TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/16 B9 257676-6/2008

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Veröffentlicht am 16.10.2008
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Spruch

B9 257.676-6/2008/18E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Ursula SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerde der S.I., geb. 00.00.1986, StA. Russische Förderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 07.06.2006, FZ. 04 25.800-BAI, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.05.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Berufung von S.I. vom 20.06.2006 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 07.06.2006, Zahl: 04 25.800-BAI, wird stattgegeben und S.I. gemäß § 7 AsylG Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg.cit. wird festgestellt, dass S.I. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

Entscheidungsgründe:

 

Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger der Russischen Föderation aus der Teilrepublik Dagestan, gelangte am 24.12.2004 nach Österreich und stellte am 25.12.2004 einen Asylantrag.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 20.01.2005, Zl. 04 25.800-BAI wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers, ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Abs 1 Asylgesetz 1997 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Art. 13 iVm Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin II-VO Ungarn zuständig sei. Gemäß § 5a Abs. 1 iVm § 5a Abs. 4 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ungarn ausgewiesen.

 

Gegen diesen Bescheid, dem Beschwerdeführer am 26.01.2005 zugestellt, erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Berufung und brachte u.a. vor, dass er traumatisiert sei.

 

Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 02.02.2006, GZ: 257.676/0-XI/34/05, wurde der Berufung gemäß § 32a Abs. 1 AsylG Folge gegeben, der Asylantrag zugelassen, der bekämpfte Bescheid behoben und der Antrag zur Durchführung des materiellen Asylverfahrens an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

 

Am 04.01.2005 sowie am 05.05.2006 wurde der Beschwerdeführer zunächst zum Fluchtweg und anschließend wie folgt zu ihren

Fluchtgründen niederschriftlich einvernommen:

 

Sie gab dabei auszugsweise Folgendes zu ihren Fluchtgründen an:

 

Einvernahme am 04.01.2005:

 

"...

 

Frage: Warum haben Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen?

 

Antwort: Wegen der Wahhabiten, wir haben Probleme mit ihnen bekommen.

 

Frage: Was für eine Art von Problemen?

 

Antwort: Lebensgefahr.

 

Frage: Wie wurden Sie bedroht?

 

Antwort: Das kann man nicht kurz erzählen (Der AW lacht). Sie haben meinen Vater umgebracht und wollten mit uns weiter abrechnen. Es war die Rache.

 

Frage: Wann wurden Sie letztmals bedroht?

 

Antwort: Am 05.07.2004.

 

Frage: Was war das fluchtauslösende Ereignis?

 

Antwort: Sie wollten meine Schwester kidnappen und haben das Haus angezündet.

 

Frage: Hatten Sie in Ihrem Herkunftsstaat Probleme mit Privatpersonen?

 

Antwort: Nein.

 

Frage: Konnten Sie in Ihrem Herkunftsstaat Ihre Religion frei ausüben?

 

Antwort: Ja.

 

Frage: Hatten Sie in Ihrem Herkunftsstaat je Probleme mit der Polizei, dem Militär oder den staatlichen Organen?

 

Antwort: Nein.

 

Frage: Hatten Sie in Ihrem Herkunftsstaat wegen Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit Probleme?

 

Antwort: Nein.

 

Frage: Sind oder waren Sie jemals politisch tätig?

 

Antwort: Nein.

 

Frage: Haben oder hatten Sie sonstige Probleme auf Grund eines Naheverhältnisses zu einer Organisation?

 

Antwort: Nein.

 

Frage: Hatten Sie in Ihrem Herkunftsstaat auf Grund Verfolgung durch Dritte Probleme, bzw. hatten Sie sonst noch mit Leuten Probleme, außer mit dem bereits gesagten?

 

Antwort: Nein.

 

Frage: Bestehen gegen Sie aktuelle Fahndungsmaßnahmen wie Aufenthaltsermittlung, Haftbefehl, Strafanzeige, Steckbriefe oder ähnliches?

 

Antwort: Nein.

 

Frage: Was würde mit Ihnen passieren, wenn Sie jetzt in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

 

Antwort: Ich gehe nicht zurück.

 

Frage: Gibt es konkrete Hinweise, dass Ihnen bei der Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohen? Hätten Sie im Falle Ihrer Rückkehr in Ihren Herkunftsstaat mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen?

 

Antwort: Ja, das ist möglich.

 

Frage: Gibt es Beweismittel für Ihr Vorbringen, können Sie uns jemanden nennen, der uns Ihre Angaben bestätigen kann?

 

Antwort: Mutter wird alles bringen was sie kann.

 

Frage: Wäre es für Sie möglich gewesen, in einem anderen Teil Ihres Herkunftsstaates Schutz vor Verfolgung zu erlangen?

 

Antwort: Ich glaube nicht.

 

...

 

Einvernahme am 05.05.2006:

 

" ...

 

Zur Person:

 

Ich bin in M., Dagistan, geboren und dort auch bei den Eltern aufgewachsen. Ich besuchte dort die Grundschule und lernte dann den Beruf des Automechanikers. Diesen Beruf habe ich aber nicht ausgeübt. Ich bin Moslem, bin ledig und beherrsche Russisch und Awarisch in Wort und Schrift, weiters kann ich ein bisschen Deutsch und Englisch sprechen und schreiben. Ich habe eine Schwester.

 

Mein Vater hatte ein eigenes Unternehmen, in dem er Fisch räucherte und verkaufte. Meine Mutter arbeitete zuerst als Krankenschwester und später arbeitete sie bei meinem Vater. Die Eltern hatten zwei Häuser, eines am Meer und eines in der Stadt. Mein Vater konnte mit der Firma die Familie gut versorgen. Wir hatten keine finanziellen Probleme. Ich wuchs in geordneten Verhältnissen auf.

