TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/13 B3 304673-1/2008

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Veröffentlicht am 13.10.2008
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Spruch

B3 304.673-1/2008/13E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Karin WINTER über die Beschwerde von A.I., geboren am 00.00.1979, georgische Staatsangehörige, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10. August 2006, Zl 05 08.559-BAG, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 8. Mai 2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und A.I. gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idF BG BGBl. I Nr. 101/2003 (AsylG), Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg. cit. wird festgestellt, dass A.I. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang:

 

1. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin vom 13. Juni 2005 gemäß § 7 AsylG ab (Spruchteil I.), erklärte ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Georgien gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig (Spruchteil II.) und wies sie gemäß § 8 Abs. 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Georgien aus (Spruchteil III.). Es beurteilte das Vorbringen der Beschwerdeführerin als glaubwürdig, meinte jedoch, dass es an der asylrelevanten Intensität mangle. Weiters verneinte es, dass die Beschwerdeführerin subsidiär schutzberechtigt sei und begründete abschließend seine Ausweisungsentscheidung.

 

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, fristgerechte, nun als Beschwerde (vgl. dazu weiter unten) zu behandelnde (und daher in Folge so bezeichnete) Berufung. Am 22. März 2007 und 8. Mai 2008 führte die Rechtsmittelbehörde in der Sache der Beschwerdeführerin - gemäß § 39 Abs. 2 AVG mit den Verfahren ihres Ehemannes und ihrer Kinder verbundene - öffentliche mündliche Verhandlungen durch. In diesen wurden die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann einvernommen. Weiters wurden der Bericht des (dt.) Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien vom 24. April 2006, der Länderabriss "Georgien" des Bundesasylamtes vom 16. März 2006, die ACCORD Anfragebeantwortung vom 21. September 2005 "Georgien:

Situation der Angehörigen der Volksgruppe der Jeziden", der IHF Bericht aus dem Jahre 2005 "Human Rights in the OSCE Regions:

Europe, Central Asia and North America", der Bericht von Human Rights Watch vom Jänner 2006 "Georgia Country Summery", der Bericht des U.S. State Department vom 8. März 2006 "Georgia Country Report on Human Rights Practices 2005", die ACCORD Anfragebeantwortung vom 4. April 2006 "1) Lage von Jesiden; 2) Behandelbarkeit von AIDS und konkreter Zugang zu medizinischer Versorgung, Kosten" und der FIDH Bericht vom 15. Oktober 2007 "Human Rights violations in Georgia", verlesen und erörtert.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Zur hier entscheidungsrelevanten Situation in Georgien:

 

1.1.1. Allgemeines:

 

Georgien ist ein Staat, dessen politische und rechtliche Ausrichtung europäischen Werten folgt. Interne Konflikte, äußere Einflussnahme, Korruption und eine allgemein schwierige wirtschaftliche Ausgangssituation haben jedoch - trotz der "Rosenrevolution" im Herbst 2003 - verhindert, dass das Land seit seiner Unabhängigkeit sein eigentliches Potential bei der Demokratisierung voll entfalten konnte.

 

Die ersten Maßnahmen der neuen Regierung bewegen sich noch immer mehr im fiskalischen und ordnungspolitischen Bereich denn im gesellschaftlich-sozialen Umfeld. Die Schaffung eines ¿starken Staates' im Gegensatz zu der allgemeinen politischen Stagnation der vergangenen Jahre reflektiert in etwa die Philosophie der aktuellen Regierung. Daran scheint sich auch die teils drastische, nicht vorwurfsfreie Reform der Justiz zu orientieren, deren Instanzenzüge neu gestaltet und deren erfahrene Richterschaft größtenteils durch jüngere Juristen ersetzt werden.

 

Unverändert notwendige Verbesserungen bei der Durchsetzung und Wahrung von Menschenrechten sind auch 2005 nicht erfolgt. Vielmehr ist wie schon 2004 die Vorgehensweise der Regierung bei der oft selektiven Verhaftung verdächtiger Straftäter, Misshandlungen im Gewahrsam, und der zügellosen Beantragung und Verhängung von Untersuchungshaft als Verschlechterung der Lage zu beurteilen.

