TE AsylGH Erkenntnis 2008/10/21 D5 260774-0/2008

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Veröffentlicht am 21.10.2008
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Spruch

D5 260774-0/2008/10E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Christine AMANN als Vorsitzende und den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Beisitzer über die Beschwerde der D.Z., geb. 00.00.1970, StA. der Russischen Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 9.5.2005, FZ. 04 13.201-BAG, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und D.Z. gemäß § 7 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 Asyl gewährt. Gemäß § 12 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 wird festgestellt, dass D.Z. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsangehörige und tschetschenische Volksgruppenzugehörige, reiste ihren Angaben zufolge am 27.6.2004 zusammen mit ihrem Ehemann (AIS Zl. 04 13.200) und ihren minderjährigen Söhnen (AIS Zl. 04 13.203, 04 13.206, 04 13.207) illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Asylantrag. Am 29.6.2004, 9.7.2004 und am 3.5.2005 fanden ihre niederschriftlichen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt statt. Mit Bescheid vom 9.5.2005, Zahl: 04 13.201-BAG, wies das Bundesasylamt den Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 ab (= Spruchteil I.) und erklärte gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation für zulässig (= Spruchteil II.); weiters verfügte das Bundesasylamt darin, dass die Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003 "aus dem österreichischen Bundesgebiet" (ohne Angabe des Zielstaates) ausgewiesen werde (= Spruchteil III.). Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin im Familienverfahren am 23.5.2005 fristgerecht eine Beschwerde.

 

Der Ehemann der Beschwerdeführerin gab im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt, zu seinen Fluchtgründen befragt, im Wesentlichen Folgendes an:

 

Er habe in Tschetschenien seit Beginn des Krieges Probleme gehabt. Sein Bruder sei am 11.5.2001 erschossen worden. Darüber habe er bei der örtlichen Behörde eine Anzeige erstattet, es sei ihm dort aber gesagt worden, dass solche Dinge aufgrund des in Tschetschenien herrschenden Ausnahmezustandes nicht verfolgt würden. Acht Monate später sei er im Hause seines Vaters von Maskierten überfallen und verprügelt worden: Falls er die Anzeige nicht zurückziehe, sei ihm gedroht worden, dass er etwas erleben werde. Sein Vater habe einen Herzanfall erlitten und sei an dessen Folgen verstorben. Nach der Beisetzung seines Vaters hätte er versucht, ständig seinen Wohnsitz zu verlegen, jedoch habe dies nichts genützt. Am 00.00.2003 seien Maskierte in das Haus eingedrungen und hätten ihn sowie seinen ältesten Sohn geschlagen. Sein zweiter Sohn habe alles mitbekommen und schlafe noch heute sehr schlecht. Seine Ehefrau sei zu diesem Zeitpunkt schwanger gewesen und habe als Folge dieses Überfalles eine Frühgeburt erlitten. Seit diesem 00.00., als die Maskierten bei ihnen zu Hause eingedrungen seien, habe er beabsichtigt, mit seiner Familie Tschetschenien zu verlassen. Im April 2004 hätten er und seine Familie dann Tschetschenien verlassen.

 

Auf die am Ende der Einvernahme vom 3.5.2005 gestellte Frage, ob er in seinem Herkunftsstaat festgenommen oder in Haft gewesen sei, gab der Ehemann der Beschwerdeführerin an, er sei im Jahr 2000 - noch vor der Tötung seines Bruders - einmal von Soldaten festgenommen und in ein Lager gebracht worden; seine Schwester habe damals auf die Soldaten eingeredet, dass er nichts getan habe, worauf er am Abend wieder freigelassen worden sei.

