TE AsylGH Erkenntnis 2008/11/06 D3 249983-0/2008

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.11.2008
beobachten
merken
Spruch

D3 249983-0/2008/20E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Kuzminski als Vorsitzenden und die Richterin Mag. Scherz als beisitzende Richterin im Beisein der Schriftführerin Kienast über die Beschwerde des G.G., geb. 00.00.1988, StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 21.04.2004, ZI 04 02.001-BAL, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.09.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und G.G. gemäß § 7 AsylG 1997 idF BGBI I 126/2002 Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg. cit. wird festgestellt, dass G.G. damit Kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

Entscheidungsgründe:

 

Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsbürger aus der Teilrepublik Dagestan, gelangte - damals noch als unbegleiteter Minderjähriger - am 06.02.2004 unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich und stellte noch am selben Tag einen Asylantrag.

 

Am 02.03.2004 wurde er durch das Bundesasylamt, Außenstelle Linz, im Beisein eines Vertreters des örtlich zuständigen Jugendwohlfahrtsträgers zuerst zum Fluchtweg und in der Folge zu den Fluchtgründen befragt. Dabei gab er an, dass sein Vater der wahabitischen Bewegung angehöre und die Wahabiten auch gewollt hätten, dass er am Tschetschenienkrieg teilnehme. Mit 15 Jahren gelte man in seiner Heimat nämlich bereits als Erwachsener. Seine Eltern wären dagegen gewesen, deswegen sei sein Leben in Gefahr gewesen. Polizisten hätten ihn erniedrigt und schikaniert. Er sei öfters drei Tage lang von der Polizei festgehalten und verhört worden, außerdem hätten öfters Hausdurchsuchungen stattgefunden. Auch die Wahabiten hätten ihn öfters mitgenommen und ihm unmissverständlich erklärt, dass er auf ihrer Seite kämpfen müsse und eine militärische Ausbildung absolvieren müsse. Eines Tages sei sogar auf das Haus der Familie geschossen worden. Vielleicht hätten ihn die Wahabiten umbringen wollen oder Lösegeld für ihn haben. Sein Vater sei verschwunden. Die Polizei habe ihn gesucht und von dem Antragsteller wissen wollen, wo sich sein Vater aufhalte. Eines Tages hätten ihm Polizisten Patronenhülsen in seine Jacke gesteckt, dies deswegen, weil er der Sohn eines Wahabiten sei. Seine Mutter hätte versucht, ihn zu verstecken, aber ihm dann erklärt, dass er so schnell als möglich aus Dagestan weg müsse, ansonsten werde er umgebracht. Er habe sich nicht politisch betätigt. Weiters habe er sich niemals längere Zeit außerhalb von Dagestan, aber innerhalb der Russischen Föderation aufgehalten und habe auch außerhalb von Dagestan keine Bekannten oder bekannte Freunde oder Verwandte. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation fürchte er, dass man ihn umbringen werde.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Linz, vom 21.04.2004, ZI 04 02.001-BAL, wurde der Asylantrag vom 06.02.2004 gemäß § 7 AsylG abgewiesen und unter Spruchteil II gemäß § 8 AsylG die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Antragstellers in die Russische Föderation für zulässig erklärt. In der Begründung des Bescheides wurde zunächst die oben bereits zusammenfassend wiedergegebene Einvernahme dargestellt und anschließend (allgemeine) Feststellungen zur Russischen Föderation getroffen. Sodann wurde beweiswürdigend ausgeführt, dass die behaupteten Fluchtgründe im Zuge der freien Beweiswürdigung weder widerlegt noch bestätigt hätten werden können. Der Antragsteller habe jedoch die Möglichkeit gehabt, sich gemeinsam mit seiner Mutter in andere Teile der Russischen Föderation zu begeben, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen, zumal er nicht der Ethnie der Tschetschenen angehöre. Im Übrigen seien Anhaltungen, Inhaftierungen und Vorführungen durch staatliche Organe rechtsstaatlich nicht zu beanstanden und daher keineswegs geeignete Asylgründe. Zu Spruchteil I. wurde insbesondere ausgeführt, dass sich die Verfolgungsgefahr - um asylrelevant zu sein - auf das gesamte Staatsgebiet des Herkunftslandes beziehen müsse. Selbst wenn die behauptete Bedrohung tatsächlich gegeben wäre, wäre es dem Asylwerber möglich, gemeinsam mit seiner Mutter, in einem anderen Landesteil Zuflucht zu finden, denn eine landesweite Verfolgung des Asylwerbers sei auf Grund der getroffenen Feststellungen nicht gegeben. Es liege somit eine inländische Fluchtalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließe. Zu Spruchteil II. wurde nach Darlegung der bezughabenden Rechtslage und Judikatur ausgeführt, dass sich die Gefahr nach den getroffenen Länderfeststellungen nicht auf das gesamte Staatsgebiet beziehe und daher wegen des Vorliegens einer inländischen Fluchtalternative spruchgemäß zu entscheiden gewesen sei.

 