 

Weiterhin besteht keine gesetzliche Grundlage für die Registrierung und Arbeit nichtorthodoxer Glaubensgemeinschaften. Die massiven Übergriffe orthodoxer Eiferer, die noch 2003 zu beobachten waren, fanden 2004 nicht, 2005 nur sehr vereinzelt statt. Einzelne Stellungnahmen des georgisch-orthodoxen Patriarchats zur Arbeit nicht-orthodoxer Gemeinschaften gaben Anlass zur Besorgnis.

 

...

 

Die Unabhängigkeit der Judikative ist auch im postrevolutionären Georgien nicht gewährleistet. Vielmehr führte die seit Mitte 2005 forcierte Reform der Instanzenzüge und die Entlassung von Richtern dazu, dass durch Personalmangel der Zugang zur Gerichtsbarkeit nur eingeschränkt gewährleistet ist. Nach Ansicht vieler Beobachter steht hinter der intransparenten, selektiven und teils offenbar unrechtmäßigen Entlassung von Richtern der Versuch, unabhängige Köpfe der Justiz, gerade auch in den obersten Instanzen, durch junge, beeinflussbare Juristen aus der Revolutionsgeneration zu ersetzen.

 

...

 

Die Entlassung bisheriger Richter ist überschattet von öffentlichen Vorwürfen, die Regierung versuche die Judikative zu vereinnahmen. Einige Richter haben gegen ihre Entlassung geklagt.

 

Die seit mehreren Jahren andauernde Strafrechtsreform erfordert weitere Änderungen, die inzwischen mit internationalen Organisationen beraten werden. Ein neues Strafgesetzbuch und ein neues Strafvollzugsgesetz sind seit einigen Jahren in Kraft, die in Teilen kritisierte reformierte Strafprozessordnung wird derzeit erneut überarbeitet. Es dürfte jedoch noch einige Zeit dauern, bis die georgische Strafrechtspraxis modernen rechtsstaatlichen Standards entspricht.

 

...

 

Die ersten Reformen im Sicherheitsbereich waren kurz nach der Revolution erfolgt. Für die Öffentlichkeit sicht- und spürbar wurden im Jahre 2004 3.000 als korrupt geltende Verkehrspolizisten entlassen. Diese Einheit wurde insgesamt aufgelöst und durch eine neue, bürgernahe und besser besoldete ¿Patrol Police' ersetzt. 2004 kam es weiterhin zu spektakulären Verhaftungen vor laufenden Kameras, bei Nacht und häufig ohne Haftbefehl. Für 2005 liegen dem Auswärtigen Amt keine Erkenntnisse vor. Diese Verhaftungen richteten sich regelmäßig gegen frühere Bedienstete der Regierung oder vermutete Profiteure der Ära Schewardnadse. Insgesamt sind Ermittlungstechniken und Polizeiarbeit noch nicht auf europäischen Standard gebracht. Weitergehende Reformen, gerade auch hinsichtlich der kriminaltechnischen und Ermittlungsarbeit, sind 2005 nicht erkennbar gewesen.

 

...

 

Angesichts der allgemein noch mangelnden Transparenz und Rechtsstaatlichkeit der Strafverfolgung kann nicht ausgeschlossen werden, dass gelegentlich Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten im Strafverfahren oder im Strafvollzug schlechter behandelt werden als orthodoxe ethnische Georgier.

