TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/19 S9 401090-1/2008

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Veröffentlicht am 19.09.2008
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Spruch

S9 401.090-1/2008/4E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. DRAGONI als Einzelrichter über die Beschwerde des M.B., geb. 00.00.1986, StA. SERBIEN, vertreten durch Mory & Schellhorn OEG, Rechtsanwaltsgemeinschaft in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 30.07.2008, FZ. 08 00.898-EAST Ost, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005, BGBL. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Beschwerdeführer, ein serbischer Staatsangehöriger, reiste am 23.01.2008 gemeinsam mit seinen Eltern sowie seiner Schwester und deren Familie über UNGARN kommend in das österreichischen Bundesgebiet ein und stellte am 24.01.2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er wurde hierzu am Tag der Antragstellung durch einen Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Grenzbezirksstelle Neusiedl am See erstbefragt. Dabei gab er an, er sei vor vier Tagen gemeinsam mit seiner gesamten Familie von Prizren mit dem Bus bis nach Belgrad gefahren. Anschließend seien sie mit einem Taxi bis kurz vor die serbisch-ungarische Grenze, nach Subotica, gefahren. Er habe illegal zu Fuß die serbisch-ungarische Staatsgrenze überschritten. In Szeged (UNGARN) hätten sie ein Taxi für die Weiterreise gesucht, das sie über Budapest nach Györ weitertransportiert habe. In Szeged hätten sie zwei weitere serbische Staatsbürger getroffen, welche mit ihnen gemeinsam weitergereist seien. In Györ hätten sie sich ein weiteres Taxi gesucht, das sie bis nach ÖSTERREICH gebracht habe. Sie seien über den Grenzübergang Nickelsdorf nach ÖSTERREICH gefahren. Kurz vor Wien seien sie von der Polizei kontrolliert und anschließend zu einer Polizeidienststelle gebracht worden. Sein Heimatland habe er aus politischen Gründen verlassen.

 

2. Das Bundesasylamt richtete am 28.01.2008 Anfragen gemäß Art. 21 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 (Dublin II-VO) an UNGARN und SLOWENIEN, welche von beiden Mitgliedstaaten negativ beantwortet wurden. Die entsprechende Mitteilung gemäß § 28 Abs. 2, 2. Satz AsylG 2005 über die Führung von Konsultationen mit UNGARN und SLOWENIEN erhielt der Beschwerdeführer am 29.01.2008. Am 20.03.2008 richtete das Bundesasylamt auf der Grundlage der konkreten Angaben des Beschwerdeführers über seinen Reiseweg ein dringliches Aufnahmeersuchen gemäß § 10 Abs. 1 Dublin II-VO an die zuständige ungarische Behörde, welches am selben Tag elektronische über DubliNET übermittelt wurde. Die Frist zur Beantwortung wurde darin gemäß Art 17 Abs. 2 Dublin II-VO auf ein Monat verkürzt. Die entsprechende Mitteilung gemäß § 28 Abs. 2, 2. Satz AsylG 2005 über die Führung von Konsultationen mit UNGARN erhielt der Beschwerdeführer am 27.03.2008. Mit Schreiben vom 03.04.2008 (eingelangt am 04.04.2008) erklärte sich UNGARN gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Beschwerdeführers zuständig.

 

3. Dem Bundesasylamt wurde am 28.04.2008 ein Schreiben der Ordination Dr. X. aus Prizren vorgelegt. Aus diesem Schriftstück geht hervor, dass der Beschwerdeführer von 29.10.2007 bis 14.01.2008 bei Dr. X.I. in Behandlung gewesen sei. Der erste Kontakt sei am 29.10.2007 aufgenommen worden. Der Beschwerdeführer sei sehr erschrocken, nervös und unruhig gewesen, weil er, wie er behauptet habe, am Vortag von unbekannten Personen angegriffen worden sei. Der Beschwerdeführer habe sichtbare Hämatome im Gesicht, am Kopf und am Körper gehabt. Es sei auch ein psychiatrisches Gespräch geführt worden. Der Beschwerdeführer habe erzählt, dass er unter ständigem psychischen Druck stehe, weil er Drohungen erhalten habe. Er habe Angst alleine in der Wohnung zu schlafen. Er habe ständig das Gefühl verfolgt zu werden. Er habe Schmerzen am ganzen Körper, Übelkeiten und Magenschmerzen. Beim kleinsten Geräusch würde er erschrecken. Er habe den Vorfall auch nicht der Polizei melden können. Der Beschwerdeführer sei regelmäßig zu den vereinbarten Terminen erschienen und habe an den verschiedensten Therapien teilgenommen. Das klinische Bild sei durch die depressive Stimmung, Zurückgezogenheit und Hoffnungslosigkeit dominiert.