Gegen diesen Bescheid erhob das Amt für Jugend und Familie im Rahmen des Magistrates der Landeshauptstadt Linz als zuständiger Jugendwohlfahrtsträger fristgerecht Berufung. Nach Darlegung des Sachverhaltes wurde kritisiert, dass das Ergebnis der Beweiswürdigung nicht nachvollzogen werden könne und es Aufgabe der Behörde gewesen wäre, wenn das Vorbringen tatsächlich nicht einer Überprüfung durch das Bundesasylamt zugänglich sei, im Rahmen der amtswegigen Ermittlungspflicht darauf hinzuwirken, dass der Berufungswerber sein Vorbringen konkretisiere. Das Bundesasylamt habe es überdies unterlassen, nur die geringsten Nachforschungen zur Rolle der Wahabiten in der Auseinandersetzung in Tschetschenien anzustellen und damit zusammenhängende Repressionen und Übergriffe durch russische Behörden, vor allem des russischen Geheimdienstes, im Kernland der Wahabiten in Dagestan zu ermitteln und hat es auch versäumt, Feststellungen zur Herkunftsrepublik des Berufungswerbers zu treffen. Die Feststellungen zur Russischen Föderation, die im Übrigen der gesetzlichen Vertretung des Asylwerbers nicht zuvor vorgehalten worden seien, womit das Parteiengehör verletzt worden sei, böten kaum Anknüpfungspunkte zum Vorbringen und seien daher als Grundlage der Entscheidung nicht tauglich. Im Übrigen sei dem Antragsteller eine inländische Fluchtalternative schon deswegen nicht offen gestanden, da seine Verbindungen zu den Wahabiten, wie die wiederholten Festnahmen durch die Polizei gezeigt hätte, amtsbekannt seien und er daher auch außerhalb von Dagestan Verfolgung zu befürchten gehabt hätte. Weiters habe der Berufungswerber über keinerlei Anknüpfungspunkte in anderen Teilen der Russischen Föderation verfügt und hätte die Gefahr bestanden, dass er dort in eine ausweglose Lage geraten würde. Der Berufungswerber werde auf Grund seiner nahen Verwandtschaft zu einem Kämpfer der wahabitischen Bewegung von den Behörden seines Heimatlandes verfolgt. Es werde ihm quasi die Unterstützung tschetschenischer Separatisten unterstellt und es sei nach der Judikatur auch eine unterstellte politische Gesinnung asylrelevant. Darüber hinaus habe die Weigerung des Berufungswerbers auf Seiten der Wahabiten zu kämpfen zu Übergriffen der Wahabiten auf ihn geführt, er sei schließlich offen mit dem Tod bedroht worden. Auch dies sei als politische Verfolgung zu betrachten. Er könne in diesem Fall nicht mit staatlichem Schutz rechnen; auch ein Vorbringen zum Refoulement wurde erstattet.

 

Mit Urteil des Landesgerichtes vom 00.00.2006 wurde der Berufungswerber wegen §§ 127, 105 iVm § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 2 Monaten bedingt auf eine Probezeit vom 3 Jahren verurteilt. Eine vom Unabhängigen Bundesasylsenat für den 27.11.2006 anberaumte mündliche Berufungsverhandlung konnte wegen nicht erfolgreicher Zustellung an den Berufungswerber nicht durchgeführt werden. Mit Schreiben vom 24.10.2007 gab der Antragsteller seine Vertretung durch Rechtsanwalt Dr. Peter ZAWODSKY bekannt. Der Berufung wurden Personaldokumente nachgereicht. Mit Schriftsatz vom 04.08.2008 legte der nunmehrige Beschwerdeführervertreter ein ärztliches Zeugnis des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. W.S. vom 15.02.2008 vor, wonach bei dem Beschwerdeführer ein posttraumatisches Syndrom sowie eine Beeinträchtigung der Motorik und Sensibilität durch eine Verletzung am linken Oberarm bestehe und trotz dauernder medikamentöser Behandlung noch immer ausgeprägte Störungen bestünden.

 

Die nunmehrige Berufungsbehörde, der Asylgerichtshof, beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 15.09.2008 an, zu der sich die Behörde erster Instanz entschuldigen ließ. Der Beschwerdeführer legte die bereits im Zuge des Berufungs- bzw. Beschwerdeverfahrens vorgelegte Geburtsurkunde, sowie eine mit Lichtbild versehene Bestätigung im Original vor, wobei der vorsitzende Richter diese der Dolmetscherin zur Übersetzung übergab. In der Geburtsurkunde ist bei der Volksgruppenzugehörigkeit des Vaters Aware und bei der Mutter Kumykin angeführt. Sodann führte der Beschwerdeführer über Befragen durch den vorsitzenden Richter, die beisitzende Richterin und den Beschwerdeführervertreter Folgendes aus:

 

VR: Welcher Volksgruppe und Religion gehören Sie an?

 

BF: Nach meinem Vater bin ich Aware und von der Religionszugehörigkeit bin ich Moslem. Meine Mutter ist Kumykin.

 

VR: Haben Sie wegen Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit bzw. wegen Ihrer gemischt-ethnischen Abstammung irgendwelche Probleme gehabt?

 

BF: Nein.

 

VR: Wo sind Sie geboren?

 

BF: In B., in Dagestan.

 

VR: Wo haben Sie im Laufe Ihres Lebens gelebt?

 

BF: Ich habe vorwiegend in M. gelebt.

 

VR: Haben Sie irgendwann einmal länger als einige Wochen außerhalb von Dagestan gelebt?

 

BF: Nein.

 

VR: Welche schulische oder sonstige Ausbildung haben Sie erhalten?

 

BF: Ich habe die Grundschule (9 Jahre) abgeschlossen. Ich begann an der Universität für Landwirtschaft zu studieren, aber nicht für lange, weil ich ausgereist bin. Auch wegen der Probleme in Dagestan konnte ich nicht weiter studieren.

 

VR: Hat sich Ihr Vater politisch betätigt?

 

BF: Mein Vater hat sich nicht mit Politik beschäftigt, aber er hat gekämpft. Er war gegen die russische Föderation. Die Kämpfe fanden in Tschetschenien und Dagestan statt. Er war bei der wahabitischen Bewegung.

 

VR: Können Sie angeben, seit wann Ihr Vater bei den Wahabiten war?

 

BF: Als der zweite Krieg in Tschetschenien begann, 1999 hat er sich den Wahabiten angeschlossen. Damals gab es auch den Krieg in Dagestan, in Karamachi und in Botlich. Er war an diesen kriegerischen Auseinandersetzungen gemeinsam mit den anderen beteiligt.

 

VR: War Ihr Vater ab diesem Zeitpunkt praktisch nicht mehr zu Hause oder hat er nur ab und zu gekämpft?

 

BF: Mein Vater ging oft für ein oder zwei Monate weg und kam dann wieder zurück. Mir hat man erklärt, dass mein Vater auswärts arbeitet. Das letzte Mal habe ich ihn im Jahre 2003 gesehen.