 

Im Zuge ihrer niederschriftlichen Einvernahmen vor dem Bundesasylamt gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen Folgendes an:

 

Der Bruder ihres Mannes sei im Mai 2001 tot aufgefunden worden. Es sei gesagt worden, dass er angeschossen worden sei. Acht Monate später sei ihr Mann im Haus seines Vaters von Maskierten überfallen und verprügelt worden. Ihr Schwiegervater habe einen Herzanfall erlitten und sei an den Folgen im Krankenhaus verstorben. Am 00.00.2003 seien Maskierte in das Haus eingedrungen und hätten ihren Mann sowie ihren ältesten Sohn geschlagen. Ihr zweiter Sohn habe dies alles mitbekommen. Sie sei zu diesem Zeitpunkt schwanger gewesen und habe sich sehr aufgeregt, worauf sie das Bewusstsein verloren habe. Deshalb habe sie eine Frühgeburt erlitten. Ihr jüngster Sohn sei mit sieben Monaten auf die Welt gekommen. Wenn sie heute über die Vorfälle spreche, bekomme sie Herzprobleme. Sie habe zuhause Angst.

 

Das Bundesasylamt stellte im o.a. Bescheid vom 9.5.2005 zunächst im Wesentlichen fest:

 

Die Beschwerdeführerin gehöre der tschetschenischen Volksgruppe an. Sie habe Tschetschenien wegen des Bürgerkrieges beziehungsweise wegen der mit diesem Bürgerkrieg in direktem Zusammenhang stehenden Folgen verlassen. Andere Gründe habe die Beschwerdeführerin nicht glaubhaft machen können. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin ihr Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen habe.

 

In der Folge traf das Bundesasylamt auf Seite 11 bis 19 des o.a. Bescheides Länderfeststellungen zur Lage in der Russischen Föderation im Allgemeinen und zur Situation von Tschetschenen im Besonderen.

 

Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt darin im Wesentlichen aus:

 

Die Angaben der Beschwerdeführerin, ihre Heimat wegen der allgemeinen Folgen des Bürgerkrieges verlassen zu haben, seien glaubhaft.

 

Im Verfahren nach dem Asylgesetz sei es unabdingbare Voraussetzung für die Bewertung des Vorbringens eines Asylwerbers zu den Fluchtgründen als glaubhaft, dass der Asylwerber nicht bloß eine "leere" Rahmengeschichte im Zuge der Einvernahme vorbringe, ohne diese durch das Vorbringen von Details, Interaktionen, glaubhafte Emotionen etc. zu substantiieren bzw. "mit Leben zu erfüllen". Da im Asylverfahren unzweifelhaft die niederschriftliche Aussage eines Asylwerbers vor den Asylbehörden die zentrale Erkenntnisquelle für die Entscheidung darstelle, reiche es keinesfalls aus, dass ein Asylwerber lediglich nicht zu widerlegende Behauptungen aufstelle, welche einer Verifizierung nicht zugänglich seien. Die Beschwerdeführerin sei eingangs der Einvernahme aufgefordert worden, alle Fluchtgründe anzuführen, weshalb sie das Heimatland verlassen und in Österreich einen Asylantrag gestellt habe. Im konkreten Fall habe die Beschwerdeführerin jedoch diesen Voraussetzungen für die Qualifizierung eines Erlebnisberichtes nicht entsprochen. Vor dem Hintergrund dieser Prämissen sei die von ihr vor der Asylbehörde präsentierte "Fluchtgeschichte" tatsächlich als zu blass, wenig detailreich und zu oberflächlich und daher in Folge als keinesfalls glaubhaft zu qualifizieren gewesen.

 

Bei der rechtlichen Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes führte das Bundesasylamt im o.a. Bescheid zu § 7 AsylG idF BGBl. I Nr. 101/2003 (= Spruchteil I.) insbesondere aus:

 

Essentielles Erfordernis für die Gewährung von Asyl sei die Glaubhaftmachung einer aktuell drohenden Verfolgung aus politischen, religiösen, rassischen, ethnischen oder sozialen Gründen bzw. eine wohlbegründete Furcht vor einer solchen. Wie bereits ausgeführt worden sei, könne die Beschwerdeführerin eine derartige Gefahr nicht plausibel machen. Das Bundesasylamt gelange nach rechtlicher Würdigung zum Schluss, dass es nicht plausibel sei, dass der Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat Russland Verfolgung iSd GFK drohe.