 

Angaben zum Fluchtweg:

 

F: Wann haben Sie sich entschlossen die Heimat zu verlassen?

 

A: Im August 2004 hat sich meine Mutter entschlossen, die Heimat zu verlassen. Sie sagte zu mir, dass wir jetzt die Heimat verlassen und wir flüchteten. Ich selber habe keinen derartigen Entschluss gefasst.

 

F: Warum hat sich Ihre Mutter zum Verlassen der Heimat im August 2004 entschlossen?

 

A: Ich weiß es nicht, aber eine Mutter würde nie etwas Schlechtes für die Kinder wollen.

 

F: Welche konkreten Probleme gab es, die Sie betrafen und die Ursache für die Flucht aus der Heimat waren?

 

A: Mein Vater hatte Probleme und schlussendlich war die ganze Familie dadurch gefährdet.

 

F: Welche Probleme waren dies?

 

A: Soviel kann ich auch nicht erzählen, was die Probleme meines Vaters betreffen. Ich kam am 18.05.2004 nach Hause und dort stellte ich dann fest, dass unser Haus durchsucht worden war. Meine Mutter war gerade dabei, die Unordnung, die durch die untersuchenden Polizeibeamte entstand, wieder in Ordnung zu bringen. Ich fragte die Mutter, was los sei und sie antwortete, dass der Vater von der Polizei abgeholt worden war und sie derzeit nicht wisse, warum das geschehen ist.

 

Am 19.05.2004 ging ich zum Training und als ich abends mit meinem Freund I. auf dem Heimweg war, kamen drei mir unbekannte Männer in Zivil auf uns zu und riefen den Namen I.. Wir beide drehten uns um und die Männer gingen ohne Vorwarnung auf uns los. Es kam zu einer tätlichen Auseinandersetzung. Ich erlitt dabei einen Nasenbeinbruch und mein linkes Auge wurde verletzt. Als wir am Boden lagen, sagten die Männer, dass mein Vater Probleme habe und diese Probleme auch die restliche Familie betreffen werden. Welche Probleme dies sind haben sie nicht gesagt. Daraufhin liefen die Männer weg. Ich ging dann nach Hause und von dort in das Krankenhaus, wo ich unter anderem am Auge behandelt wurde. Ich musste drei Wochen im Krankenhaus bleiben.

 

Am 20.05.2004 kam meine Mutter zu mir in das Krankenhaus und teilte mir mit, dass mein Vater nach der Entlassung aus dem Polizeigewahrsam erschossen wurde.

 

Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus ging ich zu meiner Tante, wo auch meine Mutter und meine Schwester wohnten. Nach einiger Zeit kehrten wir in unser Haus in der Stadt zurück.

 

Ich glaube es war im Juli 2004, als ein Brandsatz in unser Haus geworfen wurde. Es gelang uns aber, den Brandsatz doch noch zu löschen.

 

Am gleichen Tag wurde auch versucht, meine Schwester zu entführen. Dies war noch vor dem Brandanschlag. Wir drei gingen entlang einer Strasse. Ein Auto ohne Kennzeichen hielt neben uns und zwei mir unbekannte Männer in Zivil stiegen aus dem Auto aus und versuchten meine Schwester in das Auto zu zerren. Durch Passanten und Nachbarn konnte aber eine Entführung verhindert werden. Ich glaube einer der Männer war bei der Tätlichkeit gegen mich am 19.05.2004 dabei.

 

Wir suchten dann wieder Unterschlupf bei meiner Tante und von dort flüchteten wir im August 2004.

 

Das waren die ganzen Probleme über die ich etwas sagen kann.

 

F: Wann, von wo aus und womit haben Sie die Heimat verlassen?

 

A: Ungefähr um den 15.08.2004 fuhren wir mit dem Zug von M. in Richtung Ukraine. Vor der Grenze stiegen wir aus. Von dort flüchteten wir schlepperunterstützt über unbekannte Fahrtstrecke in Richtung Österreich. In Ungarn ließ uns der Schlepper aussteigen. Wir waren der Meinung, dass wir bereits in Österreich sind. Wir suchten dort um Asyl an und nachdem der Bescheid negativ war, flüchteten wir zu Fuß nach Österreich.

 

F: Wurden Sie irgendwo einer Passkontrolle unterzogen?

 

A: Nein.

 

F: Haben Sie die Russische Föderation legal verlassen?

 

A: Nein.

 

F: Haben Sie zum Reiseweg noch etwas zu sagen?

 

A: Nein.

 

...

 

Angaben zum Fluchtgrund:

 

F: Sind Sie in Ihrer Heimat oder in einem anderen Land vorbestraft?

 

A: Nein.

 

F: Werden Sie in der Heimat von der Polizei, einer Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht?

 

A: Nein.

 

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat jemals von der Polizei angehalten, festgenommen oder verhaftet?

 

A: Nein.

 

F: Hatten Sie in Ihrer Heimat Probleme mit den Behörden?

 

A: Nein.

 

F: Waren Sie in Ihrer Heimat jemals Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei?

 

A: Nein.

 

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Rasse verfolgt?

 

A: Nein.

 

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Religion verfolgt?

 

A: Nein.

 

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer politischen Gesinnung verfolgt?

 

A: Nein.

 

F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Nationalität oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt?

 

A: Nein.

 

F: Was war der konkrete Grund, warum Sie Ihre Heimat verlassen haben?