 

Bis ca. Mitte 2005 kam es zu Verhaftungen von Personen aus dem politischen und wirtschaftlichen Umfeld der alten Regierung, denen Korruption, Steuervergehen oder Amtsmissbrauch zur Last gelegt wurde, ohne dass es in jedem Einzelfall zu einem Gerichtsverfahren gekommen wäre. Vielmehr konnten sich die Beschuldigten durch ¿Rückerstattung' veruntreuter Gelder freikaufen, wobei die Höhe der Beträge frei geschätzt bzw. ausgehandelt wurde. Diese Aktionen fanden häufig unter intensiver Medienbeteiligung, aber ohne erkennbare gesetzliche Grundlage statt. Dieses Vorgehen wurde weitgehend eingestellt, auch die extrabudgetären Fonds, in die die damit erwirtschafteten Gelder flossen, sollen aufgelöst worden sein. Dennoch war 2005 immer wieder der Eindruck entstanden, dass die Regierung oder einzelne Behörden auf der Grundlage subjektiver Entscheidungen Druck ausüben. So wurden einzelne Geschäftsleute von der Finanzpolizei (einer Steuerfahndung mit großer Machtfülle) heimgesucht, ihre Geschäfte tage- oder wochenlang geschlossen und überprüft. Oft soll es seitens der Geschäftsleute zu finanziellen Zugeständnissen außerhalb einer nachgewiesenen Steuerschuld gekommen sein. Hier, wie auch bei Verhaftungen wird offensichtlich selektiv verfahren.

 

Quelle: Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Georgien vom 24. April 2006, S. 4, 6f und 10 (Beilage 2 zur VS)

 

1.1.2. Zur Situation der Angehörigen der Volksgruppe der Jeziden in Georgien:

 

In einem Reisebericht der International Federation for Human Rights (FIDH) vom April 2005 (die Reise fand im Juli 2004 statt) wird unter Berufung auf die georgische Volkszählung für 2002 angegeben, dass die Zahl der Kurden 2.514 und jene der Jesiden 18.329 betrage (FIDH, April 2005, S.10). Laut FIDH würden lokale Organisationen jedoch von rund 6.000 Jesiden ausgehen, die weiterhin in Georgien leben würden. Der Reisebericht beschreibt die Lage der Jesiden in Georgien im Rahmen einer Fallstudie relativ detailliert (S.10-12). So wird von ethnischer sowie sozio-ökonomischer Stigmatisierung berichtet, sowie von generellem Misstrauen gegen manche Gruppen, die als am unteren Ende der Gesellschaft befindlich angesehen werden. Dass das georgische Wort für Dieb (kurti) das gleiche sei wie das für Kurde, verdeutliche dies. Viele würden schlechte Berufe innehaben, wie Straßenkehrer etc. Es gebe nur wenige mit hohen Qualifikationen. Gesellschaftlicher Aufstieg sei jedoch nicht gänzlich unmöglich, es gebe auch manche gut integrierte Kurden in wichtigen Positionen (FIDH, April 2005, S.10).

 

Behörden, Polizei und Medien würden laut FIDH ebenfalls die Jesiden bzw. Kurden mit Geringschätzung und den Vorurteilen behandeln.

 

Weiters sei kein Kurde im März 2004 ins Parlament gewählt worden. Jesiden hätten gegenüber FIDH berichtet, dass sie ein leichtes Ziel für Gewalttaten durch Sicherheitskräfte seien, da es in der Polizeihierarchie keine Jesiden gebe. Assyrer hingegen hätten berichtet, sie seien weniger von willkürlichen Handlungen durch die Polizei betroffen, da ihnen ein assyrischer General im Innenministerium Schutz gebe (FIDH, April 2005, S.11). Kurden würden hingegen manchmal Schutz durch hochrangige Kriminelle finden (FIDH, April 2005, S.17, Fußnote 32).

 

FIDH gibt als einen Grund für die Schwächung der kurdischen Kultur in Georgien die fehlende kollektive Identität an: ein Teil der Gemeinschaft fühle sich als Jesiden, ein Teil als Kurden, ein anderer Teil wiederum als Jesidische Kurden (FIDH, April 2005, S.12; auch CA-C, Februar 2005, S.136). Im Jahr 2002 seien aus Geldmangel die aus Sowjet-Zeiten bestehenden Unterrichtsklassen in Kurmanji (der Sprache der Jesiden) geschlossen worden. Mit der Privatisierung 2002 habe ein landesweiter Radiosender das Senden von Sendungen in der jesidischen Sprache eingestellt (FIDH, April 2005, S.12).