 

In Bezug auf die Entscheidung über den subsidiären Schutz gemäß § 8 Abs. 1 AsylG idF BGBl. I Nr. 101/2003 (= Spruchteil II.) führte das Bundesasylamt im Wesentlichen aus:

 

Das Bestehen einer Gefährdungssituation iSd § 57 Abs. 2 FrG sei bereits unter Spruchpunkt I. geprüft und verneint worden. Eine drohende Gefahr iSd § 57 Abs. 1 FrG habe die Beschwerdeführerin nicht konkretisieren können. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin hinsichtlich individueller Gefährdung sei als nicht plausibel zu bezeichnen. Auch sonstige Hinweise auf das Vorliegen einer Gefahr iSd § 57 FrG könne nicht festgestellt werden. Das Bundesasylamt gelange daher zum Schluss, dass keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Gefahr liefe, in Russland einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden. Es sei daher festzustellen, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Russland zulässig sei.

 

In Bezug auf die verfügte Ausweisung gemäß § 8 Abs. 2 AsylG idF BGBl. I Nr. 101/2003 (= Spruchteil III.) führte das Bundesasylamt zusammengefasst aus, dass die in Österreich lebenden Familienangehörigen der Beschwerdeführerin selbst Asylwerber ohne Berechtigung zum dauernden Aufenthalt seien und deren Asylanträge ebenfalls negativ entschieden worden seien. Es liege somit kein Familienbezug zu einem dauernd aufenthaltsberechtigten Fremden in Österreich vor. Der Aufenthalt der Angehörigen sei so wie der der Beschwerdeführerin nur ein vorübergehender. Die Ausweisung stelle daher keinen Eingriff in Art. 8 EMRK dar.

 

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin am 23.5.2005 fristgerecht eine Beschwerde, in welcher sie Folgendes geltend machte:

 

Sie bekämpfe den Bescheid in allen Spruchpunkten wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und Rechtswidrigkeit des Inhalts. Das Bundesasylamt behaupte, dass ihr Bericht zu "blass", "wenig detailreich" und zu "oberflächlich" sei. Was daran blass sein solle, erkläre das Bundesasylamt aber nicht, auch habe es keinen Versuch unternommen, sie zwecks Vervollständigung ihrer angeblich oberflächlichen Angaben zu befragen. Das Bundesasylamt verstehe offenbar nicht, dass gerade traumatisierte Menschen, die Schreckliches mitgemacht hätten, oft nicht imstande seien, Einzelheiten zu erzählen. Es sei seitens des Bundesasylamtes den einzelnen Punkten ihres Vorbringens, etwa der Ermordung des Bruders ihres Ehemannes, den Überfällen der Maskierten, dem Herztod ihres Schwiegervaters, dem schlechten psychischen Zustand ihres ältesten Sohnes (all das infolge von Verfolgungshandlungen), nicht das Geringste entgegengesetzt worden, daher beschränke sie sich darauf, zu bekräftigen, dass ihr Vorbringen in allen diesen Punkten der Wahrheit entspreche. Alle diese schweren Eingriffe in ihre Integrität seien wegen der Zugehörigkeit zur tschetschenischen Volksgruppe, somit aus zumindest einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe geschehen. Aus all dem ergebe sich, dass sie sich aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Herkunftsstaates befinde.

 

Das Bundesasylamt übersehe weiters, dass der aus dem Refoulementverbot abzuleitende Schutz unabhängig vom Bestehen der Flüchtlingseigenschaft bestehe. Es hätten daher unabhängig von der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft die Voraussetzungen des Refoulementverbotes im konkreten Fall geprüft werden müssen. Diese Gefahrenprognose habe das Bundesasylamt jedoch unterlassen und somit den Bescheid mit Rechtswidrigkeit belastet.