 

A: Der konkrete Grund, warum ich die Heimat verlassen habe, war, dass wir in Gefahr waren. Es gab Versuche, uns zu töten

 

F. Wer versucht Sie zu töten?

 

A: Das weiß ich nicht, ich kann es nicht sagen.

 

F: Handelt es sich bei den eventuellen Tätern um Kriminelle oder sind diese Personen in staatlichen Organisationen wie Polizei oder Militär zu suchen?

 

A: Ich weiß es nicht.

 

F: Wissen Sie, wie und wo Ihr Vater ermordet wurde?

 

A: Mein Vater wurde in M. auf der Strasse mit einem Kopfschuss ermordet.

 

F: Wurde dieser Mord bei der Polizei angezeigt?

 

A: Ich weiß, dass meine Mutter diesbezüglich bei der Polizei war. Ob sie eine Anzeige erstattete, weiß ich nicht. Sie erzählte mir aber, dass die Polizeibeamten ihr mitteilten, den Fall zu untersuchen.

 

F: Haben Sie irgendwelche polizeilichen Erhebungen mitbekommen?

 

A: Nein, davon habe ich nichts mitgekriegt.

 

F. Haben Sie den tätlichen Angriff durch die drei unbekannten Männer bei der Polizei angezeigt?

 

A: Ich selber habe keine Anzeige bei der Polizei erstattet. Ob meine Mutter eine Anzeige erstattet hat, weiß ich nicht.

 

F: Warum haben Sie keine Anzeige erstattet?

 

A: Die Situation war zu diesem Zeitpunkt sehr instabil. Die Polizei hat sehr viel zu tun und ich glaube, dass sie wegen einer Rauferei nicht viel getan hätten.

 

F: Haben Sie die versuchte Entführung Ihrer Schwester bei der Polizei angezeigt?

 

A: Ich persönlich habe keine Anzeige erstattet.

 

F: Warum nicht?

 

A: Dadurch, dass ich bereits einmal wegen des tätlichen Angriffes im Krankenhaus war, wollte ich keine neue Gefährdung heraufbeschwören. Meine Mutter könnte eventuell eine Anzeige erstattet haben. Aber das weiß ich nicht.

 

F: Haben Sie die Brandstiftung bei der Polizei angezeigt?

 

A: Ich habe keine Anzeige erstattet.

 

F: Warum nicht?

 

A: Ich weiß es nicht, vielleicht hat meine Mutter eine Anzeige erstattet.

 

F: Sie waren persönlich betroffen und waren einmal Zeuge von Straftaten. Sie hätten der Polizei Hinweise auf die Täter geben können - Personsbeschreibungen, usw. . Warum haben Sie diesbezüglich keine Angaben bei der Polizei gemacht, um eine Ausforschung der Täter zu ermöglichen?

 

A: Nachdem ich zusammengeschlagen wurde, hielt ich mich so wenig wie möglich außerhalb des Hauses auf. Ich hatte einfach Angst.

 

F: Haben Sie irgendwann mit Ihrer Mutter über den Grund der Ermordung Ihres Vater gesprochen?

 

A: Ich habe mit meiner Mutter darüber gesprochen. Sie sagte, dass es mit der Firma meines Vaters zu tun hat. In unserem Haus am Meer, wo auch der Standort der Firma war, arbeiteten und wohnten die Arbeiter meines Vaters. Die Ermordung des Vaters hat mit diesen Arbeitern zu tun. Worum es genau ging, weiß ich nicht.

 

F: Im Berufungsverfahren wurde ein ärztliches Gutachten erwähnt, das besagt, dass Sie traumatisiert sind. Wo ist dieses Gutachten?

 

A: Ich glaube dieses Gutachten befindet sich noch in M..

 

V: Lt. Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 02.02.2006 wurde am 04.05.2005 in Österreich ein ärztliches Gutachten, betreffend Ihrer Traumatisierung erstellt. Sie geben an, dass sich dieses Gutachten in M. befindet. Was sagen Sie dazu?

 

A: Mit dem Gutachten meinte ich meine ärztliche Gutachten, die meine Verletzung betreffen. Das Gutachten, das in Österreich erstellt wurde, habe ich im Original bei mir zu hause.

 

F: Warum haben Sie das Dokument nicht mitgebracht?

 

A: Bei meiner Ladung waren die Dokumente durchgestrichen, deshalb habe ich das Gutachten nicht mitgenommen, aber ich kann es jederzeit nachreichen.

 

Belehrung: Ihnen wird eine Frist von einer Woche (bis 12.05.2006) eingeräumt, um das Gutachten bei der ho Behörde in Vorlage zu bringen. Haben Sie das verstanden und sind Sie damit einverstanden?

 

A: Ja, ich bin damit einverstanden. Ich habe am 08.05.2006 einen Termin in der Klinik in I.. Ich werde das Gutachten persönlich vorbeibringen.

 

F: Sind Sie traumatisiert?

 

A: Ja.

 

Vorhalt: Bei den Einvernahme in Thalham am 04.01.2004 und am 13.01.2004 sowie bei der heutigen Einvernahme gaben Sie auf die Frage - wörtlich übernommen: "F: Wie geht es Ihnen. Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, die Vernehmung in Ihrem Asylverfahren zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durchzuführen? A: Ja, ich bin dazu in der Lage. Ich habe keine physischen oder psychischen Probleme." an. Jetzt führen Sie an, dass Sie traumatisiert sind. Was sagen Sie zu diesem Widersprüchen?

