TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/23 D6 319652-1/2008

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Veröffentlicht am 23.09.2008
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Spruch

D6 319652-1/2008/6E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Vorsitzenden und die Richterin Dr. Christine AMANN als Beisitzerin über die Beschwerde der V.M., geb. 00.00.1983, StA. d. Russischen Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 19.5.2008, FZ. 07 10.347-BAE, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.9.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und V.M. gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass V.M. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsangehörige der tschetschenischen Volksgruppe, reiste am 6.11.2007 in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie wurde am 13.11.2007 sowie am 14.1.2008 vor dem Bundesasylamt niederschriftlich einvernommen.

 

1. Als Fluchtgründe brachte die Beschwerdeführerin - zusammengefasst - vor, dass ein Verwandter Nurdi Baschijev während des ersten Tschetschenienkrieges Kommandant und General der Südwestfront gewesen und nach dem Ende des Krieges stellvertretender Innenminister für Tschetschenien gewesen sei. Im Jahr 1997 sei ihr Verwandter getötet worden. Auch habe ihr Vater während des ersten Tschetschenienkrieges die Widerstandskämpfer unterstützt. Er habe zwar nicht an Kämpfen teilgenommen, aber beim Transport der Verletzten geholfen. Ihr Vater sei von einer Kugel getroffen und verletzt worden. Nach seiner Genesung habe er weiterhin mit Verwandten die Widerstandskämpfer unterstützt. Im Jahr 0000 habe sie in Grosny zu studieren begonnen. Sie habe sich während ihrer Studienzeit bei verschiedenen Verwandten versteckt, um weiteren Verfolgungshandlungen zu entkommen. Auch ihre Eltern hätten ständig versteckt gelebt. Im Oktober oder November 0000 sei ihre Familie von unbekannten Personen in Militäruniform aufgesucht worden. Diese hätten nach ihrem Vater und Bruder gefragt. Ihr Bruder sei zu diesem Zeitpunkt ein Mitarbeiter von Nasrudi Baschijev gewesen, welcher nach dem Tod von Nurdi Baschijev, stellvertretender Innenminister geworden sei. Die Uniformierten seien sehr aggressiv gewesen und hätten ihre Mutter geschlagen und die Schwägerin im Zuge eines Schusswechsels getötet. Nach diesem Vorfall hätten sie ihren Familiennamen geändert. Im Jahr 2003 habe ihr Bruder gemeinsam mit seinem Sohn Tschetschenien verlassen. Ihr Vater habe auch flüchten wollen, aus finanziellen Gründen sei dies jedoch nicht möglich gewesen. Ihr Vater sei bereits mehrmals festgenommen und während der Haft stets schwer misshandelt worden. Nach der Freilassung ihres Vaters hätten sich ihre Mutter und die Beschwerdeführerin einen Auslandsreisepass ausstellen lassen und seien ausgereist. Im Jahr 2004 sei Nasrudi Baschijev vom Militär abgeführt worden sei. Er sei drei Tage später in der Umgebung von Grosny tot aufgefunden worden.

 

2. Mit Bescheid vom 19.5.2008 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (im Folgenden: AsylG), ab und erkannte den Status der subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Beschwerdeführerin nicht zu; gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

In seiner Begründung stellte das Bundesasylamt die Identität und Nationalität der Beschwerdeführerin sowie die Einreise der Beschwerdeführerin von Polen am 6.11.2007 in das Bundesgebiet fest. Die Beschwerdeführerin habe vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet in Polen einen Asylantrag gestellt. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin in der Russischen Föderation einer Festnahme durch Uniformierte ausgesetzt gewesen sei, weil ihre Verwandten aktiv an Widerstandskämpfen teilgenommen und ihr Vater beim Transport von Verletzten geholfen habe. Zur Situation in Teilen der Russischen Föderation traf das Bundesasylamt umfangreiche Länderfeststellungen.