 

VR: Kam Ihr Vater auch mit anderen Wahabiten zu Ihnen nach Hause?

 

BF: Ja, das kam vor, aber ich war noch klein, mit mir hat man darüber nicht gesprochen. Sie waren auch vorsichtig, weil die föderalen Kräfte gegen die Wahabiten waren und man nicht wollte, dass ich etwas ausplaudere. Das wurde lange Zeit geheim gehalten, ich habe es erst nach und nach erfahren, als Nachbarn und Bekannte davon sprachen. Man sagte, dass ich auch kämpfen sollte.

 

BR: Wann war das?

 

BF: Als ich 15 Jahre alt war, da sagte man mir, ich sei doch schon erwachsen. Mein Vater wollte das nicht wirklich, da er wusste, welche Konsequenzen der Beitritt zu dieser Bewegung mit sich brachte.

 

BR: Wer hat sie dann zum Kampf aufgefordert?

 

BF: Mein Vater konnte mir nicht vor den anderen sagen, dass er nicht will, dass ich kämpfe, nur unter 4 Augen.

 

BR: Lebt Ihr Vater noch?

 

BF: Das weiß ich nicht, ich habe keinen Kontakt mehr mit meinem Vater, das letzte Mal habe ich ihn 2003 gesehen, ich kann auch nicht anrufen, weil die Föderalen die Anrufe abhören, außerdem ist meine Mutter auch nicht mehr zu Hause. Meine Mutter sagte mir, dass ich Dagestan auf jeden Fall verlassen solle, weil man mich sonst umbringen würde. Meine Eltern wollten, dass ich eine gute Ausbildung erhalte. Der Traum meiner Mutter war, dass ich Chirurg werde, sie wollte nicht, dass ich mit einem automatischen Gewehr herum laufe.

 

VR: Wie ist das konkret vor sich gegangen, dass die Wahabiten Sie zum Beitritt und zum Kämpfen aufforderten?

 

BF: Sie kamen zu uns nach Hause gemeinsam mit meinem Vater, aber sie kamen heimlich, sie wollten nicht gesehen werden. Sie sagten zu mir:

"Du wirst ja langsam erwachsen und du sollst kämpfen." Allerdings sollte ich zuvor eine militärische Ausbildung erhalten und dann erst kämpfen. Es ging darum, dass ich gegen die russischen Soldaten kämpfe.

 

VR: Wie haben Sie auf diese Aufforderung reagiert?

 

BF: Ich habe das damals nicht richtig verstanden. Sie machten auch Scherze dabei. Wissen Sie, der Kampf gegen die Russen dauerte ja schon fast 200 Jahre, das war schon unter Imam Schamil der Fall.

 

VR: Wie oft wurden Sie aufgefordert für die Wahabiten zu kämpfen?

 

BF: Sie begannen damit, als ich 15 Jahre alt wurde. Es war zwei oder drei Mal. Sie nahmen mich auch mit. Sie blieben mit mir in Kontakt.

 

VR: Haben Sie ursprünglich mit den Wahabiten sympathisiert?

 

BF: In den Krieg wollte ich keinesfalls ziehen. Wie kann man mit jemand sympathisieren, der andere Leute umbringt? Mein Vater wollte sich auch von den Wahabiten lösen, aber er konnte nicht mehr.

 

BR: Wo hätten Sie ausgebildet werden sollen?

 

BF: Sie hatten eigene dazu bestimmte Lager, dort versteckten sie sich und führten die Kampfhandlungen aus. Diese Lager gibt es in Dagestan in den Wäldern. Diese gibt es wahrscheinlich heute noch. Allerdings befinden sich die Leute nicht immer an einer Stelle.

 

Vorhalt: Beim BAA haben Sie angegeben, dass die Wahabiten Sie mehrmals entführt haben.

 

BF: Sie WOLLTEN mich entführen, sie haben es versucht, aber tatsächlich entführt haben sie mich nicht. Es war damals "in Mode" Personen zu entführen und dafür Lösegeld zu verlangen.

 

Vorhalt: Beim BAL haben Sie angegeben, dass Sie öfter von den Wahabiten mitgenommen wurden. Jetzt bestreiten Sie das. Was stimmt jetzt?

 

BF: Es gab Versuche, mich zu entführen, allerdings weiß ich nicht, ob es wirklich die Wahabiten waren. Mein Vater hat sich jedenfalls von den Wahabiten abgewendet. Ich weiß nicht, ob es mein Vater geschafft hat, sich von den Wahabiten zu lösen.

 

Vorhalt: Beim BAA haben Sie nicht davon gesprochen, dass sich Ihr Vater von den Wahabiten gelöst hat.

 

BF: Ich habe das gesagt. Meine Eltern wollten nicht, dass ich am Krieg teilnehme.

 

Vorhalt: Weiters haben Sie beim BAA widersprüchliche Angaben darüber gemacht, ob Sie eine militärische Ausbildung gemacht haben oder nicht.

 

BF: Man wollte, dass ich eine Ausbildung absolviere, dazu kam es aber nicht, sie sprachen nur davon, sie nahmen mich auch 2 oder 3x mit.

 

Vorhalt: Sie haben doch gerade gesprochen, dass sie nicht von den Wahabiten mitgenommen wurden, sondern dass es nur versucht wurde.

 

BF: Entführt wurde ich nicht, aber es kamen einmal Leute mit einem Auto. Sie wollten mich gewaltsam zum Einsteigen bringen. Ich begann zu schreien und lief davon. Sie setzten sich ins Auto und fuhren davon.

 

BR: Steht der Versuch, Sie mitzunehmen irgendwie in Zusammenhang damit, dass sich Ihr Vater von den Wahabiten abgewendet hat?

 

BF: Ja. Wie soll ich das erklären? Mein Vater wollte sich von der religiösen Bewegung lösen, sie wollten mich nicht einfach umbringen. Vielleicht wussten sie damals schon, dass sich mein Vater von ihnen trennt, vielleicht auch nicht. Sie haben mit mir darüber nicht gesprochen, sie sagten, dass ich mit ihnen kämpfen soll.