 

A: Ich antworte folgendes: ich bin heute in der Lage ihre Fragen zu beantworten. Aber im Allgemeinen die Traumata, die ich davon getragen habe, bleiben.

 

F: Wie äußert sich Ihr Trauma? Welche Beschwerden haben Sie?

 

A: Ich bin oft grundlos nervös. Ich habe Anfälle, wo ich Personen grundlos anschreie. Ich vermisse einfach meinen Vater. Ich habe an Gewicht verloren. Ich leide an Appetitlosigkeit. Ich vergesse zu essen, weil ich nervös bin. Ich möchte keinen Kontakt zu Leuten. Ich will am liebsten alleine sein. Manchmal geht es mir besser, wenn ich unter Freunden bin.

 

F: Aufgrund welchen konkreten Ereignisses sind Sie traumatisiert?

 

A: Nur weil ich meinen Vater vermisse. Meine Mutter hat sich von meinem Vater getrennt, als sie von ihm schwanger war. Ich bin dann bei meinem Stiefvater aufgewachsen. Meinen leiblichen Vater, der erschossen wurde, habe ich erst 2002 kennen gelernt.

 

F: Wann haben Sie erfahren, dass Ihr Stiefvater nicht Ihr leiblicher Vater ist?

 

A: Ich habe es im Laufe der Zeit einfach mitbekommen, dass es nicht mein leiblicher Vater war. Meine Schwester ist von meinem Stiefvater. 1995 hat der Stiefvater die Familie verlassen und 2002 ist meine Mutter wieder mit meinem Vater zusammen gekommen.

 

F: Was sind Wahhabiten?

 

A: Ausartung islamischer Glaube in terroristische Richtung, Wahhabiten passen in keinen islamischen Rahmen.

 

V: Bei der Einvernahme in Thalham gaben Sie an, dass Sie wegen der Wahhabiten Probleme haben. Heute erwähnen Sie die Wahhabiten mit keinem Wort. Was sagen Sie dazu?

 

A: Sie haben mich nicht danach gefragt.

 

F: Was für Probleme hatten Sie mit den Wahhabiten?

 

A: Ich hatte keine Probleme mit Wahhabiten. Ich mag sie einfach nicht.

 

V: Bei Ihrer Einvernahme am 04.01.2004 in Thalham haben sie behauptet, dass Sie Ihre Heimat wegen Problemen mit Wahhabiten verlassen hätten. Heute behaupten Sie genau das Gegenteil. Wie erklären Sie Ihre widersprüchlichen Angaben?

 

A: Damals hat mir meine Mutter eingeredet, dass Wahhabiten den Vater getötet hätten. Ich weiß es aber nicht. Ich wollte heute nur das sagen, was ich selbst weiß.

 

F: Haben Sie zum Fluchtgrund sonst noch etwas zu sagen?

 

A: Nein.

 

F: Was hätten Sie im Falle einer eventuellen Rückkehr in Ihre Heimat konkret zu befürchten?

 

A: Ich habe einfach Angst, ich weiß nicht, was dort auf mich wartet.

 

F: Warum sind Sie nicht in eine andere Stadt oder in einen anderen Landesteil gezogen, wenn Sie in Dagistan so große Probleme haben?

 

A: Ich könnte als Dagistani nirgendwo anders Fuß fassen.

 

... "

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 07.06.2006, Zahl: 04 25.800-BAI, wurde unter Spruchpunkt I. der Asylantrag S.I. vom 25.12.2004 gemäß § 7 Asylgesetz abgewiesen, unter Spruchteil II. die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 8 Absatz 1 Asylgesetz ausgesprochen und unter Spruchteil III. gemäß § 8 Absatz 2 Asylgesetz der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

 

In der Begründung des Bescheides wurde zunächst die Einvernahme zum Fluchtweg und anschließend die oben bereits wiedergegebene Einvernahme zu den Fluchtgründen dargestellt. Anschließend wurden (allgemeine) Feststellungen zur Russischen Föderation getroffen und auch die Quellen hiefür angeführt, sowie auch Feststellungen zur organisierten Kriminalität und zur Bedrohung durch die russische Mafia. Mit den von ihm behaupteten Gründen der Ausreise habe der Antragsteller keine Verfolgungsgefahr in seiner Heimat darlegen können. Die Angaben des Beschwerdeführers wären vage, allgemein gehalten, nicht nachvollziehbar, widersprüchlich und daher auch nicht glaubwürdig gewesen. Er habe seine Fluchtgründe vollkommen unterschiedlich dargestellt und durch immer neue Sachverhalte ergänzt.

 

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Berufung (in der Folge Beschwerde genannt).

 

Der Unabhängige Bundesasylsenat beraumte daraufhin für den 09.05.2008 eine öffentliche mündliche Berufungsverhandlung an, zu der sich die Behörde erster Instanz entschuldigen ließ. Diese gestaltete sich im Wesentlichen wie folgt:

 

"VL: Warum sind Sie aus Russland geflüchtet?

 

BW: Wir hatten zwei Häuser. In einem der Häuser gab es eine kleine Werkstätte, dort hat mein Vater gearbeitet. Er hat auch Arbeiter aufgenommen. Er hatte Probleme mit diesen Arbeitern. Ihretwegen wurde er von der Polizei mitgenommen. Das war vor vier Jahren, ich war damals ca. 18 Jahre alt.

 

Man wollte meine Schwester entführen, daran kann ich mich gut erinnern. Abgesehen davon wurde ich schwer zusammengeschlagen.

