicht am 11.09.2008
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Spruch

S9 400.775-1/2008/6E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. DRAGONI als Einzelrichter über die Beschwerde der L. D., geb. 00.00.1976, StA. SERBIEN, vertreten durch Mory & Schellhorn OEG, Rechtsanwaltsgemeinschaft in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 21.07.2008, FZ. 08 00.902 - BAL, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 - AVG, BGBl 1991/51 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid ersatzlos behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Beschwerdeführer, ein serbischer Staatsangehöriger, reiste am 23.01.2008 gemeinsam mit seiner Ehegattin und seinem minderjährigen Sohn über UNGARN kommend in das österreichischen Bundesgebiet ein und stellte am 24.01.2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er wurde hierzu am Tag der Antragstellung durch einen Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Grenzbezirksstelle Neusiedl am See erstbefragt. Dabei gab er an, er sei vor vier Tagen gemeinsam mit seiner Familie von Prizren abwechselnd mit Taxi und Bus bis nach Belgrad und von dort weiter mit einem Taxi bis kurz vor die serbisch-ungarische Staatsgrenze nach Subotica, gefahren. Von dieser Stadt aus seien sie von einem Taxi bis zum Grenzübergang gebracht worden. Die serbisch-ungarische Staatsgrenze hätten sie illegal zu Fuß überschritten. In Szeged (UNGARN) hätten sie sich ein Taxi für die Weiterreise gesucht, das sie über Budapest nach Györ weitertransportiert habe. Von Györ seien sie mit einem weiteren Taxi über den Grenzübergang Nickelsdorf bis nach ÖSTERREICH gefahren. Kurz vor Wien seien sie von der Polizei kontrolliert und anschließend zu einer Polizeidienststelle gebracht worden. Ihr Heimatland hätten sie aus politischen Gründen verlassen.

 

2. Das Bundesasylamt richtete am 28.01.2008 auf der Grundlage der konkreten Angaben des Beschwerdeführers über ihren Reiseweg ein dringliches Aufnahmeersuchen gemäß Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 (Dublin II-VO) an die zuständige ungarische Behörde, welches am selben Tag elektronisch über DubliNET übermittelt wurde. Die Frist zur Beantwortung wurde darin gemäß Art 17 Abs. 2 Dublin II-VO auf ein Monat verkürzt. Die entsprechende Mitteilung gemäß § 28 Abs. 2, 2. Satz AsylG 2005 über die Führung von Konsultationen mit UNGARN erhielt der Beschwerdeführer am 29.01.2008. Mit Schreiben vom 15.02.2008 (eingelangt am 18.02.2008) erklärte sich UNGARN gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens für zuständig.

 

3. Bei der am 26.02.2008 stattgefundenen niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, im Beisein eines Rechtsberaters brauchte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, er sei gemeinsam mit seiner Ehegattin, seinem Sohn, seinen Schwiegereltern sowie seinem Schwager nach ÖSTERREICH gereist. Auf Vorhalt des Bundesasylamtes, dass beabsichtigt sei, seine Ausweisung nach UNGARN zu veranlassen, gab der Beschwerdeführer an, er wolle in ÖSTERREICH bleiben. Er könne keine Gründe anführen, die gegen eine Rücküberstellung nach UNGARN sprächen, weil er noch nicht in UNGARN gewesen sei oder dort gelebt habe. Sein Sohn sei psychisch belastet. Er habe im Kosovo nicht in die Schule gehen können. Er sei zwei oder drei Mal in der Schule geschlagen worden und blutend nach Hause gekommen.

 

4. Auf Grundlage einer am 09.06.2008 bei der EAST-Ost durchgeführten Untersuchung übermittelte Dr. H., Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutische Medizin, am 12.06.2008 dem Bundesasylamt eine gutachtliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren. Die Ärztin kam zum Schluss, dass sich der Beschwerdeführer adäquate Sorgen um seine Familie mache; dies sei nicht krankheitswertig. Sonst seien keine Symptome einer belastungsabhängigen psychischen Störung zu explorieren oder zu beachten. Eine Überstellung nach UNGARN sei daher nicht unzumutbar.