 

Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt aus, dass die Beschwerdeführerin die Behauptung, der Gefahr einer Festnahme durch Uniformierte ausgesetzt gewesen zu sein, nur allgemein in den Raum gestellt habe, ohne dies belegen oder durch konkrete Anhaltspunkte glaubhaft machen zu können. Verdeutlicht werde dies durch Widersprüche, welche die Beschwerdeführerin nicht überzeugend auflösen habe können. Gegen die Glaubwürdigkeit des Vorbringens spreche der langjährige Aufenthalt der Beschwerdeführerin (bis Feber 2007) in Tschetschenien, obwohl der zweite Tschetschenienkrieg bereits Ende 1999 begonnen habe. Es könne daher nicht schlüssig nachempfunden werden, dass die Beschwerdeführerin trotz ständiger Verfolgungsgefahr und Furcht vor einem Übergriff der Uniformierten weiterhin im Heimatland verweilte. Auch die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin trotz angeblicher Verfolgung einen Auslandsreisepass ausgestellt bekommen habe und legal nach Polen reisen habe können, widerspreche ihrer Behauptung, in ihrem Herkunftsstaat gesucht zu werden. Selbst die in diesem Zusammenhang erwähnte Änderung des Familiennamens könne an diesem Widerspruch nichts ändern, da die Änderung des Familiennamens den Behörden gemeldet worden sei und somit auch die frühere Identität bekannt gewesen sein müsse. Auch spreche der Umstand, dass sie problemlos an der Universität in Grosny studieren habe können, gegen eine staatliche Verfolgung. Weiters werde von der erkennenden Behörde in Zweifel gezogen, dass überhaupt Maßnahmen gegen Verwandte der Beschwerdeführerin erfolgt seien, denn die Beteiligung des Vaters beschränke sich auf Verwundetentransporte, und es sei bekannt, dass es zu keiner massiven Verfolgung von Personen komme, die Kämpfer nicht-militärisch unterstützt hätten. Die Beschwerdeführerin selbst habe sich am Krieg gar nicht beteiligt. Aufgrund "der Vielzahl an Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten" sei das Bundesasylamt der Ansicht, dass das Vorbringen der Wahrheit nicht entspreche, die Beschwerdeführerin vielmehr einen Sachverhalt konstruiert habe, der mit wirklichen Geschehnissen nichts zu tun habe, sondern dazu diene, den Aufenthalt in Österreich so lange wie möglich durch Behauptungen quasi zu erzwingen. Rechtlich folgerte das Bundesasylamt, dass weder eine Verfolgung iSd Genfer Flüchtlingskonvention noch ein Abschiebungshindernis vor dem Hintergrund der Art. 2 und 3 EMRK anzunehmen seien. Ungeachtet ihrer Beziehung zu ihrem Bruder und ihrem Neffen, die schon 2003 nach Österreich gereist seien, lebe sie nicht mit den Familienangehörigen in einem gemeinsamen Haushalt und werde vom österreichischen Staat finanziell unterstützt und sei daher die Ausweisung zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten und zulässig.

 

3. Dagegen richtet sich die (als Berufung eingebrachte) Beschwerde vom 3.6.2008, in der - neben umfangreichen Ausführungen und Zitaten zur allgemeinen Situation in Tschetschenien - der Beweiswürdigung der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten wird. Aufgrund der nicht vorhandenen finanziellen Mittel habe sie nicht eher flüchten können. Die Reisepässe hätten sie - bewusst - nicht persönlich abgeholt, sondern es hätten Verwandte der Familie die Pässe organisiert. Auch habe sie sich während ihrer Studienzeit stets bei verschiedenen Verwandten versteckt, um sich gerade vor weiteren Verfolgungshandlungen zu schützen. Insbesondere habe sie die konkreten Verfolgungshandlungen, die auch gegen sie gerichtet gewesen seien, ausführlich dargelegt: So sei sie nicht nur 0000 von maskierten Männern geschlagen worden, sondern auch 0000 im Zuge der Ermordung ihrer Schwägerin sowie 0000 bei einer weiteren Festnahme ihres Vaters. Es sei für die Beschwerdeführerin nicht nachvollziehbar, dass die behaupteten Maßnahmen und Übergriffe gegen ihre Verwandten in Zweifel gezogen wurden, denn sie habe ausführlich darüber berichtet. All dies sei nicht aufgrund allgemeiner Folgen eines Bürgerkrieges geschehen, sondern aufgrund der Angehörigeneigenschaft ihrer Verwandten zu Widerstandskämpfern.