 

VR: Wurden Sie von den Wahabiten bedroht oder misshandelt?

 

BF: Soweit ist es nicht gekommen. Sie haben sehr schön darüber gesprochen und mir gesagt, dass es meine Pflicht sei, zu kämpfen.

 

VR: Hatten Sie wegen Ihres Vaters Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Organen?

 

BF: Ja, mit der Polizei, bei uns heißt das Miliz. Sie kamen oft zu uns, weil man nach meinem Vater gefahndet hat, sie machten Hausdurchsuchungen, weil bereits die Nachbarn wussten, dass er gegen die Russen kämpft. Mir wurden auch Patronen untergeschoben, ich weiß nicht, ob es von einer Pistole oder einem automatischen Gewehr war. Ich konnte nichts beweisen, die Polizisten waren zu zweit oder zu dritt. Ich sollte mich an die Wand stellen, damit sie mich überprüfen können. Dabei steckten sie mir die Patronen zu. Ich sagte gleich: "Das sind nicht meine Patronen." und sie antworteten:

"Beweise es!" Das war eine Provokation. Dann machten sie eine Hausdurchsuchung. Die Meldung wird überprüft, als ich danach befragt wurde, sagte ich wo ich wohne. Ich wurde manchmal auf der Straße angehalten, manchmal kamen sie auch von alleine zu uns nach Hause.

 

VR: Wie oft gab es solche Suchmaßnahmen?

 

BF: Sie fragten oft nach meinem Vater. Man hat mich auch mitgenommen. Das Revier befand sich an der "X-Straße". Dort im Keller hat man mich festgehalten. Ich wurde auch in andere Polizeireviere gebracht, aber ich weiß die Adresse nicht. Sie haben mich jeweils 2 oder 3 Tage festgehalten. Sie sagten, dass sie wissen, dass mein Vater kämpft, ich sagte, dass das nicht wahr ist und sie fragten mich dann, ob ich auch kämpfen will. Sie haben mich geschlagen und misshandelt und mir kein Essen gegeben. Sie sagten mir auch, dass ich in diesem Keller sterben werde. Sie sagten, ich solle ihnen sagen, wo sich mein Vater befindet, sonst werden sie mich umbringen. Ich schäme mich zu sagen, wie sie mich misshandelt haben. Schon die Tatsache, dass sie mich geschlagen haben, ist für mich beschämend.

 

BR: Wie alt waren Sie, als Sie das erste Mal von der Polizei mitgenommen wurden?

 

BF: Ich war schon 15 Jahre alt.

 

VR: War das bevor Sie die Wahabiten zum Kämpfen aufgefordert haben oder nachher?

 

BF: Sie wussten damals schon, dass mein Vater kämpft. Die Wahabiten haben das vorher von mir gefordert und sie sagten auch, dass sie mich nicht in Ruhe lassen werden.

 

VR: Nochmals: Wie oft wurden Sie von der Polizei mitgenommen?

 

BF: 3 oder 4x wurde ich mitgenommen. Aber nach Hause kamen sie öfter. 3x haben sie mich im Keller festgehalten.

 

BR: Ist Ihre Mutter auch von der Polizei mitgenommen worden?

 

BF: Ja, man hat sie verhört. Man hat Druck auf sie ausgeübt, indem man ihr sagte, man würde mich ins Gefängnis stecken, wenn sie nicht sagt, wo sich mein Vater befindet. Gefängnis bedeutet bei uns den sicheren Tod. Man wird erst im TBC-Endstadium entlassen, damit man nicht dort stirbt.

 

VR: Wie lange wurden Sie festgehalten?

 

BF: Manchmal 2, manchmal 3 Tage. 5 Tage hat es auch gegeben. Ich habe damals beim BAA nicht alles gesagt. Beim letzten Mal wurde ich fast eine Woche festgehalten, meine Mutter ist fast verrückt geworden, das war vor meiner Abreise.

 

VR: Unter welchen Umständen wurden Sie frei gelassen? Wurde Lösegeld gezahlt?

 

BF: Nein. Sicher ist das so, dass man Geld zahlen muss. Ich kann das nicht genau sagen, vielleicht ist meine Mutter auch hingegangen und hat Geld bezahlt.

 

VR: Hat Ihre Mutter mit Ihnen nicht darüber gesprochen?

 

BF: Sie sagte mir nur, ich solle Dagestan verlassen. Sie sagte, dass man mich umbringen wird.

 

VR: Hat Ihnen persönlich auch jemand gedroht?

 

BF: Ja, die Polizei. Die Leute von der wahabitischen Bewegung gaben mir auch zu verstehen, dass sie es ernst meinen. Sie sagten mir, dass ich fast einer von ihnen bin und dass mein Vater mit ihnen gekämpft hat und ich das auch tun solle.

 

VR: Beim BAA haben Sie weiter einen Anschlag auf das Haus Ihrer Eltern erwähnt.

 

BF: Das Haus meiner Eltern wurde beschossen. Ich weiß nicht, wer das war. Im November oder Dezember 2003 wurde eine Granate in den Hof unseres Hauses geworfen, es war ungefähr Mitternacht, ich war in einem anderen Zimmer, ich habe die Granate nicht gesehen, aber ich glaube, es war eine Handgranate. Diese Granate ist im Hof explodiert und die Fenster sind zersprungen. Meine Mutter hat eine Verletzung davon getragen. Ein Balken hat sich zur Hälfte von der Decke gelöst. Sie ging aber nicht zur Polizei, da sie wusste, dass es keinen Sinn hat.

 

VR: Sie wurden bei diesem Vorfall nicht verletzt?

 

BF: Ich wurde durch die Druckwelle zu Boden geschleudert. Deswegen hatte ich auch Spuren am Körper. Es waren oberflächliche Hautverletzungen. Meine Mutter hat wesentlich mehr abbekommen.

 

VR: Was war der unmittelbare Anlass Ihrer Ausreise?