 

Sie stelle daher die Anträge,

 

1) eine Ergänzung des Ermittlungsverfahrens aufgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, wie dargestellt, anzuordnen;

 

2) eine mündliche Verhandlung durchzuführen;

 

3) ihr nach dem AsylG 1997 Asyl zu gewähren;

 

4) die über sie verhängte Ausweisung aufzuheben, in eventu

 

5) gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 festzustellen, dass ihre Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach Tschetschenien und nach Russland gemäß § 57 FrG nicht zulässig sei;

 

6) ihr gemäß § 15 AsylG 1997 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr zu erteilen.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Der zuständige Senat des Asylgerichtshofes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:

 

1.1. Das Bundesasylamt hat mit der Beschwerdeführerin mehrere ausführliche Befragungen durchgeführt. Der aufgrund dieser ausführlichen Befragungen festgestellte Sachverhalt, dessen Beweiswürdigung und ausführliche Länderfeststellungen zur Russischen Föderation und zu Tschetschenien finden ihren Niederschlag im angefochtenen Bescheid. Da die vom Bundesasylamt herangezogenen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, von einander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen des Bundesasylamtes zu zweifeln. Festzustellen ist, dass das Bundesasylamt im o.a. Bescheid der gegenständlichen Entscheidung ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren zu Grunde gelegt hat.

 

Gemäß § 41 Abs. 7 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008 hat der Asylgerichtshof § 67d AVG mit der Maßgabe anzuwenden, dass eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.

 

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur am 30.6.2008 außer Kraft getretenen (vgl. BGBl. I Nr. 87/2008) Regelung des Art. II Abs. 2 lit. D Z 43a EGVG war der Sachverhalt nicht als geklärt anzusehen, "wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will" (VwGH 2.3.2006, Zl. 2003/20/0317 mit Hinweisen auf VwGH 23.1.2003, Zl. 2002/20/0533; 12.6.2003, Zl. 2002/20/0336).

 

Ausgehend von dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes war der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen, zumal er nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens vom Bundesasylamt festgestellt wurde. Da somit keine weiteren Ermittlungsschritte zu setzen waren und da sich kein zusätzlicher Hinweis auf die Notwendigkeit ergeben hat, den maßgeblichen Sachverhalt mit der Beschwerdeführerin zu erörtern, konnte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim Asylgerichtshof im Fall der Beschwerdeführerin gemäß § 41 Abs. 7 leg. cit. unterbleiben.

 

1.2. Die Beschwerdeführerin hat ihren Asylantrag damit begründet:

 

Der Bruder ihres Ehemannes sei im Mai 2001 erschossen worden. Acht Monate später sei ihr Ehemann im Haus seines Vaters von Maskierten überfallen und verprügelt worden. Ihr Schwiegervater habe bei diesem Überfall einen Herzanfall erlitten und sei an den Folgen gestorben. Am 00.00.2003 seien wiederum Maskierte in das Haus eingedrungen und hätten ihren Mann sowie ihren ältesten Sohn geschlagen. Ihr zweiter Sohn habe alles mitbekommen. Sie selbst habe (als Schwangere) währenddessen ihr Bewusstsein verloren und als Folge davon eine Frühgeburt erlitten. Aufgrund des Vorfalles vom 00.00.2003 habe ihre ganze Familie Tschetschenien schließlich verlassen müssen.

 

Hinsichtlich der Beweiswürdigung des Bundesasylamtes, die sich auf dieses Vorbringen der Beschwerdeführerin stützt, muss der zuständige Senat des Asylgerichtshofes zu dem Schluss kommen, dass diese nicht schlüssig und nachvollziehbar ist, und zwar aus folgenden Gründen:

 

Die Beweiswürdigung des Bundesasylamtes erschöpft sich im Wesentlichen darin, durch die Verwendung allgemein gehaltener Textbausteine - ohne Auseinandersetzung mit dem individuellen Vorbringen der Beschwerdeführerin - dieses als großteils unglaubwürdig zu qualifizieren. Den Erwägungen des Bundesasylamtes ist jedoch entgegenzuhalten, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin vielmehr nicht als "zu blass, wenig detailreich und zu oberflächlich" anzusehen ist, da sich im Wesentlichen die Aussagen des Ehemannes und der Beschwerdeführerin hinsichtlich der fluchtauslösenden Ereignisse decken und beide sehr wohl ihre "Fluchtgeschichte" detailreich und mit eigenen Erlebniswahrnehmungen geschildert haben.