 

Mein Vater wurde wie gesagt, von der Polizei mitgenommen. Ich war in der Schule und kam dann nachhause. Meine Mutter hat mir dann zuhause gesagt, was vorgefallen ist. Meine Mutter sagte mir, was passierte und sagte auch, dass sie zur Leichenidentifizierung gehen musste. Meine Mutter war damals in einem sehr schlechten psychischen Zustand, sie konnte es mir nicht genau mitteilen. Sie sagte nur zu uns: "Ihr bleibt zuhause!"

 

Ich habe es nicht sofort erfahren, nicht gleich. Ich habe es erst nach und nach erfahren. Dass dort ungesetzliche Dinge passiert sind. Die Arbeiter haben dort irgendwas aufbewahrt, weil sie ja auch dort wohnten. Es waren Waffen dabei. Ich weiß nicht genau, was da war. Ich kann mich aber erinnern, dass auch von Drogen die Rede war.

 

VL: Was sind das für Leute?

 

BW: Ich glaube, dass es die Wahabiten waren. Bei uns in Dagestan beschäftigen sich nur solche Leute mit solchen Sachen.

 

BWV: Hat Ihnen das nur Ihre Mutter erzählt, oder hatten Sie eigene Wahrnehmungen?

 

BW: Ich weiß es nur von Erzählungen meiner Mutter, ich selbst habe es nicht wahrgenommen.

 

Ich ging damals von einem Training zurück, das war vor dem Tod meines Vaters. Als ich überfallen wurde, war mein Vater noch bei der Polizei. Zuerst habe ich es überhaupt nicht verstanden, es kam sofort zu einer Schlägerei. Aber dann sagten mir die Leute, dass mein Vater schweigen muss und nichts sagen darf, sonst sprachen sie mit mir nicht. Danach war ich im Spital. Zuerst ging ich aber nachhause und dann ins Spital. Am nächsten Tag geschah das mit meinen Vater. Als ich vom Krankenhaus entlassen wurde, war mein Vater bereits tot.

 

BWV: Wissen Sie etwas darüber, dass es auch Drohanrufe gegeben hat?

 

BW: Ja, es gab solche Anrufe, aber das weiß ich aber auch nur, weil es mir meine Mutter erzählt hat. Selbst war ich nie am Telefon. Ganz genau sagte sie es nicht, aber sie sagte, dass uns jemand angerufen hat und uns bedroht hat. Ich weiß, dass meine Mutter zur Polizei gegangen ist, aber es kam dabei nichts heraus. Meine Mutter hat das nicht genau geschildert.

 

VL: Und Sie haben nicht genau nachgefragt?

 

BW: Ich habe sie natürlich danach gefragt, aber sie wollte es mir nicht erzählen, sie war in einem wirklich schlechten Zustand.

 

VL: Was haben Sie sonst noch erlebt?

 

BW: Ich selbst habe den Moment nicht wahrgenommen, als die Flasche durch das Fenster hineingeworfen wurde. Als ich ins Zimmer kam, brannte bereits die Flüssigkeit in der Flasche. Es war aber so, dass es wir geschafft haben, den Brand relativ schnell zu löschen. Wir sind sehr früh aufgestanden, ca. 5 Uhr in der Früh, das war zu dieser Zeit. Das war ein Zufall.

 

BWV: Sie waren bei einem Entführungsversuch Ihrer Schwester dabei. Können Sie darüber erzählen?

 

BW: Wir gingen zu dritt einkaufen, meine Mutter, meine Schwester und ich. Unterwegs kamen Leute aus einem Fahrzeug heraus, ich weiß aber nicht mehr, wie viele es waren. Meine Schwester befand sich am nähesten von ihnen, sie haben sie gleich ergriffen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich auch die Nachbarn ganz in der Nähe. Offensichtlich haben sie die Leute verschreckt, weil auch die Nachbarn dabei waren, sie ließen meine Schwester wieder los, sodass wir wieder weggehen konnten.

 

BWV: Haben Sie irgendwen dieser Leute erkannt?

 

BW: Es war so, dass es für uns eine Schocksituation war, deswegen habe ich mir die Leute nicht genau angesehen. Aufgrund des Körperbaus glaube ich, dass die Person dabei war, die mich damals zusammengeschlagen hat. Bei der Schlägerei war es ja auch so, dass ich mir die Personen die mich zusammengeschlagen haben auch nicht ansehen konnte, deswegen glaube ich, dass es sich vielleicht um dieselbe Person gehandelt haben könnte.

 

VL: Wie schätzen Sie die derzeitige Lage in der Russischen Föderation ein?

 

BW: In der russischen Föderation hätten wir noch zusätzliche Probleme gehabt, dort werden die Leute mit kaukasischem Aussehen gar nicht aufgenommen. Es existiert dort ein populärer Spruch: "Russland für Russen und Moskau für Moskauer." Ich hätte dort jederzeit wieder Probleme. Auch mit den Leuten mit denen ich Probleme hatte. Dort gibt es verschiedene Sekten, wie die so genannten Skinheads, dort gibt es tagtäglich Vorfälle, wo Leute aus dem Kaukasus zu Opfer werden. In Tschetschenien kann man nicht leben, dort gibt es andere Probleme. Das Land dort ist voller Wahabiten, sie kommen von dort zu uns.