 

BF: Die Wahabiten wollten, dass ich kämpfe und die Polizisten ließen mich auch nicht in Ruhe. Sie sagten, der Sohn hat zu kämpfen, wenn der Vater kämpft. In Dagestan gibt es bis zum heutigen Tag Terroranschläge. Wenn die Polizei weiß, dass jemand mit dieser Bewegung in Berührung gekommen ist, ist er immer verdächtig, es gibt viele Bombenanschläge.

 

VR: Wann und wie sind Sie nach Österreich gekommen?

 

BF: Ich fuhr am 27. Jänner weg, ich fuhr nach Moskau. Ein Mann, den meine Mutter organisiert hat, hat mich begleitet. Zu Mittag bin ich mit dem Zug in Moskau angekommen und am Abend war ich schon in einem Auto. Ich bin auch mit dem Auto gefahren. Es ging darum, dass ich die Kontrollen umgehe. Moskau habe ich mit einem LKW verlassen.

 

VR: Haben Sie noch Kontakt zu Verwandten in Dagestan?

 

BF: Nein, sie sind zwar unsere Verwandten, sie haben sich losgesagt, als sie erfahren haben, dass mein Vater kämpft.

 

VR: Wissen Sie, wo sich Ihr Vater oder Ihre Mutter aufhalten?

 

BF: Von meinem Vater weiß ich gar nichts. Als ich nach Österreich kam, hatte ich noch eine Telefonnummer, ich habe meiner Mutter ausrichten lassen, dass ich in Österreich bin. Sonst habe ich nichts mehr von ihr gehört. Meine Mutter sagte, dass ich am Festnetz nicht anrufen soll. Es gab ständige Überprüfungen. Meine Mutter wollte auch Dagestan verlassen, die Polizei hat sie auch nicht in Ruhe gelassen. Es gab auch Hausdurchsuchungen, nachdem ich ausgereist bin. Meine Mutter wurde gefragt, wo ich bin.

 

BR: Woher wissen Sie das, da Sie doch angegeben haben, mit Ihrer Mutter nicht mehr in Kontakt zu sein?

 

BF: Das wurde mir im Zuge des einen Telefonates gesagt, wo ich mitteilte, dass ich in Österreich bin.

 

VR: Haben Sie irgendwo in der russischen Föderation außer Dagestan Verwandte oder Freunde?

 

BF: Nein.

 

VR: Was machen Sie in Österreich?

 

BF: Ich arbeite hier bei einer Firma , das ist eine Reinigungsfirma. Ich habe eine Beschäftigungsbewilligung in Oberösterreich. Ich habe früher Kickboxen trainiert. Ich habe auch eine Deutschkurs gemacht und einen Kurs für Lagerlogistik sowie den Staplerführerschein.

 

VR: Haben Sie als Kickboxer besondere Erfolge gehabt?

 

BF: Ich habe zwei Wettbewerbe gewonnen, kann aber nicht zu Turnieren ins Ausland fahren.

 

VR: Welcher Verein ist das, wo sie trainieren?

 

BF: Thaibox- und Kickboxclub . Unser Trainer heißt XY.

 

VR: Besteht eine Lebensgemeinschaft mit einer Österreicherin oder einer dauernd aufenthaltsberechtigten Fremden?

 

BF: Nein, aber ich habe österreichische Freunde. Sie helfen mir und wir verstehen uns gut.

 

VR: Was würde mit Ihnen geschehen, wenn Sie nach Dagestan zurückkehren würden?

 

BF: Man würde mich umbringen. Was soll ich dort? Ich habe dort nichts und niemanden mehr. Ich möchte hier in Österreich normal leben. Ich möchte hier irgendwann eine Familie gründen.

 

VR: Was würde mit Ihnen geschehen, wenn Sie in andere Teile der russischen Föderation gehen würden?

 

BF: Ich komme aus Dagestan, der Familienname meines Vaters ist schon bei den Behörden bekannt. Abgesehen davon werden bei uns Personen mit kaukasischer Herkunft nicht aufgenommen bzw. schlecht behandelt. Man nennt uns "Schwarze". Ich will auch nicht nach Russland. Ich bin schon 20 Jahre, ich will auch nicht in die Armee, ich müsste sonst gegen mein eigenes Volk kämpfen. Viele Russen sind beim Krieg in Tschetschenien ums Leben gekommen, deswegen wird Personen kaukasischer Herkunft feindlich begegnet. Außerdem gibt es jetzt den Konflikt zwischen Georgien und Russland, es werden dort junge Menschen hingeschickt und sie wissen nicht, wofür sie kämpfen.

 

VR: Gibt es noch etwas, was Ihnen für die Begründung Ihres Asylantrages wichtig erscheint und Sie noch nicht erwähnt haben?

 

BF: Ich denke, nein.

 

Über Befragen durch den BFV:

 

BFV: Sind Sie bei den Festnahmen durch die Polizei verletzt worden?

 

BF: Ja, meine Nase wurde gebrochen, ich hatte viele blaue Flecken.

 

BFV: Wurde diese Nasenverletzung operativ behandelt?

 

BF: Ja, in Österreich wurde ich operiert, sonst hätte ich keine Luft bekommen.

 

BFV: Machen Sie eine Psychotherapie?

 

BF: Ja.

 

VR: Das ärztliche Zeugnis stammt von einem Mediziner aus XX, Sie wohnen doch in Linz?

 

BF: Ich wohne erst seit einem Monat in Linz, ich muss mir in Oberösterreich jetzt einen Arzt suchen. Ich hatte schon früher in Linz Ärzte und Psychologen, die sich um mich gekümmert haben.

 

BR: Wie lange arbeiten Sie schon?

 

BF: Insgesamt ein bisschen mehr als ein Jahr.