 

Staat und Lokalbehörden würden den Jesiden weiterhin den Bau einer Andachtsstätte verwehren. Manchmal werde Jesiden die Möglichkeit, ihren Namen in die kurdische Version zu ändern, von Behörden verwehrt (FIDH, April 2005, S.12).

 

Central Asia and the Caucasus (CA-C) bietet in einem Artikel vom Februar 2005 detaillierte Hintergrundinformationen über die Jesidischen Kurden in Georgien (siehe CA-C, Februar 2005, S.133-139). Auch in diesem Artikel wird erwähnt, dass (neben finanziellen Problemen) der Hauptgrund dafür, dass es keinen jesidischen Tempel gebe, die Vereinbarung des Staates mit der Christlich Orthodoxen Kirche sei, derzufolge letztere dem Bau von Andachtsstätten anderer Konfessionen zustimmen müsse - was sie im Fall der Jesiden nicht täte (CA-C, Februar 2005, S.135).

 

CA-C berichtet weiters u.a. von der Organisation Kurdish Information-Cultural Center, das der georgische Arm der Kurdish Liberation Front sei. 1999 hätten georgische Scherheitskräfte deren Büros gestürmt und 13 Personen festgenommen. Einige davon seien (als armenische Staatsbürger) aufgefordert worden, Georgien zu verlassen, einige (türkische Staatsbürger) seien in die Türkei abgeschoben worden, wobei ein Gericht bei manchen von ihnen unmittelbar nach deren Abschiebung die Unschuld festgestellt habe. Im Jänner 2004 hätten Vertreter des Centers an der Angelobung Saakaschwilis teilgenommen, mit dem Slogan "Die Kurden Georgiens unterstützen Michail Saakaschwili" (Übersetzung ACCORD) (CA-C, Februar 2005, S.136-137). Laut CA-C habe es in der Geschichte des unabhängigen Georgien bisher nur eine/n kurdische/n VertreterIn im Parlament gegeben (Mame Raiki, 1995-1999, für Schewardnadses Citizen's Union of Georgia).

 

Quelle: ACCORD Anfragebeantwortung "Georgien: Situation der Angehörigen der Volksgruppe der Jeziden" vom 8. August 2005, S 2f.

 

1.1.3. Allgemein zu Religionsfreiheit:

 

Die UN-Sonderberichterstatterin zur Religions- und Glaubensfreiheit der UN Commission for Human Rights (UNCHR) berichtet im März 2005 von positiven Entwicklungen im Bereich der Religionsfreiheit. Die Berichterstatterin weist jedoch darauf hin, dass noch immer eine Antwort der Regierung auf ihre Kommunikation vom November 2004 ausständig sei, sie habe Sorge, dass berichtete Fälle von religiöser Intoleranz weiterhin vorkämen. Deshalb wünsche sie Information seitens der georgischen Regierung über Maßnahmen, die bezüglich der Empfehlungen des UN-Sonderberichterstatters getroffen worden seien (UNCHR, 15. März 2005).

 

Die US Commission on International Religious Freedom (USCIRF) berichtet im Jahresbericht 2005, dass die Anzahl berichteter gewaltsamer Übergriffe auf religiöse Minderheiten im Jahr 2004 merklich abgenommen habe. Im Jänner 2005 seien zwei der Anführer dieser Gewalt zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Weiters hätten georgische Behörden zum ersten Mal der Watchtower Society der Zeugen Jehovas das legale arbeiten im Land genehmigt. USCIRF berichtet, dass trotz weiterhin ungelöster Probleme von Religionsfreiheit (z.B. dass ausschließlich die Georgisch Orthodoxe Kirche formellen legalen Status habe), eine deutliche Verbesserung in der Religionsfreiheit im vergangenen Jahr (2004) dazu geführt habe, dass USCIRF Georgien von ihrer Watchlist genommen habe (USCIRF, Mai 2005).