 

4. Am 10.9.2008 führte der Asylgerichtshof eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die Beschwerdeführerin sowie ihr Bruder als Vertrauensperson teilnahmen; das Bundesasylamt hatte auf die Teilnahme an der Verhandlung verzichtet. Der Verhandlung wurde eine Dolmetscherin für die russische Sprache beigezogen. Die Verhandlung war geboten, da die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Beschwerde substantiiert bekämpft wurde und dem erkennenden Senat ergänzungsbedürftig erschien.

 

Die Beschwerdeführerin legte ihren Auslandsreisepass, ein Diplom über den Abschluss des Medizinstudiums sowie Internet-Auszüge der Seiten "Friends & Partners" vom 3.11.1998 und "The Examiner" vom 3.11.1998, jeweils am 9.9.2008 abgerufen, vor.

 

Beweis wurde erhoben, indem die Beschwerdeführerin einvernommen und folgende, auch in der Verhandlung erörterte Unterlagen eingesehen wurden:

 

Bericht des auswärtigen deutschen Amtes vom 13.1.2008

 

Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 29.7.2008

 

Ruth Altenhofer, Schwerpunkt: Tschetschenien. Anfang 2008 - Eine Auswertung aktueller Informationen im Asylmagazin 3/2008 (abgerufen am 17.4.2008)

 

Chechnya, Summary of the ACCORD-UNHCR information seminar April 2008, S 11f.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Die Beschwerdeführerin ist russische Staatsangehörige der tschetschenischen Volksgruppe, geboren in Kalmykien und lebte im Dorf P.. Als der 2. Tschetschenienkrieg 1999 begann, schloss sie die Grundschule ab. Von 0000 bis 0000 studierte sie in Grosny. Während des zweiten Krieges hielt sie sich mit ihren Angehörigen vorwiegend in Inguschetien auf. Im Jahr 1997 wurde ihr Verwandter Nurdi Baschijev, der stellvertretender tschetschenischer Innenminister gewesen war, ermordet. Nachdem ihr Verwandter getötet wurde, wurde ein weiterer Verwandter, nämlich dessen Bruder Nasrudi Bashijev, stellvertretender Innenminister. Auch er wurde im März 2004 vom Militär festgenommen und in weiterer Folge getötet. Ihr Vater und ein weiterer Verwandter hatten die tschetschenischen Widerstandskämpfer mit Arzneimittel und Lebensmittel unterstützt sowie beim Transport von Verwundeten geholfen. Aufgrund seiner Unterstützung der Widerstandskämpfer wurde ihr Vater im Zuge von Hausdurchsuchungen bzw. "Säuberungsaktionen" festgenommen, misshandelt und verletzt. Ihre Schwägerin - die Ehefrau ihres Bruders - wurde im Zuge einer Hausdurchsuchung - bei der auch Übergriffe gegen die Beschwerdeführerin stattgefunden haben - ermordet. Die Beschwerdeführerin konnte zwar die Universität in Grosny besuchen, musste sich jedoch ständig bei verschiedenen Verwandten verstecken, um weiteren Verfolgungen zu entgehen. Dem Bruder der Beschwerdeführerin und dessen Sohn wurde in Österreich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ihren Eltern sowie einem Verwandter wurde mittlerweile in Polen Asyl gewährt.

 

Die Beschwerdeführerin verfügt über keine Verwandte oder Bekannte, die auf dem Gebiet der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens leben.