 

Am Schluss der Verhandlung wurde den Verfahrensparteien gemäß § 45 Abs. 3 AVG das Parteiengehör unter Setzung einer Frist von drei Wochen zur Abgabe einer Stellungnahme zu folgenden Dokumenten eingeräumt:

 

Bescheid des UBAS vom 3.11.2004 Zahl: 227.336/11-VIII/22/04 beinhaltend allgemeine Feststellungen zu den Wahabiten

 

Accord-Anfragebeantwortung vom 22.6.2006

 

Accord-Anfragebeantwortung vom 16.11.2006

 

Focus: "Russland, Dagestan - ein zweites Tschetschenien", Teil 1 und 2 des Schweizer Bundesamtes für Migration.

 

Bericht über die asyl und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 25.2.2006.

 

Bericht über die asyl und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 13.1.2008

 

Länderfeststellungen Dagestan einschließlich Wahabiten der Staatendokumentation

 

International Crisis Group, "Russia's Dagestan: Conflict causes" vom 2.6.2008

 

Von der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme machte nur der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer Gebrauch. Er legte zunächst eine Kopie der Beschäftigungsbewilligung des AMS Linz, gültig bis 21.08.2009, sowie Teilnahmebestätigung eines Kurses für den sicheren Betrieb von Staplern und für Lagerlogistik vor und führte zu den vorgehaltenen Länderberichten aus, dass diese die innenpolitische Situation in seinem Heimatland korrekt wiedergeben würden und sein Asylvorbringen stützen würden.

 

Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Senat wie folgt festgestellt und erwogen:

 

Zur Person des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:

 

Er ist Staatsbürger der Russischen Föderation und Moslem. Sein Vater gehört der Volksgruppe der Awaren an, seine Mutter jener der Kumyken. Er wurde am 00.00.1988 in B. in der Teilrepublik Dagestan geboren und lebte die meiste Zeit in der dagestanischen Hauptstadt M.. Er hielt sich jedenfalls nicht mehr als bloß einige Wochen außerhalb von Dagestan vor seiner Flucht auf. Nach der neunjährigen Grundschule begann er mit einer höheren landwirtschaftlichen Schule, welche er jedoch wegen der fluchtkausalen Problemen und der anschließenden Flucht nicht abschließen konnte.

 

Sein Vater schloss sich im Jahre 1999 der wahabitischen Bewegung an und kämpfte auf der Seite der Rebellen sowohl in Tschetschenien als auch in Dagestan gegen die russische Obrigkeit. Im Laufe der Zeit wollte sich der Vater des Beschwerdeführers von den Wahabiten lossagen. Ob ihm das gelungen ist, entzieht sich der Kenntnis des Beschwerdeführers, zumal er diesen zuletzt im Jahre 2003 sah und sein Vater seither verschollen ist.

 

Als der Beschwerdeführer 15 Jahre alt war, forderten ihn die Wahabiten auf, mit ihnen zu kämpfen, was jedoch seine Eltern, vor allem seine Mutter, nicht wollten. Die Wahabiten versuchten auch, ihn zu entführen. Es kam jedoch zu keiner tatsächlichen Entführung.

 

Der Beschwerdeführer wurde mehrfach von der Polizei festgenommen und zwei bis drei Tage angehalten, wobei sie ihn auch misshandelten und mit dem Tod bedrohten. Sie forderten ihn auf, den Aufenthaltsort seines Vaters bekannt zu geben und drohten ihm weiters, ihn im Gefängnis verschwinden zu lassen. Im November oder Dezember 2003 wurde eine Granate in den Hof des Hauses der Eltern des Beschwerdeführers geworfen, wobei dieses erheblich beschädigt wurde und seine Mutter verletzt wurde und auch der Beschwerdeführer durch die Druckwelle zu Boden geschleudert wurde. Zuletzt wurde der Beschwerdeführer auch von Seiten der Wahabiten bedroht.

 

Über Aufforderung seiner Mutter verließ der Beschwerdeführer am 27.01.2004 Dagestan und gelangte über Moskau mit Schlepperhilfe - und unter Umgehung der Grenzkontrolle - am 06.02.2004 nach Österreich, wo er sogleich einen Asylantrag stellte. Nach seiner Ausreise wurde seine Mutter ständig nach ihm befragt, auch Hausdurchsuchungen erfolgten. Nunmehr hat der Beschwerdeführer jedoch keinen Kontakt mehr mit seiner Mutter. Der Beschwerdeführer verfügt über eine Beschäftigungsbewilligung bis zum 21.08.2009 und ist als Raumpfleger bei einerFirma beschäftigt, nebenbei trainierte er auch Kickboxen, absolvierte einen Deutschkurs, sowie Kurse für Lagerlogistik und Staplerfahren. Bei den Misshandlungen durch die Polizei wurde dem Beschwerdeführer auch die Nase gebrochen, welche in Österreich operiert werden musste. Der Beschwerdeführer leidet unter einem posttraumatischen Syndrom, sowie unter einer Beeinträchtigung der Motorik und Sensibilität am linken Oberarm.

 

Zu Dagestan wird Folgendes festgestellt:

 

Allgemein:

 

In Dagestan leben 2,5 Millionen Menschen, die über 30 verschiedenen Volksgruppen angehören. Die Awaren sind die größte Gruppe. Die Mehrheit der Bevölkerung sind sunnitische Muslime, es gibt aber auch schiitische, christliche und jüdische Minderheiten. Die Widersprüche zwischen diesen ethnisch religiösen Gruppen sind erheblich.

 

In Dagestan haben bereits vor Ausbruch des Tschetschenien-Krieges TschetschenInnen gelebt. Während sie in Inguschetien 2002 mit rund 20 Prozent die zweit größte Volksgruppe nach den Inguschen stellen, sind die Tschetschenen Dagestans, die Akkiner, mit 3.4 Prozent der Bevölkerung eine kleine Minderheit.

 

Mukhu Aliyev wurde als Präsident im November 2006 von Vladimir Putin vorgeschlagen und in weiterer Folge vom dagestanischen Parlament bestätigt.

 

Das DRC berichtete in ihrem Mission Report, Juli 2006 von 5956 IDP-s in Dagestan, von denen 807 als gefährdet bezeichnet wurden.