 

Die International Helsinki Federation for Human Rights (IHF) berichtet im Jahresbericht 2005 von einer Abnahme von Fällen von Übergriffen auf religiöse Minderheiten nach fünf Jahren weitverbreiteter Gewalt. Der offizielle Status religiöser Minderheiten sei weiterhin problematisch, es existiere kein Gesetz, welches speziell die Rechte von Minderheitenreligionen regelt (IHF, 19. Mai 2005).

 

Freedom House (FH) berichtet im August 2005 zur Religionsfreiheit in Georgien, dass diese für die Georgisch-Orthodoxe Mehrheitsbevölkerung, sowie für manche, als für Georgien traditionell angesehene religiöse Minderheiten (wie Muslime und Juden), respektiert werde. Allerdings würden Mitglieder nicht-traditioneller religiöser Minderheiten (wie Baptisten, Pentekostalische und Zeugen Jehovas) Schikanierung und Einschüchterung durch Sicherheitskräfte und bestimmte Extremisten der Georgisch Orthodoxen Kirche gegenüberstehen (FH, August 2005).

 

Human Rights Watch (HRW) berichtet im Juni 2005, dass die rechtliche Lage von Minderheitsglaubensgemeinschaften derzeit ungewiss sei. In der Vergangenheit seien manche Minderheiten in der Lage gewesen, sich als Nicht-Regierungsorganisation (NGO) zu registrieren, manche nicht. Im April 2005 habe das Parlament Überlegungen begonnen, das Vereinsrecht zu ändern, damit es religiöse Gruppen beinhalte. Auch HRW berichtet, dass Angehörige nicht-traditioneller religiöser Minderheiten Diskriminierungen und Intoleranz ausgesetzt seien (HRW, 16. Juni 2005).

 

Quelle: ACCORD Anfragebeantwortung "Georgien: Situation der Angehörigen der Volksgruppe der Jeziden" vom 8. August 2005, S 3f.

 

1.2. Zur Person und den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

 

Die Beschwerdeführerin trägt den im Spruch angeführten Namen, ist eine georgische Staatsbürgerin, gehört der Volksgruppe der Jeziden an. Sie wurde am 00.00.1979 in Tiflis geboren, wo sie bis zu ihrer Ausreise lebte. Sie ist die Ehefrau von S.G. (GZ 304.679) und die Mutter von S.N. (GZ 304.676) und S.A. (GZ 304.674).

 

Die Beschwerdeführerin betrieb mit ihren Familienangehörigen einen Verkaufsstand am Markt in Tiflis. Sie mussten den dortigen Marktpolizisten Schutzgeld bezahlen. Als ihr Vater am 30. April 2004 eine Ladung aus Aserbaidschan erhielt und diese bei seinem Verkaufsstand ablud, kamen Marktpolizisten und verlangten mehr Schutzgeld als üblich, weil sie der jezidischen Volksgruppe angehörten. Daraufhin entbrannte ein Streit zwischen den Marktpolizisten und dem Vater der Beschwerdeführerin. Als die Marktpolizisten mit Gewehrkolben auf den Bruder der Beschwerdeführerin einschlugen, warf sich die Mutter der Beschwerdeführerin schützend über ihren Sohn und wurde dabei von Gewehrkolben dermaßen geschlagen, dass sie bewusstlos wurde und nach einer Woche im Krankenhaus verstarb. Die Beschwerdeführerin erstattete auf der Polizeistation von I. Anzeige über den Vorfall. Als sie nach der vierzigtägigen Trauerzeit über ihre Mutter wieder auf dem Markt zu arbeiten begann und merkte, dass dieselben Marktpolizisten, die ihre Familienangehörigen geschlagen hatten, noch immer am Markt tätig waren, wandte sie sich erneut an die Polizeibehörde von I. und zeigte den Vorfall vom 30. April 2004 nochmals an. Am Abend kamen Polizisten in die Wohnung der Beschwerdeführerin, schlugen und bedrohten sie und verlangten, dass sie ihre Anzeige zurückziehe. Die Beschwerdeführerin wandte sich daraufhin an den Polizeichef von I.. In dessen Büro wurde sie wegen ihrer jezidischen Volksgruppenzugehörigkeit beschimpft und bedroht; ihre Anzeigen wurden vor ihr zerrissen. Am Abend kamen erneut Sicherheitsorgane in die Wohnung der Beschwerdeführerin, drei von ihnen richteten Pistolen an die Köpfe des Ehemannes, Vaters und Bruders der Beschwerdeführerin, zwei von ihnen warfen die Beschwerdeführerin auf das Bett und versuchten sie vor den Augen ihrer Familienangehörigen zu vergewaltigen. Als sich die Beschwerdeführerin daraufhin bereit erklärte, ihre Anzeige zurückzuziehen, ließen sie von ihr ab und verließen die Wohnung der Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin zog daraufhin mit ihrer Familie in einen anderen Bezirk von Tiflis und konnte dort zunächst aufgrund ihrer Ersparnisse versteckt leben. Als sie und ihre Familienangehörigen jedoch nach zwei Monaten wieder von Sicherheitsorganen aufgesucht und aufgrund ihrer jezidischen Volksgruppenzugehörigkeit massiv bedroht wurden, flüchteten sie schließlich endgültig aus Georgien.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich aus folgender Beweiswürdigung:

 

2.1. Die Feststellungen zur Situation in Georgien stützen sich auf die zitierten Quellen, die in den Verhandlungen erörtert wurden. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, denen die Verfahrensparteien nicht entgegengetreten sind, besteht für den Asylgerichtshof kein Grund, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln. Überdies stimmen sie mit den Inhalten der anderen, in den Verhandlungen erörterten Berichten überein.

 

2.2.1. Die Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin ergeben sich aus ihrem glaubwürdigen Vorbringen, ihrem vorgelegten georgischen Reisepass (AS 19f) und den Akten ihrer Familienangehörigen.

 

2.2.2. Die Feststellungen zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin basieren auf folgenden Überlegungen: Bei Einbeziehung des persönlichen Eindrucks von der Beschwerdeführerin und ihres Ehemannes, der im Rahmen der Verhandlungen gewonnen werden konnte, ist deren Angaben zu den Geschehnissen in Georgien Glaubwürdigkeit zuzubilligen; die diesbezüglichen Angaben im erst- und zweitinstanzlichen Verfahren erweisen sich als detailreich, frei von Widersprüchen und stellen sich - vor dem Hintergrund georgischer Verhältnisse - auch als plausibel dar.

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1.1. Gemäß § 75 Abs. 1 Asylgesetz 2005 sind "[A]lle am 31. Dezember 2005 anhängigen Verfahren [...] nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG 1997 gilt."

 

Gemäß § 44 Abs. 1 AsylG 1997 idF der AsylG-Novelle 2003 sind Verfahren über Asylanträge, die bis zum 30. April 2004 gestellt worden sind, nach den Bestimmungen des AsylG idF BG BGBl. I 126/2002 zu führen.

 

3.1.2. Die Beschwerdeführerin hat ihren Antrag nach dem 1. Mai 2004 gestellt; das Verfahren war am 31. Dezember 2005 anhängig; das Verfahren ist daher nach dem AsylG idF der AsylG-Novelle 2003 zu führen.

 

3.2. Gemäß § 23 Asylgerichtshofgesetz (Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz; Art. 1 BG BGBl. I 4/2008) sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Die Zuständigkeit des Asylgerichtshofes stützt sich auf § 38 AsylG 1997. Diese Bestimmung spricht zwar vom "unabhängigen Bundesasylsenat" und ist durch das AsylGH-EinrichtungsG nicht geändert worden; auch die Übergangsbestimmungen des AsylG 2005 ergeben insoweit nichts. Da jedoch gemäß Art. 151 Abs. 39 Z 1 B-VG der unabhängige Bundesasylsenat am 1. Juli 2008 zum Asylgerichtshof geworden ist und dieser gemäß Art. 151 Abs. 39 Z 4 B-VG die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängigen Verfahren weiterzuführen hat, ist davon auszugehen, dass sich § 38 AsylG 1997 nunmehr auf den Asylgerichtshof bezieht. Ebenso ist davon auszugehen, dass sich jene Bestimmungen des AsylG 1997, die von "Berufungen" sprechen, nunmehr auf Beschwerden beziehen (vgl. dazu AsylGH 12.8.2008, C5 251.212-0/2008/11E).