 

Weiters wurde ein Befund von Dr. D.M.I. vom 31.03.2008 vorgelegt.

 

4. Auf Grundlage einer am 21.05.2008 bei der EAST-Ost durchgeführten Untersuchung übermittelte Dr. H., Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutische Medizin, am 28.05.2008 dem Bundesasylamt eine Gutachtliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren. Die Ärztin kam darin zu dem Schluss, dass keine schweren psychischen Störungen einer Überstellung nach UNGARN entgegenstehen würden. Beim Beschwerdeführer würde zurzeit eine milde Form der Anpassungsstörung, Angst und depressive Störung gemischt, F.43.22, vorliegen. Diese sei jedoch mild ausgeprägt. Es würden keine Hinweise auf das Bestehen von Suizidgedanken, das Vernachlässigen der eigenen Internessen oder die Vitalfunktionen gefährdenden Symptome bestehen. Es werde subjektiv die Überstellung nicht extrem negativ bewertet, was ebenfalls ein Aspekt für die Beurteilung der Überstellungsfähigkeit sei. Der Beschwerdeführer verbinde keine negativen Erfahrungen oder Antizipationen mit dem Zielland. Es sei daher und aufgrund der geringen Symptomatik eine Überstellung nicht als unzumutbar einzustufen.

 

5. Aus einem Befund von Dr. R., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, vom 13.06.2008 geht hervor, dass die Stimmung des Beschwerdeführers ins Depressive verschoben, der Antrieb vermindert sowie die Affizierbarkeit im positiven Skalenbereich erschwert sei.

 

6. Bei der am 28.07.2008 stattgefundenen niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, zur Wahrung des Parteiengehörs brachte der Beschwerdeführer im Beisein eines Rechtsberaters vor, seine gesamte Familie lebe in ÖSTERREICH. Auf Vorhalt, dass beabsichtigt sei, seine Ausweisung nach UNGARN zu veranlassen, gab der Beschwerdeführer an, er wisse nicht, was er sagen solle. Er habe nur gehört, dass sie über UNGARN nach ÖSTERREICH eingereist seien, aber von dem Land selbst habe er nichts mitbekommen.

 

7. Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 30.07.2008, Zahl:

08 00.898-EAST Ost, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 UNGARN zuständig sei. Gleichzeitig wurde der nunmehrige Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach UNGARN ausgewiesen und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach UNGARN gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei. Das Bundesasylamt traf umfangreiche länderkundliche Feststellungen zu UNGARN, insbesondere zum ungarischen Asylwesen sowie zur medizinischen Versorgung. Beweiswürdigend hielt die Erstbehörde im Wesentlichen fest, dass der nunmehrige Beschwerdeführer keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht habe, dass er konkret Gefahr liefe, in UNGARN Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden oder dass ihm durch die Überstellung eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte drohen könnte. Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 31.07.2008 nachweislich zugestellt.

 

8. Gegen den genannten Bescheid richtet sich die fristgerecht am 13.08.2008 eingebrachte Beschwerde, in welcher im Wesentlichen die Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften behauptet wurde. Im Wesentlichen brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass eine Überstellung nach UNGARN unzulässig sei, weil diese im Widerspruch zu Art. 3 und Art. 8 EMRK stehe und daher grundrechtswidrig sei.

 

9. Mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom 25.08.2008, Zahl: S9 401.090-1/2008/3Z, wurde der Beschwerde gemäß § 37 Abs. 1 AsylG 2005 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

 

10. Die zurückweisenden Bescheide des Bundesasylamtes betreffend die Eltern des Beschwerdeführers wurden mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom heutigen Tag, GZ: S9 401.089-1/2008/6E, S9 401.088-1/2008/4E, behoben. Die zurückweisenden Bescheide des Bundesasylamtes betreffend die Schwester des Beschwerdeführers sowie ihre Familie wurden jeweils mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 11.09.2008, GZ: S9 400.776-1/2008/5E, S9 400.775-1/2008/6E und S9 400.777-1/2008/5E, ersatzlos behoben.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus den Ausführungen zu Punkt I sowie aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.

 

2. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

2.1. Mit Datum 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005) und auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Asylanträge anzuwenden. Im gegenständlichen Fall wurde der Asylantrag am 11.03.2008 gestellt, weshalb § 5 AsylG 2005 zur Anwendung gelangt.

 

2.2. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.2.2003 (Dublin II VO) zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG 2005 mit einer Ausweisung zu verbinden. § 5 AsylG 2005 bezieht sich dabei auf die Dublin II

VO.