 

Vorgelegt wird Beilage II (Aktuelle Situation in der Russischen Föderation), Amnesty International Russian Federation Human Rights Coucerus" vom 19.09.2007

 

Jahresbericht, UN- Sonderberichterstatter für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung vom 20.05.2007

 

International Religious Freedom Report, U.S. State Dep. 2007, aktuelle

 

Amnesty International, Anfragebeantwortung an den VGH-Hessen vom 27.04.2007

 

Beilage III (Aktuelle Situation in Dagestan)"

 

Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter wie folgt festgestellt und erwogen:

 

Zur Person des Beschwerdeführers wird folgendes festgestellt:

 

Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger der Russischen Föderation (aus der Teilrepublik Dagestan). In der Firma seines Vaters wurden bei einer Razzia durch die Polizei Waffen, Drogen und auch wahabistische Literatur gefunden. Nach dem Verhör durch die Polizei wurde der Vater von unbekannten Personen erschossen. Der Beschwerdeführer wurde auf offener Straße zusammengeschlagen und seine Schwester entging nur knapp einer Entführung. Auf das Haus der Mutter des Beschwerdeführers wurde ein Brandanschlag verübt.

 

Die Mutter des Beschwerdeführers hat versucht die Polizei um Hilfe zu ersuchen, doch wurde ihr dies verweigert mit der Begründung, dass die Familie den Wahabiten angehöre und sie das Land besser verlassen solle.

 

Zu Dagestan wird ergänzend über die bereits im erstinstanzlichen Akt enthaltenen allgemeinen Feststellungen zur Russischen Föderation, sowie zu den Kumyken und den Wahabiten folgendes festgestellt:

 

Bis zum Jahre 1999 hatte die Tätigkeit wahabistischer Gruppen in Dagestan systematisch zugenommen und sich die Sicherheitslage derart verschärft, dass die föderalen und lokalen Sicherheitskräfte bewaffnete anti-terroristische Operationen begannen, wobei zahlreiche Personen, die im Verdacht standen mit den Wahabisten zusammenzuarbeiten, verhaftet wurden. Am 16.09.1999 erließ die dagestanische Regierung ein Gesetz über das Verbot wahabistischer und anderer extremistischer Tätigkeit auf dem Gebiet der Republik Dagestan.

 

Im Sommer 1999 sind tschetschenische Rebellen unter dem Kommando von Jamil Bassajev in Dagestan einmarschiert, wodurch sich der Tschetschenienkonflikt auch nach Dagestan ausweitete.

 

Nach verlustreichen Großoperationen unter tschetschenischer Leitung, Ende der 90er Jahre, die eine sofortige Machtübernahme der Islamisten und die Loslösung von Russland anstrebten, hat sich der islamistische Widerstand auf klassische Guerilla-Aktivitäten verlegt, um mit geringen Mitteln und beschränktem Risiko, größtmögliche Resonanz zu erzeugen. Attentate ereignen sich in Dagestan mittlerweile häufiger als in Tschetschenien, wenn auch die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung geringer sind. Es erfolgen sowohl (Sprengstoff)anschläge auf Infrastruktureinrichtungen, wie die Energieversorgung und Verkehrsverbindungen, sowie auch bedeutende Funktionsträger. Angriffe auf Sicherheitskräfte ereignen sich fast täglich. Die russischen Behörden reagieren darauf, dass sie selbst massivste Mittel zur Vernichtung der Gegner zum Einsatz bringen, wobei sich allgemein dien Kampfhandlungen vermehrt von Tschetschenien nach Dagestan verlegen und manchen Autoren die Situation in Dagestan die Bevölkerung als noch problematischer ansehen, als in Tschetschenien. Leidtragende der Auseinandersetzungen ist - wie meistens - die Zivilbevölkerung, auf die immer weniger Rücksicht genommen wird Die russischen Sicherheitskräfte gehen auch vehement gegen Verwandte von Mitgliedern bewaffneter illegaler Vereinigungen vor, wobei auch Verwandte von Terrorverdächtigen als Geiseln genommen werden.

 

Dagestan Wahabismus

 

Wir haben daher einerseits zu Meldungen recherchiert, die sich allgemein auf Verwandte von Terrorverdächtigen ("Wahhabiten", siehe unten) beziehen, sowie andererseits auch zu Berichten zum Übergreifen des Tschetschenienkonfliktes auf Dagestan.

 

Zum Begriff des Wahhabismus

 

Die Menschenrechtsorganisation Memorial schreibt in ihrem im August 2005 erschienen Bericht über die Lage von Tschetschenen in der Russischen Föderation folgendes über die Bezeichnung als Wahhabit:

 

"Die Beschuldigung Wahabit zu sein (häufig, wenn nicht sogar in den meisten Fällen entbehrt sie jeglicher Grundlage) ist ein beliebtes Mittel in den Auseinandersetzungen der einen oder anderen Richtungen der moslemischen Gläubigen. []

 

Wer einmal als Wahabit verdächtigt ist, kann leicht terroristischer Absichten beschuldigt und bei der nächsten bietenden Gelegenheit verhaftet werden. []

 

Die Kampagne, Moslems Extremismus und Terrorismus vorzuwerden, hat inzwischen in allen Regionen Russlands, in denen die moslemische Bevölkerung einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ausmacht, um sich gegriffen. [] Besonders im Nordkaukasus werden Menschen häufig beschuldigt Wahabiten zu sein." (Memorial, August 2005, S. 11 u. 12).

 

Das US Department of State (USDOS) schreibt in seinem im September 2006 erschienen Bericht zur Religionsfreiheit in Russland, dass die Regierung, Journalisten und die Öffentlichkeit muslimische Organisationen sehr schnell als "Wahhabiten" bezeichnen würden. Diese Bezeichnung würde zunehmend als Synonym für "Extremisten" gebraucht, daher sei der Wahhabismus in Dagestan offiziell verboten:

 

"Government officials, journalists, and the puplic have been quick to label Muslim organizations "Wahhabi," a term that has become equivalent with "extremist." Such sentiment has led to a formal ban on Wahhabism in Dagestan and Kabardino-Balkariya." (USDOS, 15. September 2006, Sek. III).