 

1.2. Zur Lage in Tschetschenien und zur Lage der Tschetschenen in der Russischen Föderation:

 

Die belangte Behörde hat zur Situation in der Russischen Föderation aufgrund verschiedener Länderberichte unterschiedlichster Quellen Feststellungen getroffen, die dem Asylgerichtshof im vorliegenden Fall unbedenklich erscheinen, weshalb er sich diesen Feststellungen anschließt. Ergänzend stellt der Asylgerichtshof ferner fest, dass zu den Personengruppen, die nach wie vor einem sehr hohen Risiko ausgesetzt sind, in bewaffnete Auseinandersetzungen zu geraten, festgenommen, verschleppt, verhört oder gefoltert zu werden, Verwandte von Rebellen bzw. Personen, die für Rebellen oder deren Sympathisanten gehalten werden, zählen.

 

2. Diese Feststellungen beruhen auf folgender Beweiswürdigung:

 

2.1. Die ergänzenden Feststellungen stützen sich auf die in der Verhandlung erörterten Dokumente, die in ihrer Grundaussage völlig übereinstimmen und auch mit den Feststellungen der belangten Behörde im Einklang stehen, wonach flächendeckende "Säuberungsaktionen" zugunsten "gezielter" Einzelaktionen gegen Personen, die der Begehung "terroristischer Taten" verdächtigt werden, abgenommen haben.

 

2.2. Die Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin beruhen auf ihren eigenen glaubwürdigen und nachvollziehbaren Angaben. Dass die Beschwerdeführerin aus Tschetschenien stammt, hat bereits die belangte Behörde angenommen; auch in der Verhandlung haben sich diesbezüglich keine Zweifel ergeben. Von ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit konnte sich der erkennende Senat in der Verhandlung überzeugen. Entscheidend für die Glaubhaftmachung der geltend gemachten Fluchtgründe war zum Einen, dass sie ihr Vorbringen in sich stimmig darlegte und detailgenau schilderte, womit die Beschwerdeführerin den bereits bestehenden Eindruck des persönlich Erlebten untermauerte, und dass sie zum Anderen die massiven Verfolgungsmaßnahmen gegen ihren Vater und Bruder, die Widerstandskämpfer unterstützt hatten, überzeugend darlegte, wodurch die von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Hausdurchsuchungen und Übergriffe durch russische Sicherheitskräfte plausibel erscheinen. Weiters erscheint die Verfolgung der Familienangehörigen glaubhaft und nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die beiden Verwandten, die eine höhere politische Position in Tschetschenien inne hatten, aufgrund ihrer Tätigkeit ermordet worden waren und zusätzlich die Aufmerksamkeit der russischen Sicherheitskräfte durch ihre Unterstützung der Widerstandskämpfer auf die Familie der Beschwerdeführerin gelenkt war. Ihre Schilderungen sind daher in sich stimmig und vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen nachvollziehbar.

 

Die Beschwerdeführerin steigerte ihr Vorbringen im Vergleich zu den erstinstanzlichen Einvernahmen nicht. Soweit die belangte Behörde die Unglaubwürdigkeit der Angaben damit begründete, dass die Beschwerdeführerin - obwohl verfolgt und den Behörden bekannt - einen Auslandsreisepass erhalten habe, hat die Beschwerdeführerin diesen vermeintlichen Widerspruch überzeugend aufgelöst, indem sie schilderte, dass sie bewusst - um weiteren Verfolgungshandlungen zu entgehen bzw. von den Behörden nicht erkannt zu werden - nicht persönlich die zuständigen Behörden aufgesucht habe, sondern vielmehr Verwandte die Pässe gegen Entgelt organisierten. Auch aus dem Umstand, dass die russischen Sicherheitskräfte der Beschwerdeführerin nur drohten, sie festzunehmen, sie aber in der Vergangenheit nicht festgenommen hatten, lässt sich pro futuro nichts gewinnen. Bedenkt man die Verluste an Angehörigen ihrer Familie, so können die Befürchtungen der Beschwerdeführerin, die Maßnahmen gegen ihre Familienmitglieder würden auch auf sie überschlagen, nicht als spekulativ abgetan werden. Was die Würdigung der behaupteten Verfolgung ihrer Angehörigen anbelangt, ist auch auf den Bescheid des Bundesasylamtes vom 24.8.2004, Zl. 03 22.329-BAT, zu verweisen, mit welchem dem Bruder der Beschwerdeführerin aufgrund seines Fluchtvorbringens Asyl gewährt wurde.