 

Wenn in der Beweiswürdigung argumentiert wird, dass zwar die Angaben der Beschwerdeführerin, Tschetschenien wegen der allgemeinen Folgen des Bürgerkrieges verlassen zu haben, glaubhaft seien, dass aber daraus keine individuelle Verfolgung ableitbar wäre, verkennt das Bundesasylamt, dass die (damals schwangere) Beschwerdeführerin sehr wohl auch individuell von der Säuberungsaktion bzw. dem Überfall vom 00.00.2003 betroffen war, indem sie währenddessen das Bewusstsein verloren und als Folge davon sogar eine Frühgeburt erlitten hat. Unter der Berücksichtigung, dass andere Familienangehörige aufgrund ihrer tschetschenischen Volksgruppenzugehörigkeit bereits Verfolgungshandlungen ausgesetzt waren, wobei der Bruder des Ehemannes sogar ermordet worden ist, erscheint es gerade nicht unglaubwürdig, dass die Beschwerdeführerin im Hinblick auf eine (bereits stattgefundene) individuelle Verfolgung wegen ihrer tschetschenischen Volksgruppenzugehörigkeit der Gefahr weiterer asylrelevanter Verfolgung im Herkunftsstaat ausgesetzt wäre. Die (allenfalls auftauchenden) Fragen, ob es sich bei den von der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann geschilderten Ereignissen tatsächlich immer um ein und dieselbe Personengruppe gehandelt hat oder ob es sich zum Teil um (damals in Tschetschenien übliche) Säuberungsaktionen von russischen Soldaten gehandelt hat, müssen keiner abschließenden Klärung zugeführt werden, weil sowohl unmittelbarer (russischer) als auch mittelbarer (wegen des fehlenden russischen Schutzes) Verfolgung Asylrelevanz zukommen kann.

 

1.3. Folgendes ist als glaubwürdiges Vorbringen der Beschwerdeführerin zu qualifizieren und als maßgebender Sachverhalt festzustellen:

 

Die Beschwerdeführerin ist russische Staatsangehörige moslemischen Glaubens und Zugehörige der tschetschenischen Volksgruppe. Der Ehemann der Beschwerdeführerin ist am 00.00.2007 in Österreich verstorben und ist dessen Verfahren wegen des Todes vom Unabhängigen Bundesasylsenat eingestellt worden (GZ: 260.776/10E-X/47/05).

 

Als Fluchtgrund hat die Beschwerdeführerin glaubwürdig vorgebracht:

Der Bruder des Ehemannes ist im Mai 2001 erschossen worden. Der Ehemann hat das zur Anzeige bei der örtlichen Behörde gebracht, der Anzeige ist aber - seines Wissens nach - nicht nachgegangen worden. Acht Monate später ist der Ehemann im Haus seines Vaters von Maskierten überfallen und verprügelt worden. Im Zuge dieses Übergriffes ist ihm gedroht worden, falls er die Anzeige hinsichtlich des Todes seines Bruders nicht zurückziehe, werde ihm etwas zustoßen. Ihr Schwiegervater hat aufgrund des Übergriffes einen Herzanfall erlitten, an dessen Folgen er verstorben ist. Am 00.00.2003 sind wiederum Maskierte in das Haus eingedrungen und ist ihr Ehemann sowie ihr ältester Sohn geschlagen bzw. verletzt worden. Als Schwangere hat sie im Zuge dessen das Bewusstsein verloren und als Folge davon eine Frühgeburt erlitten. Das Ereignis vom 00.00.2003 war ausschlaggebend für die Flucht der gesamten Familie aus Tschetschenien bzw. der Russischen Föderation.

 

Vor dem Hintergrund der vom Bundesasylamt getroffenen Länderfeststellungen bleibt festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin als Ehefrau des M. (AIS Zl. 04 13.200) und als Zugehörige der tschetschenischen Volksgruppe im Falle der Rückkehr nach Tschetschenien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit weitere Übergriffe bzw. Verfolgungshandlungen durch jene Personen zu befürchten hätte, die bereits für die Ermordung des Bruders ihres Ehemannes und /oder für die sonstigen massiven Übergriffe an der gesamten Familie der Beschwerdeführerin verantwortlich zu machen sind.