 

Vorgehen der Sicherheitskräfte gegenüber Verwandten von Terrorverdächtigen

 

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial schreibt in ihrem Bericht zur Lage der Bevölkerung Tschetscheniens vom Augusst 2006 über die Gefährdung von Verwandten von Rebellen-Verdächtigen. Aus Platzgründen haben wir hier die im Originaldokument angeführten Fallbeispiele nicht abgedruckt:

 

"Nach der Rede des russischen Generalstaatsanwalts Wladimir Ustinow in der Staatsduma am 20. Oktober 2004, bei der er angeregt hatte, bei terroristischen Verbrechen im Gegenzug ebenfalls Geiselnahme und eine "vereinfachte Rechtssprechung" bei Terroristen zu ermöglichen, ging man vor Ort sogar noch weiter. Mit der Drohung einer Geiselnahme oder einer außergerichtlichen Abrechnung sollten all die rechnen müssen, deren Verwandte - und seien es entfernte Verwandte - Mitglieder von illegalen bewaffneten Vereinigungen sind oder waren.

 

Ganze Familien wurden so vernichtet. In der einheimischen Bevölkerung gehen viele davon aus, dass es eine vertrauliche Anordnung von oben gibt, Verwandte von Mitgliedern bewaffneter illegaler Vereinigungen zu vernichten. []

 

Haben sich Mitglieder von Militär, Miliz und Geheimdienst verdächtig gemacht, sind auch ihre Angehörigen in Gefahr []" (Memorial, 3. August 2006, S. 49f.)

 

...

 

(Anfragebeantwortung von ACCORC an das Bundesasylamt vom November 2006)

 

Beweis wurde erhoben durch Einvernahme des Beschwerdeführers durch die Behörde erster Instanz am 04.01.2005 sowie am 05.05.2006, sowie im Rahmen der öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung durch den Unabhängigen Bundesasylsenat vom 09.05.2008, durch Vorhalt der oben näher bezeichneten Dokumente. Es konnten auch keinerlei Unstimmigkeiten mit der von der Mutter des Beschwerdeführers in ihrem Verfahren gemachten Angaben festgestellt werden. Die für die Erstbehörde verwirrende Vielfalt der Sachverhalte, konnte logisch aufeinander folgende Ereignisse gegliedert und dargestellt werden.

 

Die Beweise werden wie folgt gewürdigt:

 

Die verfahrensbezogenen länderkundlichen Feststellungen ergeben sich aus den zum Parteiengehör vorgehaltenen und den vom Beschwerdeführervertreter selbst vorgelegten Dokumenten, denen von der Behörde erster Instanz in keiner Weise entgegengetreten wurde. Diese Dokumente wurden durch jüngere Dokumente des eidgenössischen Bundesamtes für Migration, sowie einer Anfragebeantwortung von ACCORD betreffend Dagestan und Wahabiten aktualisiert.

 

Das Vorbringen des Beschwerdeführers wird wie folgt gewürdigt:

 

Der Verwaltungsgerichtshof verlangt in seiner Rechtssprechung eine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers unter den Gesichtspunkten der Konsistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers und der objektiven Wahrscheinlichkeit der Behauptungen, wobei letzteres eine Auseinandersetzung mit (aktuellen) Länderberichten verlangt (VwGH vom 26.11.2003, Zahl: 2003/20/0389).

 

Im Großen und Ganzen ist eine relativ gute Konsistenz zwischen den erst- und zweitinstanzlichen Angaben des Beschwerdeführers feststellbar.

 

Angesichts des persönlichen Eindrucks, den die Verhandlungsleiterin von dem Beschwerdeführer gewonnen hat, obwalten keine Bedenken gegen die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers, mag dieser auch keine Personaldokumente vorgelegt haben. Auf Grund der Ortskenntnisse erscheint auch die Herkunft aus Dagestan glaubwürdig. Die von dem Beschwerdeführer, sehr detailliert geschilderten Verfolgungshandlungen stimmen durchaus mit den obigen Sachverhaltsfeststellungen und den diesen zugrunde liegenden Dokumenten überein. Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die Berufungsbehörde von der Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers ausgeht.

 

Rechtlich ergibt sich daraus Folgendes:

 

Gemäß § 75 Abs. 7 Z 1 AsylG 2005 idF Art. 2 BG BGBl. I 4/2008 sind Verfahren, die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängig sind, vom Asylgerichtshof weiterzuführen; Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

Da im vorliegenden Verfahren bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor der nunmehr zuständigen Richterin stattgefunden hat, ist von einer Einzelrichterzuständigkeit auszugehen.

 

Gemäß § 23 AsylGH (Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz; Art. 1 BG BGBl. I 4/2008) sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz-B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetzt 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetztes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 23 AsylG (bzw. § 23 Abs. 1 AsylG idF der ASylGNov. 2003) ist auf Verfahren nach dem AsylG, soweit nicht anderes bestimmt ist, das AVG anzuwenden (vgl. auch Art. II Abs. 2 lit. D Z 43 a EGVG). Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die Rechtsmittelinstanz, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

Gemäß § 75 AsylG 2005 sind alle am 31. Dezember 2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetz 1997 zu Ende zu führen. § 44 Absatz 1 AsylG 1997 gilt.