 

5. Mit Aktenvermerk des Bundesasylamtes EAST Ost vom 18.06.2008 wurde das gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 eingeleitete Ausweisungsverfahren gemäß § 27 Abs. 4 AsylG 2005 eingestellt, da die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einleitung nicht mehr vorliegen würden.

 

6. Auf Grundlage einer am 02.07.2008 durchgeführten Untersuchung übermittelte Dr. L., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, am 09.07.2008 dem Bundesasylamt ein Psychiatrisches Gutachten, aus welchem hervorgeht, dass der Beschwerdeführer an einer psychischen Erkrankung in Form einer Anpassungsstörung leide und eine erhöhte psychische Vulnerabilität bestehe. Eine Behandlungsbedürftigkeit bestehe allerdings nicht. Da der Beschwerdeführer weder anamnetisch sei noch aktuell Hinweise für eine Suizidalität bestehen würden, bestehe im Falle einer Überstellung nach UNGARN nicht die reale Gefahr einer lebensbedrohlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes.

 

7. Bei der am 14.07.2008 stattgefundenen niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Linz, wurden der Beschwerdeführer und seine Ehegattin gemeinsam einvernommen. Der Beschwerdeführer gab an, dass er den gemeinsamen minderjährigen Sohn gesetzlich vertrete. Weiters würde seine Frau Medikamente einnehmen. Auf Nachfrage an die Ehegattin, wofür sie Medikamente nehme, gab diese an, die Medikamente seien für die Psyche. Der Beschwerdeführer habe keine Verwandten im Raum der EU, Norwegen, Island oder Österreich. Die Ehegattin des Beschwerdeführers habe einen Onkel in Belgien und einen in Norwegen. Ihre Eltern sowie ihr Bruder seien ebenfalls in ÖSTERREICH aufhältig. Auf Vorhalt des Bundesasylamtes, dass beabsichtigt sei, die Ausweisung der Familie nach UNGARN zu veranlassen, brachte der Beschwerdeführer vor, sein Ziel sei immer ÖSTERREICH gewesen. Gegen UNGARN könne er nichts Negatives sagen, aber zu ÖSTERREICH habe er Vertrauen. Seine Ehegattin schloss sich den Ausführungen ihres Ehegatten an.

 

8. Mit Schreiben vom 18.07.2008 (eingelangt am 21.07.2008) nahm der Beschwerdeführervertreter zur geplanten Überstellung nach UNGARN und zu den getroffenen länderkundlichen Feststellungen wie folgt Stellung:

 

Das Bundesasylamt sei an die im Akt befindliche Zulassungsentscheidung der EAST-Ost gebunden, insbesondere deshalb, weil sich die Faktenbasis nicht verändert habe. Eine Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz sei daher aus rechtstheoretischen Gründen nicht mehr möglich.

 

Des Weiteren sei dem Akt aufgrund der mehrfachen Gutachterlichen Stellungnahmen bzw. Psychiatrischen Gutachten zu entnehmen, dass der psychische Zustand der Ehegattin des Beschwerdeführers äußerst kritisch sei. Jede zusätzliche Belastung könne zu einem suizidalen Geschehen führen. Sie habe in ÖSTERREICH erstmals Kontakt mit einer weiblichen Person aus demselben Kulturkreis und mit denselben Erfahrungen, der sie sich öffnen könne. Eine Ausweisung nach UNGARN sei in einer solchen Situation daher das allerschlechteste. Es drohe eine Verschlechterung der psychischen Erkrankung bis hin zu einem möglichen Suizid.

 

Im Zusammenhang mit den Länderfeststellungen zu UNGARN ergäbe sich ebenfalls eine Vielzahl von Fragen. Die länderkundlichen Feststellungen gäben keinerlei konkrete Auskünfte darüber, ob die Ehegattin des Beschwerdeführers in UNGARN überhaupt die Möglichkeit haben werde, psychiatrisch betreut und therapiert zu werden.