 

3. Rechtlich folgt daraus:

 

3.1. Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BGBl. I 4/2008; im Folgenden: AsylGHG) tritt dieses Bundesgesetz mit 1. Juli 2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I 100/2005, außer Kraft.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind - soweit sich aus dem B-VG, dem AsylG und dem VwGG nicht anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 75 Abs. 7 Z 2 AsylG sind am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, vom zuständigen Senat des Asylgerichtshofes weiterzuführen.

 

Gemäß § 73 Abs. 1 AsylG ist das AsylG 2005 am 1.1.2006 in Kraft getreten; es ist gemäß § 75 Abs. 1 AsylG auf alle Verfahren anzuwenden, die am 31.12.2005 noch nicht anhängig waren. Dies ist im vorliegenden Verfahren der Fall, da die Beschwerdeführerin den Antrag auf internationalen Schutz am 6.11.2007 gestellt hat.

 

Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die Rechtsmittelinstanz, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

3.2. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit der Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder wegen Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG, die auf Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes [Statusrichtlinie] verweist). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

 

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

 

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

 

Wenn Asylsuchende in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen, bedürfen sie nicht des Schutzes durch Asyl (vgl. zB VwGH 24.3.1999, 98/01/0352 mwN; 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134). Damit ist nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 9.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614, 29.3.2001, 2000/20/0539).

 

3.3. Es ist der Beschwerdeführerin gelungen, (drohende) Verfolgung glaubhaft zu machen. Ihr Vater (als Unterstützer der Widerstandskämpfer) wurde mehrmals von russischen Sicherheitskräften festgenommen; weitere Familienangehörige, die zum Teil exponierte politische Positionen inne hatten, wurden ermordet, oder es ist deren Schicksal unbekannt. Damit zählt die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Angehörigeneigenschaft aber zu jenem Personenkreis, der gemäß den ergänzenden Feststellungen zu Folge hohen Risken ausgesetzt ist, einer Art. 3 EMRK-relevanten Verfolgung ausgesetzt zu sein. Nach den festgestellten Verfolgungshandlungen und massiven Übergriffen ist zu schließen, dass die Beschwerdeführerin in den Verdacht geraten ist, mit Widerstandskämpfern in Zusammenhang zu stehen.

 

Deshalb ist auch mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihr - sollte sie rückgeführt werden - die föderalen bzw. russischen Behörden besondere Aufmerksamkeit widmen.

 

Diese zu befürchtende Verfolgung durch föderale Kräfte knüpft an die (unterstellte) politische Gesinnung der Verfolgten an. Deshalb würde sie bei einer Rückkehr verfolgt werden. Sie ist somit aufgrund asylrelevanter Merkmale Opfer von Verfolgung und lebt in der begründeten Furcht, im Falle ihrer Rückkehr Verfolgung aus diesem Grund ausgesetzt zu sein.

 

Im vorliegenden Fall ist daher davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin aus Furcht vor ungerechtfertigten Eingriffen von erheblicher Intensität aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht in der Lage oder im Hinblick auf die diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes ihres Herkunftsstaates zu bedienen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative scheidet aufgrund der vom erkennenden Senat getroffenen bzw. übernommenen Feststellungen zur Situation im Herkunftsland der Beschwerdeführerin aus, da im vorliegenden Fall Hinweise auf eine (drohende) gezielte individuelle Verfolgung durch russische Staatsorgane bestehen.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
ethnische Verfolgung, Familienverband, gesamte Staatsgebiet, Haft, Hausdurchsuchung, Kriegsverbrechen, Misshandlung, politische Gesinnung, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
31.12.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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