 

Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebenso wenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

Es ist daher zunächst zu überprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw. 14 und Art. 15 Dublin II VO zuständig ist oder die Zuständigkeit bei ihm selbst nach dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO (erste Asylantragstellung) liegt.

 

2.2.1. Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit von UNGARN gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II VO besteht. Die Zuständigkeit wurde von UNGARN mit Schreiben vom 03.04.2008 (eingelangt am 04.04.2008) auch ausdrücklich anerkannt. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung war somit gegeben.

 

2.3. Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II-VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22 ff).

 

2.4. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher - entsprechend den Ausführungen in der Beschwerde - noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

2.4.1. Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zl. B 336/05-11, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten nicht kraft Gemeinschaftsrecht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II-VO erfolgt sei. Er hat dabei aber gleichzeitig ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO zwingend geboten sei.

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen. Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II-VO geht davon aus, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II-VO). Er hat dabei keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen. Diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der EMRK-konformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei einer drohenden Verletzung der EMRK durch die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat keine Überstellung stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II-VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18 ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II-Verordnung, Art. 19, K8 - K13). Auch der EGMR hat festgestellt, dass die Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entsprechen muss (30.06.2005, Bosphorus Airlines Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können.

 

2.4.2. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Der EGMR bzw. die EKMR verlangen zum Vorliegen des Art. 8 EMRK das Erfordernis eines "effektiven Familienlebens", das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234; hierzu ausführlich: Kälin, "Die Bedeutung der EMRK für Asylsuchende und Flüchtlinge: Materialien und Hinweise", Mai 1997, Seite 46).

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311), und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayer ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

Im vorliegenden Fall sind sowohl die Eltern des Beschwerdeführers als auch seine Schwester und deren Familie in ÖSTERREICH aufhältig. Diesbezüglich ist zunächst auszuführen, dass die Beziehung zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern sowie zwischen Geschwistern von der oben zitierten Judikatur des EGMR nicht grundsätzlich umfasst wird. Es ist daher zu prüfen, ob die vom EGMR geforderte Beziehungsintensität im gegenständlichen Fall vorliegt.

 

Das Bundesasylamt hat jedoch diesbezüglich den Beschwerdeführer nicht ausreichend über seine Beziehung zu seinen Eltern bzw. zu seiner Schwester befragt, weil es davon ausgegangen ist, dass die gesamte Familie nach UNGARN rücküberstellt werde, weshalb keine Gefahr der Verletzung der durch Art. 8 EMRK garantierten Rechte absehbar war. Da sich nun allerdings die Sachverhaltslage durch die stattgebenden Erkenntnisse des Asylgerichtshofes betreffend die Beschwerden seiner Verwandten geändert hat, muss die Rechtslage vor diesem Hintergrund neu beurteilt werden. Voraussetzung dafür ist eine entsprechende Ergänzung des Sachverhaltes.

 

2.4.3. Im fortzusetzenden Verfahren werden (sofern eine neuerliche Erlassung einer Unzuständigkeitsentscheidung nach § 5 AsylG möglich und beabsichtigt ist) in diesem Zusammenhang weitere Ermittlungen zu tätigen sein; insbesondere erscheint es notwendig, den Beschwerdeführer detailliert zu seiner Beziehung zu seinen in ÖSTERREICH aufhältigen Verwandten zu befragen. Um schlüssige Feststellungen treffen zu können, kann es darüber hinaus notwendig sein, Zeugen zu befragen. Es wird darauf hingewiesen, dass neue Beweismittel dem Beschwerdeführer im Wege des Parteingehörs zur Kenntnis zu bringen sind.

 

3. Als maßgebliche Determinante für die Anwendbarkeit des § 41 Abs. 3 AsylG 2005 in diesem Zusammenhang ist die Judikatur zum § 66 Abs. 2 AVG heranzuziehen, wobei allerdings kein Ermessen des Asylgerichtshofes besteht. Eine kassatorische Entscheidung darf vom Asylgerichtshof nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann getroffen werden, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

 

Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt, wie dargestellt, keine ausreichend begründete Entscheidung (vgl. Art. 19 Abs. 2 1. Satz Dublin II VO und Art. 20 Abs. 1 lit. e 2. Satz Dublin II VO) erlassen. Der Asylgerichtshof war auf Basis der Ergebnisse des Verfahrens des Bundesasylamtes praktisch nicht in der Lage, innerhalb der zur Verfügung stehenden kurzen Entscheidungsfristen (§ 37 Abs. 3 AsylG) eine inhaltliche Entscheidung zu treffen. Der angefochtene Bescheid konnte daher unter dem Gesichtspunkt des § 41 Abs. 3 AsylG keinen Bestand mehr haben.

 

4. Es war somit spruchgemäß zu entscheiden. Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG entfallen.

Schlagworte
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
11.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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