 

Sicherheitslage:

 

Dagestan ist 2005 Schauplatz einer Serie von Mordanschlägen - rund 70 allein zwischen Januar und Juli 2005 - auf führende Sicherheitsbeamte und andere Exponenten der Staatsgewalt gewesen. Im Rahmen einer groß angelegten Fahndungsaktion im Januar 2005 kam es in der ganzen Republik zu mehreren hundert Festnahmen, wobei allerdings die Grenze zwischen Terroristen und gewöhnlichen Kriminellen zunehmend verwischt wurde. Die lokale Mafia, Extremisten und die russischen Sicherheitskräfte bekämpfen sich immer offener. Der Kreml hat auf diese Eskalation bisher hauptsächlich mit der Aufstockung seiner Truppen geantwortet. Nicht nur die Widerstandskämpfer tragen den bewaffneten Konflikt in letzter Zeit vermehrt in die Nachbarrepubliken Tschetscheniens, auch die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiten ihre Aktivitäten offenbar aus. Ramzan Kadyrov hat bereits offen erklärt, er wolle auch in Dagestan "für Ordnung sorgen". Dabei ist es auch bereits zu offenen Konflikten mit den dagestanischen Sicherheitskräften gekommen. Moskau stützt offenbar die tschetschenischen Bemühungen, denn seit Oktober 2004 ist Ramzan Kadyrov u.a. Berater Dimitri Kosaks und zuständig für dessen Zusammenarbeit mit den lokalen Sicherheitskräften.

 

In Dagestan finden seit Jahresbeginn 2005 nahezu täglich Sprengstoffanschläge und Schießereien mit Toten und Verletzten statt. Ziel von Anschlägen sind Polizeiautos und - patrouillen, Bahnlinien, Gas- und Stromleitungen und öffentliche Gebäude. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen Beobachtern verüben dagestanische Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverletzungen, allen voran Festnahmen und Folter. Diese Übergriffe sind willkürlich, nicht gegen spezielle Bevölkerungsgruppen gerichtet.

 

Rebellen begehen gezielt Anschläge auf Angehörige der Sicherheits- und Verwaltungsstrukturen und politische Führungskader.

 

Was letztlich auch durch die Zahl von ca. 200 getöteten Angehörigen der Polizei bzw. Truppen des Innenministeriums in den letzten 4 Jahren bezeugt wird. So seien alleine im Jahr 2005 60 getötet und 120 verletzt worden.

 

Im Vergleich zu den Nachbarrepubliken fällt bei den Terroranschlägen in Dagestan auf, dass mindestens die Hälfte von ihnen gegen höhere Beamte, ein Drittel gegen Sicherheitsbeamte und der Rest gegen Armeeangehörige gerichtet sind. Die Zivilbevölkerung insgesamt wird weniger in Mitleidenschaft gezogen, so dass es aus der Bevölkerung auch keinen starken Widerstand gegen die Anschläge gibt.

 

Berichten zufolge beträgt die Anzahl der Rebellen in Dagestan zwischen 500 - 2000. Am 15. Juli besuchte der russische Präsident Wladimir Putin überraschend auch Dagestan. Der bevollmächtigte Vertreter des Präsidenten im Südbezirk der Russischen Föderation, Dmitri Kosak, hatte die Situation in der Republik in einem offiziellen Bericht als sehr gespannt geschildert. Dagestan sei durch separatistische Bewegungen gefährdet, die nach einer Trennung von Russland streben. Ursachen seien der enorme Einflussgewinn radikaler Islamisten und der Kampf zwischen zahlreichen politischen Klans. Wachsende Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen machten die Situation zusätzlich gefährlich. In wachsendem Maße fallen die Interessen der regierenden moskautreuen Klans und der übrigen Bevölkerung auseinander. Das könnte eine der Ursachen für die Terroranschläge sein, von denen Dagestan in den letzten Monaten heimgesucht wird. Allerdings sind für die Anschläge nicht immer radikale Islamisten verantwortlich. Der Kampf um die Aneignung ehemaligen Staatseigentums, Privatisierung genannt, ist in Dagestan besonders blutig verlaufen. Wer sich und seinem Klan ein wichtiges Wirtschaftsobjekt sichern will, schreckt bisweilen vor Auftragsmord nicht zurück. Andererseits wird auch der Kampf der Polizeitruppen gegen Islamisten und Separatisten oft mit äußerster Härte geführt. Unter den paramilitärischen Operationen leiden Frauen, Kinder und Alte. So werden Polizisten und Beamte wiederum Opfer der Rache von Bergbewohnern. Gezielt verübt eine neue radikale Gruppierung namens "Islamische Jamaat Scharia" Anschläge gegen Polizisten. Bei Razzien in der gesamten Republik aber besonders in der Hauptstadt Machatschkala und im Gebiet Chasawjurt, an der Grenze zu Tschetschenien, sollen seit Jahresbeginn mehrere hundert Personen festgenommen worden sein. Die Grenzen zwischen bloßer Kriminalität und politisch motivierten Guerillaaktivitäten scheinen sich dabei immer stärker zu verwischen. "Kriminelle Gruppen, nationalistische Rebellen, fanatische Terroristen und Sicherheitskräfte sind in einem feinmaschigen Netz aus wechselnden Allianzen, Intrigen und offenen Konflikten gleichermaßen gefangen", schreibt die NZZ am 13.1.2005.