 

Überdies liege eine Art. 8 EMRK-relevante Anknüpfung in ÖSTERREICH vor. Die Vertrauensperson der Ehegattin des Beschwerdeführers lebe in Österreich. Diese übe einen überaus positiven Einfluss auf sie aus. Sie benötige dringend ein einigermaßen stabiles, sicheres, menschenwürdiges und angenehmes Lebens- und Wohnumfeld. Die Ehegattin des Beschwerdeführers sei aufgrund ihrer Erkrankung daher darauf angewiesen, in ÖSTERREICH aufhältig zu bleiben.

 

Auch in Bezug auf den ehelichen Sohn würden ähnliche Bedenken einer Überstellung der Familie nach UNGARN entgegenstehen.

 

9. Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 21.07.2008, Zahl:

08 00.902-BAL, wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 UNGARN zuständig sei. Gleichzeitig wurde der nunmehrige Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach UNGARN ausgewiesen und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach UNGARN gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei. Das Bundesasylamt traf umfangreiche länderkundliche Feststellungen zu UNGARN, insbesondere zum ungarischen Asylwesen sowie zur medizinischen Versorgung. Beweiswürdigend hielt die Erstbehörde im Wesentlichen fest, dass der nunmehrige Beschwerdeführer keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht habe, dass er konkret Gefahr liefe, in UNGARN Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden oder dass ihm durch die Überstellung eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte drohen könnte. Der Bescheid wurde am 22.07.2008 vom Beschwerdeführer nachweislich übernommen. Laut Aktenvermerk vom 28.07.2008 wurde der Bescheid vom zustellbevollmächtigten Vertreter des Beschwerdeführers am gleichen Tag übernommen.

 

10. Gegen den genannten Bescheid richtet sich die fristgerecht am 30.07.2008 eingebrachte Beschwerde, in welcher im Wesentlichen die Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften behauptet wurde. Im Wesentlichen verwies der Beschwerdeführer auf die am 21.07.2008 eingebrachte Stellungnahme. Als Beschwerdegründe wurden die Bindung an die Zulassungsentscheidung des Bundesasylamtes, Erstaufnahmestelle Ost, sowie der Gesundheitszustand der Ehegattin des Beschwerdeführers (Art. 3 EMRK-Verletzung) geltend gemacht.

 

11. Mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom 08.08.2008, Zahl: S9 400.775-1/2008/2Z, wurde der Beschwerde gemäß § 37 Abs. 1 AsylG 2005 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

 

12. Am 14.08.2008 langte beim Asylgerichtshof eine Nachreichung zur Beschwerdevorlage ein, mit welcher die Beschwerden betreffend die Schwiegereltern und den Schwager des Beschwerdeführers vorgelegt wurden. Der Beschwerdeschriftsatz der Familienangehörigen wurde als Berufungsergänzung eingereicht und wurde Folgendes vorgebracht:

 

Die erstinstanzliche Entscheidung stehe in Widerspruch zu Art. 3 und 8 EMRK und sei daher grundrechtswidrig. Das Bundesasylamt habe es unterlassen, die individuelle Gefährdungs- und Bedrohungslage des Beschwerdeführers (im Herkunftsstaat Kosovo aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit sowie in Ungarn) zu erheben sowie die konkrete physische und psychische Konstitution der Ehegattin des Beschwerdeführers festzustellen. Aufgrund von Art. 8 EMRK sei es grundrechtswidrig, die Familien (L. und M.) zu trennen, zumal die Familienmitglieder an psychischen Störungen leiden würde.

 

Weiters sei nicht ausreichend ermittelt worden, welche asylrechtlichen Schutzmöglichkeiten und welche medizinischen Behandlungsmöglichkeiten sowie welche Lebensbedingungen der Beschwerdeführer in UNGARN vorfinden werde und welche Auswirkungen die Überstellung und Abschiebung nach UNGARN auf den Gesundheitszustand und die Gefährdungslage der Ehegattin des Beschwerdeführers haben könnte.