 

2. Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich für den zuständigen Senat des Asylgerichtshofes rechtlich Folgendes:

 

2.1. Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BGBl. I Nr. 4/2008; im Folgenden: AsylGHG) tritt dieses Bundesgesetz mit 1.7.2008 in Kraft. Gleichzeitig tritt das Bundesgesetz über den Unabhängigen Bundesasylsenat - UBASG, BGBl. I Nr. 77/1997, zuletzt geändert durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 100/2005, außer Kraft.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind - soweit sich aus dem B-VG, dem AsylG und dem VwGG nichts anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 75 Abs. 7 Z 2 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008 sind am 1.7.2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, vom Asylgerichtshof (konkret: von dem nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat) weiterzuführen.

 

Im gegenständlichen Fall handelt es sich um ein Beschwerdeverfahren nach leg. cit. gegen einen abweisenden Bescheid des Bundesasylamtes. Daher ist das Verfahren der Beschwerdeführerin von dem zuständigen Senat des Asylgerichtshofes (D/5) weiterzuführen.

 

2.2. Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 100/2005 sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen; § 44 AsylG 1997 gilt.

 

Gemäß § 44 Abs. 2 AsylG 1997 werden Verfahren zur Entscheidung über Asylanträge, die ab dem 1.5.2004 gestellt wurden, nach den Bestimmungen des AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997, in der jeweils geltenden Fassung geführt.

 

2.3. Gemäß § 7 AsylG 1997 hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentraler Aspekt der dem § 7 AsylG 1997 zugrunde liegenden, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (vgl. VwGH 25.1.2001, Zl. 2001/20/ 0011; VwGH 21.9.2000, Zl. 2000/20/0241; VwGH 14.11.1999, Zl. 99/01/0280). Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 19.4.2001, Zl. 99/20/0273; VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 19.10.2000, Zl. 98/20/0233; VwGH 9.3.1999, Zl. 98/01/0318). Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaates, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, so liegt eine inländische Flucht- bzw. Schutzalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (vgl. VwGH 24.3.1999, Zl. 98/01/0352; VwGH 21.3.2002, Zl. 99/20/0401; VwGH 22.5.2003, Zl. 2001/20/0268, mit Verweisen auf Vorjudikatur).

 

2.4. UNHCR betont in seinen Richtlinien zur "Internen Flucht- oder Neuansiedlungsalternative im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge", dass die Frage des Vorliegens einer inländischen Flucht- bzw. Schutzalternative in einem Asylverfahren nicht losgelöst von allen anderen zu prüfen ist und dass das Konzept der inländischen Flucht- bzw. Schutzalternative auch nicht dazu dienen kann, den Zugang zum Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft zu verweigern, weil sich diese Frage erst im Zusammenhang mit der inhaltlichen Prüfung eines Asylantrages stellt (HCR/GIP/03/04 v. 23.7.2003, S 2).

 

Die Prüfung, ob eine inländische Flucht- bzw. Schutzalternative vorliegt, erfordert eine Zukunftsprognose dahingehend, ob für den jeweils konkreten Asylwerber im Entscheidungszeitpunkt eine solche

tatsächlich in Frage kommt (= Klärung der Relevanz) und

bejahendenfalls ob diese ihm zumutbar ist (= Klärung der Zumutbarkeit). Dabei ist zunächst zu klären, ob ein konkretes risikofreies Gebiet existiert, das sich durch Abwesenheit des Verfolgers auszeichnet und dessen Stabilität und Sicherheit von Dauer ist. Weiters ist zu klären, ob ein solches risikofreies Gebiet für den Asylwerber sowohl von innerhalb als auch von außerhalb des Herkunftsstaates in Sicherheit und auf legalem Weg erreichbar ist (= Möglichkeit einer sicheren Rückkehr) und ob das Leben dort für den Asylwerber ohne unangemessene Härten oder Gefahren geführt werden kann. Wenn eine solche inländische Flucht- bzw. Schutzalternative als vorhanden angesehen wird, hat ferner das Entscheidungsorgan nachzuweisen bzw. den Beweis zu erbringen, dass es dem betroffenen Asylwerber in Anbetracht sämtlicher persönlicher Umstände zumutbar wäre, dort Zuflucht zu finden, um nicht länger begründete Furcht vor Verfolgung zu haben (vgl. hierzu auch die o.a. diesbezüglichen UNHCR-Richtlinien v. 23.7.2003, HCR/GIP/03/04).