 

Gemäß § 44 Abs. 1 i.d.F. BGBl. I Nr. 101/2003 werden Verfahren zur Entscheidung über Asylanträge und Asylerstreckungsanträge, die bis zum 30.04.2004 gestellt wurden, nach den Bestimmungen des AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 i.d.F. des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 126/2002 geführt. Da der gegenständliche Asylantrag bereits zum obgenannten Zeitpunkt gestellt worden war, ist das AsylG 1997 i.d.F. BGBl. I Nr. 126/2002 anzuwenden.

 

Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht) und keiner der in Artikel 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling i.S.d. AsylG 1997 ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die " begründete Furcht vor Verfolgung".

 

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht, (zB VwGH vom 19.12.1995, 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998, 98/01/0262).

 

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Eingriffe in seine vom Staat zu schützende Sphäre müssen in einem erkennbaren zeitlichen Zusammenhang zur Ausreise aus seinem Heimatland liegen. Die fluchtauslösende Verfolgungsgefahr bzw. Verfolgung muss daher aktuell sein (VwGH 26.06.1996, Zl. 96/20/0414). Die Verfolgungsgefahr muss nicht nur aktuell sein, sie muss auch im Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen (VwGH 05.06.1996, Zl. 95/20/0194).

 

Wenngleich der Beschwerdeführer auch Drohungen und Verfolgung seitens der Wahabiten gegen seine Familie vorbrachte, steht im Zentrum des Fluchtvorbringens auch eine Verfolgung durch russische Organe. Diese Verfolgungshandlungen hatten ihre Ursache darin, dass der Vater des Beschwerdeführers intensive Kontakte zu den Wahabiten unterstellt würden.

 

Angesichts der sich verschärfenden Situation in Dagestan, die einerseits durch verstärkte Anschläge extremistischer Gruppierungen und andererseits durch ein immer weitere Kreise der Zivilbevölkerung umfassendes brutales Vorgehen russischer Sicherheitskräfte gekennzeichnet ist, reicht es offenbar aus, dass jemand - auch nur sehr vage - in Verdacht stand, "terroristische Gruppierungen" zu unterstützen bzw. ein (naher) Angehöriger von Personen zu sein, die wegen Terrorismusverdachts von den Behörden gesucht wurden und verschwunden sind, damit seitens der Behörden schwerwiegende Eingriffe in die zu schützende persönliche Sphäre von Zivilpersonen vorgenommen werden.

 

Wenn auch dem Bundesasylamt insofern zuzustimmen ist, dass kurzfristige Anhaltungen und Befragungen (zum Beispiel um Namen von aktiven Widerstandskämpfern zu erfahren), nicht für sich allein als asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen angesehen werden können, so ist doch festzuhalten, dass diese in Tschetschenien und Dagestan häufig von intensiven Misshandlungen, die von der Intensität her die Schwelle einer asylrelevanten Verfolgungshandlung ohne weiteres erreichen, begleitet werden und diese Eingriffe auch aus in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Verfolgungsgründen, nämlich einer zumindest unterstellten "russlandfeindlichen politischen Gesinnung", erfolgen (vgl. UBAS vom 24. Januar 2007, Zahl: 254.119/0-VIII/22/04).

 

Der Zusammenhang zu den in der Genfer Flüchtlingskonvention taxativ aufgezählten Verfolgungsgründen besteht im Fall des Beschwerdeführers in einer unterstellten politischen, nämlich russlandfeindlichen, islamistischen und sezessionistischen Gesinnung der Familie.

 

Nach der Rechtssprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH vom 19.12.2001, ZI. 98/20/0312, VwGH vom 26.02.2002, ZI. 2000/20/0517, VwGH vom 12.03.2002, ZI. 2001/01/0399) stellt die Familie eine soziale Gruppe dar und substituiert diese "soziale Gruppe" das Fehlen eines eigenen Verfolgungsgrundes nach der GFK, wenn Familienmitglieder etwa wegen (unterstellter) politischer Gesinnung oder ihrer ethnischen Herkunft oder Religion verfolgt werden.

 

Schließlich ist nochmals daraufhin zu weisen, dass es beim Beschwerdeführer keinesfalls an einer aktuellen Verfolgungsgefahr mangelt, sondern vielmehr sich die Situation in Dagestan geradezu dramatisch zugespitzt hat und die im Zeitpunkt der Ausreise bestandene Verfolgungsgefahr für den Beschwerdeführer, deren Schwester und deren Mutter keinesfalls weggefallen ist.

 

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Heimat (Dagestan) mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Eingriffe von hoher Intensität in seine zu schützende persönliche Sphäre aus den oben genannten, mit der Genfer Flüchtlingskonvention in Einklang stehenden Gründen drohen.

 

Weiters ist festzuhalten, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass diese Verfolgungsgefahr nur auf Dagestan beschränkt ist, zumal die russischen Sicherheitskräfte, insbesondere der Inlandsgeheimdienst FSB, auf dem gesamten Gebiet der Russischen Föderation tätig sind und auch vehement gegen Personen vorgehen, die im Verdacht stehen, an terroristischen Aktivitäten beteiligt zu sein.

 

Im Sinne der sich in den letzten Jahren immer mehr verstrengernden Judikatur, die sich von der inländischen Fluchtalternative zur innerstaatlichen Schutzalternative gewandelt hat, steht der Berufungsbehörde somit nach Überzeugung des Asylgerichtshofes keine solche innerhalb der Russischen Föderation realistischerweise offen.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Anhaltung, Befragung, Familienverband, Familienverfahren, gesamte Staatsgebiet, Intensität, Misshandlung, soziale Gruppe
Zuletzt aktualisiert am
31.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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