 

3.3.1. Gemäß § 75 Abs. 7 Z 1 Asylgesetz 2005 idF Art. 2 BG BGBl. I 4/2008 sind Verfahren, die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängig sind, vom Asylgerichtshof weiterzuführen; Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

3.3.2. Da im vorliegenden Verfahren bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor der nunmehr zuständigen Richterin stattgefunden hat, ist von einer Einzelrichterzuständigkeit auszugehen.

 

3.4.1. Gemäß § 23 AsylG (bzw. § 23 Abs. 1 AsylG idF der AsylGNov. 2003) ist auf Verfahren nach dem AsylG, soweit nicht anderes bestimmt ist, das AVG anzuwenden. Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die Rechtsmittelinstanz, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

 

3.4.2. Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.2.1997, 95/01/0454; 9.4.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.4.1996, 95/20/0239; vgl. auch VwGH 16.2.2000, 99/01/0397), sondern erfordert eine Prognose. Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. dazu VwGH 9.3.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 9.9.1993, 93/01/0284; 15.3.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.6.1994, 94/19/0183; 18.2.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 9.3.1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233). Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaates, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, so liegt eine inländische Fluchtalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (vgl. VwGH 24.3.1999, 98/01/0352). Das einer "inländischen Fluchtalternative" innewohnende Zumutbarkeitskalkül setzt voraus, dass der Asylwerber im in Frage kommenden Gebiet nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (VwGH 8.9.1999, 98/01/0614, 29.3.2001, 2000/20/0539).

 

3.4.3. Vor dem Hintergrund der getroffenen Feststellungen zur Situation in Georgien besteht für die Beschwerdeführerin angesichts des zu ihren Asylgründen festgestellten Sachverhalts eine objektiv nachvollziehbare Verfolgungsgefahr:

 

Bei einer Rückkehr nach Georgien muss die Beschwerdeführerin mit weiteren Übergriffen von denjenigen (Privat-)Personen rechnen, die sie bereits in der Vergangenheit massiv bedroht und attackiert haben. Diese Verfolgungsgefahr ist asylrelevant, weil sie ihre Ursache in der jezidischen Volksgruppenzugehörigkeit der Beschwerdeführerin hat. Ob diese Übergriffe Dritten oder staatlichen Behörden zuzurechnen sind, ist nicht von entscheidender Bedeutung, weil es für einen Verfolgten keinen Unterschied macht, ob er aufgrund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohl begründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256; 14.5.2002, 2001/01/0140). Aufgrund der zur Lage in Georgien getroffenen Länderfeststellungen kann in der Praxis nicht von einem ausreichend effektiven staatlichen Schutz gegen (ethnisch motivierte) Übergriffe bzw. Polizeiwillkür ausgegangen werden. Das Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative wird schon deswegen zu verneinen sein, weil die Verfolgungsgefahr von Sicherheitskräften selbst - wenngleich in rechtswidriger Weise - ausgeht. Abgesehen davon verfügt die Beschwerdeführerin in Georgien weder über ein familiäres Netz noch über eine Existenzgrundlage.

 

3.3.4. Zusammenfassend ergibt sich, dass sich die Beschwerdeführerin aus wohlbegründeter Furcht, wegen ihrer jezidischen Abstammung verfolgt zu werden, außerhalb der Republik Georgiens aufhält und dass auch keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- und Ausschlussgründe vorliegt. Gemäß § 12 AsylG war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Schlagworte
gesamte Staatsgebiet, private Verfolgung, Schutzunfähigkeit, Verfolgungsgefahr, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
03.11.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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