 

13. Die Beschwerde der Ehegattin des Beschwerdeführers, L. S., wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom heutigen Tag, GZ: S9 400.776-1/2008/5E, gemäß § 66 Abs. 4 AVG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid ersatzlos behoben.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

1. Mit Datum 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005) und ist auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Asylanträge anzuwenden. Im gegenständlichen Fall wurde der Asylantrag am 11.03.2008 gestellt, weshalb § 5 AsylG 2005 zur Anwendung gelangt.

 

2. Gemäß § 34 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 gilt der Antrag auf internationalen Schutz eines Familienangehörigen (§ 2 Z 22) eines Asylwerbers als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

 

Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 hat die Behörde Asylanträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen und es erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid.

 

§ 36 Abs. 3 AsylG 2005 besagt, dass wenn gegen eine zurückweisende oder abweisende Entscheidung im Familienverfahren auch nur von einem betroffenen Familienmitglied Berufung erhoben wird, diese auch als Berufung gegen die die anderen Familienangehörigen (§ 2 Z 22) betreffenden Entscheidungen gilt; keine dieser Entscheidungen ist dann der Rechtskraft zugänglich. Allen Berufungen gegen Entscheidungen im Familienverfahren kommt aufschiebende Wirkung zu, sobald zumindest einer Berufung im selben Familienverfahren aufschiebende Wirkung zukommt.

 

Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 ist Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung unverheiratetes minderjähriges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Familieneigenschaft bei Ehegatten bereits im Herkunftsstaat bestanden hat.

 

3. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.2.2003 (Dublin II VO) zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG 2005 mit einer Ausweisung zu verbinden. § 5 AsylG 2005 bezieht sich dabei auf die Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.02.2003 (Dublin II VO).

 

Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebenso wenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

Es ist daher zunächst zu überprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw. 14 und Art. 15 Dublin II VO zuständig ist oder die Zuständigkeit bei ihm selbst nach dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO (erste Asylantragstellung) liegt.

 

3.1. Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit von UNGARN gemäß Art.10 Abs. 1 Dublin II VO besteht. Die Zuständigkeit wurde von UNGARN mit Schreiben vom 15.02.2008 (eingelangt am 18.02.2008) auch ausdrücklich anerkannt. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung war somit gegeben.

 

3.2 Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II-VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22 ff).

 

4. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher - entsprechend den Ausführungen in der Beschwerde - noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

4.1. Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zl. B 336/05-11, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten nicht kraft Gemeinschaftsrecht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II-VO erfolgt sei. Er hat dabei aber gleichzeitig ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO zwingend geboten sei.

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen. Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II-VO geht davon aus, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II-VO). Er hat dabei keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen. Diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der EMRK-konformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei einer drohenden Verletzung der EMRK durch die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat keine Überstellung stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II-VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18 ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II-Verordnung², Art. 19, K8 - K13). Auch der EGMR hat festgestellt, dass die Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entsprechen muss (30.06.2005, Bosphorus Airlines Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können.

 

4.2. Unbestritten ist, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten, die auch im vorliegenden Fall maßgeblich ist, eine Überstellung nach UNGARN nicht zulässig wäre, wenn dort wegen fehlender Behandlung sehr schwerer Krankheiten eine Existenzbedrohende Situation drohte und diesfalls das Selbsteintrittsrecht der Dublin II VO zwingend auszuüben wäre.

 

In diesem Zusammenhang ist vorerst auf das jüngste diesbezügliche Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes (VfGH vom 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9) zu verweisen, welches die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK festhält (D. v. the United Kingdom, EGMR 02.05.1997, Appl. 30.240/96, newsletter 1997,93; Bensaid, EGMR 06.02.2001, Appl. 44.599/98, newsletter 2001,26; Ndangoya, EGMR 22.06.2004, Appl. 17.868/03; Salkic and others, EGMR 29.06.2004, Appl. 7702/04; Ovdienko, EGMR 31.05.2005, Appl. 1383/04; Hukic, EGMR 29.09.2005, Appl. 17.416/05; EGMR Ayegh, 07.11.2006; Appl. 4701/05; EGMR Goncharova & Alekseytsev, 03.05.2007, Appl. 31.246/06).