 

2.5. Im Fall der tschetschenischen Beschwerdeführerin ist davon auszugehen, dass ihr aufgrund bereits stattgefundener massiver Übergriffe entweder unmittelbar von staatlicher (russischer) Seite oder mittelbar von nicht-staatlicher Seite wegen des fehlenden staatlichen Schutzes eine weitere Verfolgung innerhalb der Russischen Föderation droht. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt man, wenn man sich Folgendes vor Augen führt:

 

Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführerin als tschetschenischen Volksgruppenzugehörigen von staatlicher (russischer) Seite die Gegnerschaft aus politischen Gründen zumindest unterstellt wird. Im Fall der Beschwerdeführerin liegt eine individuelle Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vor, zumal sie als (einzelnes) Mitglied der tschetschenischen Volksgruppe bereits individuell einer Verfolgungsmaßnahme am 00.00.2003 ausgesetzt war. Vor dem Hintergrund der tatsächlichen Verhältnisse in Tschetschenien und der familiären Umstände, dass der Bruder ihres Ehemannes im Jahr 2001 ermordet worden ist und der Schwiegervater in Folge eines Übergriffes an einem Herzanfall verstorben ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführerin oder einem ihrer Kinder derartiges wieder passieren würde. Laut den Länderfeststellungen des Bundesasylamtes im o.a. Bescheid auf Seite 18 ist bei abgeschobenen Personen, denen ein Engagement in der Tschetschenien-Frage unterstellt wird, davon auszugehen, dass diesen Personen von den russischen Behörden besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Von dieser Feststellung des Bundesasylamtes ausgehend, sind dem zuständigen Senat des Asylgerichtshofes keine rechtlichen oder tatsächlichen Umstände bekannt (geworden), durch welche die russischen Behörden gehindert sind bzw. wären, im gesamten Staatsgebiet der Russischen Föderation (auch außerhalb von Tschetschenien) jederzeit auf die Beschwerdeführerin und ihre Kinder zuzugreifen.

 

Angesichts des Umstandes, dass keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die russischen Sicherheitsbehörden der Beschwerdeführerin bzw. ihrer Familie effizienten Schutz vor Verfolgung durch jene Privatpersonen gewähren könnten, die für die Ermordung des Bruders des Ehemannes und/oder für die weiteren Übergriffe an ihrer Familie verantwortlich zu machen sind, ist das Vorliegen einer internen Schutzalternative im außerhalb von Tschetschenien gelegenen Staatsgebiet der Russischen Föderation auszuschließen. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Situation in der Russischen Föderation bzw. in Tschetschenien steht nach oben angeführten Maßstäben im gegenständlichen Fall fest, dass für die Beschwerdeführerin und ihre Familie in Anbetracht der persönlichen Umstände eine inländische Schutzalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation - trotz der Größe des Staates - nicht vorliegt. Infolgedessen ist im Fall der Beschwerdeführerin und ihrer Familie - im Gegensatz zum Bundesasylamt - das Bestehen einer aktuellen Verfolgungsgefahr im gesamten Staatsgebiet der Russischen Föderation zu bejahen.

 

Da sich im Verfahren überdies keine Hinweise auf Asylausschluss- oder Asylendigungsgründe ergeben haben, ist der Beschwerdeführerin gemäß § 7 AsylG idF 1997 BGBl. I. Nr. 101/2003 zu gewähren. Gemäß § 12 leg.cit. ist die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass der betroffenen Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

2.6. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
aktuelle Gefahr, Familienverband, Familienverfahren, gesamte Staatsgebiet, private Verfolgung, Schutzunfähigkeit, Volksgruppenzugehörigkeit
Zuletzt aktualisiert am
26.01.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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