 

Zusammenfassend führt der VfGH aus, das sich aus den erwähnten Entscheidungen des EGMR ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).

 

4.2.1. Das Bundesasylamt setzt sich in seinem Bescheid umfassend mit der oben genannten Judikatur des EGMR auseinander und kommt zum Schluss, dass eine Überstellung des Beschwerdeführers nach UNGARN keine Verletzung des Art. 3 EMRK nach sich ziehen würde. Nach Auffassung des Asylgerichtshofes ist die diesbezügliche Entscheidung auf der Grundlage der vorliegenden Beweismittel, insbesondere dem psychiatrischen Gutachten von Dr. L., schlüssig und nachvollziehbar.

 

4.3. Wie oben ausgeführt wurde jedoch der Beschwerde der Ehegattin des Beschwerdeführers mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom heutigen Tag gemäß § 66 Abs. 4 AVG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid ersatzlos behoben.

 

4.3.1. Der Beschwerdeführer ist als Ehegatte der L. S. Familienangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005. Der Antrag des Beschwerdeführers gilt daher gemäß § 34 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 als Antrag auf die Gewährung desselben Schutzes wie jener seiner Ehegattin. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Vorgängerbestimmung des § 34 Abs. 4 AsylG 2005 (§ 10 Abs. 5 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003) bedeutet dies, dass in dem Fall, wenn der Bescheid auch nur eines Familienangehörigen behoben und die Angelegenheit zur Durchführung des materiellen Verfahrens an das Bundesasylamt zurückverwiesen wurde, dies auch für die Verfahren aller anderen Familienangehörigen gilt (vgl. VwGH vom 18.10.2005, Zl. 2005/01/0402).

 

4.3.2. Da im Fall der Ehegattin festgestellt wurde, dass zur Vermeidung einer Verletzung des Art. 3 EMRK vom Selbsteintrittrecht zwingend Gebrauch zu machen war und daher der sie betreffende Bescheid ersatzlos behoben wurde, war nun auch der Bescheid des Beschwerdeführers zu beheben und an das Bundesasylamt zur Durchführung des materiellen Verfahrens zurückzuverweisen. Eine weitere Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers konnte deshalb unterbleiben.

 

5. § 41 Abs. 3 AsylG 2005 lautet: "In einem Verfahren über eine Berufung gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung ist § 66 Abs. 2 AVG nicht anzuwenden. Ist der Berufung gegen die Entscheidung des Bundesasylamts im Zulassungsverfahren statt zu geben, ist das Verfahren zugelassen. Der Berufung gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch statt zu geben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint."

 

5.1. Eine Aufhebung einer zurückweisenden Entscheidung nach § 41 Abs. 3 AsylG 2005 kommt nach dem Wortlaut dieser Bestimmung nur im Zulassungsverfahren in Betracht. Da das gegenständliche Asylverfahren aber bereits vom Bundesasylamt zugelassen wurde, kommt eine Anwendung des § 41 Abs. 3 AsylG 2005 nicht mehr in Betracht. Der beschwerdegegenständliche Bescheid des Bundesasylamtes war daher gemäß § 66 Abs. 4 AVG ersatzlos aufzuheben.

 

6. Da der hier maßgebliche Sachverhalt durch die Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde eindeutig geklärt war, konnte die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung unterbleiben. Dem ist hinzuzufügen, dass der Asylgerichtshof gemäß § 41 Abs. 4 AsylG 2005 über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide im Zulassungsverfahren grundsätzlich ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung entscheiden kann.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Familienverfahren
Zuletzt aktualisiert am
26.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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