 

Betreffend Wahabiten, insbesondere in Dagestan wird folgendes festgestellt:

 

Der Name Wahabiten oder Wahabisten geht auf einen gewissen Mohamad Alwahab (geboren 1703), der im 18. Jahrhundert den Islam von vorislamischen lokalen Traditionen reinigen wollte und den Islam in seiner "reinen" Form, wie er zur Zeit des Prophet Mohameds existierte, propagierte und nachträgliche Einflüsse und Veränderungen nach dem Tod des Propheten ablehnte. Diese islamische Richtung ist in Saudi-Arabien, Afghanistan und dem Sudan Staatsreligion und wird die diese Lehre im Laufe der 90er Jahre - mit kräftiger Unterstützung aus Saudi-Arabien - auch in den moslemischen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, insbesondere auch in Dagestan, propagiert. Dagestan war schon seit Beginn der 90er Jahre das Zentrum des Wahabismus in der ehemaligen Sowjetunion und verbreitete sich dieses Gedankengut über Literatur und Kassetten auch in andere Teile Russlands aus und erhielten die Wahabisten vor allem unter jüngeren, meist ärmeren Männern großen Zulauf, weil sie offen gegen die Russen kämpften und von ihnen Waffen, Fahrzeuge und einen Sold erhielten.

 

In Dagestan (und in Tschetschenien) fußt der Islam auch auf lokalen Traditionen, insbesondere werden lokale Scheichs verehrt und nicht nur zur Allah, sondern auch zu Mohamed und den jeweiligen Scheichs gebetet. Rein äußerlich zeigt sich der Unterschied vor allem darin, dass die Wahabisten fordern, dass die Frauen einen Chador und die Männer einen Bart tragen und ein asketisches Leben, wie die Taliban in Afghanistan, führen sollen. Die Wahabiten lehnen weiters Heiligenverehrungen, Gesänge und Tänze auf Hochzeiten und Beerdigungen sowie vor allem die Scheichs, die an der Spitze der Suffi-Orden stehen, und insgesamt die traditionelle geistliche Hierarchie, ab und ähneln in ihren Zielsetzungen und ihrer Struktur anderen fundamentalistischen moslemischen Bewegungen, wie den Moslembrüdern in Ägypten und der islamischen Heilsfront in Algerien. Ende etwa 1997 / 1998 dürfte der berüchtigte Emir Chattab eine Militärschule in der Nähe von Bujnaksk errichtet haben, wo er "Brüder" für den "Jihad" ausbildete. Die wahabistischen Kämpfer bildeten so eine Art "Staat im Staate".

 

Bis zum Jahre 1999 hatte die Tätigkeit wahabistischer Gruppen in Dagestan systematisch zugenommen und sich die Sicherheitslage derart verschärft, dass die föderalen und lokalen Sicherheitskräfte bewaffnete anti-terroristische Operationen begangen, wobei zahlreiche Personen, die im Verdacht standen mit den Wahabisten zusammenzuarbeiten, verhaftet wurden.

 

Im Sommer 1999 sind tschetschenische Rebellen unter dem Kommando von Jamil Bassajev in Dagestan einmarschiert, wodurch sich der Tschetschenienkonflikt auch nach Dagestan ausweitete. Am 16.09.1999 erließ die dagestanische Regierung ein Gesetzt über das Verbot wahabistischer und anderer extremistischer Tätigkeit auf dem Gebiet der Republik Dagestan. Auch seit Dezember 2003 kam es immer wieder zu Gefechten zwischen russischen Truppen und tschetschenischen Freischärlern in Dagestan, wobei russische Truppen Panzerartillerie und Militärflugzeuge einsetzten.

 

Wahabiten werden - vor allem von russischer Seite - häufig mit Terroristen gleichgesetzt. Es kommt immer wieder vor, dass Verwandte von Terrorverdächtigen von russischen Behördenorganen als Geiseln genommen werden, um die Verdächtigen zur Aufgabe zu zwingen, indem den Verwandten Folter und Mord angedroht wird. Solche Aktionen wurden sogar vom russischen Generalstaatsanwalt als mögliche Maßnahmen zur Terrorbekämpfung bezeichnet. Der Tschetschenienkonflikt hat sich zunehmend auch auf Dagestan ausgedehnt und eskaliert dort die tägliche Gewalt.

 

Beweis wurde erhoben durch Einvernahme des Aylwerbers durch die Behörde erster Instanz am 02.03.2004, sowie im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung des Asylgerichtshofes vom 15.09.2008, durch Vorlage einer Geburtsurkunde und einer mit Lichtbild versehenen Bestätigung durch den Beschwerdeführer (samt Übersetzung dieser Urkunden durch die Behörde zweiter Instanz), durch Vorlage von medizinischen Bestätigungen durch den Beschwerdeführer, sowie durch Vorhalt der oben näher bezeichneten Dokumente.

 

Die Beweise werden wie folgt gewürdigt:

 

Die in der Berufung ausdrücklich geforderten Feststellungen zu Dagestan und den Wahabiten sind diesbezüglichen aktuellen Länderfeststellungen der bei der Grundsatz- und Dublinabteilung des Bundesasylamtes eingerichteten Staatendokumentation, sowie einem Bescheid des UBAS vom 03.11.2004, ZI 227.336/11-VIII/22/04, entnommen, wobei auch die Primärquellen genannt wurden und diese aktualisiert wurden. Weiters wurde eine Anfragebeantwortung von ACCORD zu den Wahabiten und Dagestan als Ergänzung herangezogen. Sämtliche Dokumente wurden dem Parteiengehör unterzogen und hat sich dazu nur der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer zustimmend geäußert.

 

Das Vorbringen eines Asylwerbers ist dann glaubhaft, wenn es vier Grunderfordernisse erfüllt (diesbezüglich ist auf die Materialien zum Asylgesetz 1991 [RV Blg Nr. XVIII GP; AB 328 Blg Nr XVIII GP] zu verweisen, welche auf Grund der diesbezüglichen Verwaltungsgerichtshof-Judikatur erarbeitet wurden):

 

Das Vorbringen des Asylwerbers ist genügend substantiiert. Dieses Erfordernis ist insbesondere dann nicht erfüllt, wenn der Asylwerber den Sachverhalt sehr vage schildert oder sich auf Gemeinplätze beschränkt, nicht aber in der Lage ist, konkret und detaillierte Angaben über sein Erlebnis zu machen.

 

Das Vorbringen muss, um als glaubhaft zu gelten, in sich schlüssig sein. Der Asylwerber darf sich nicht in wesentlichen Aussagen widersprechen.

 

Das Vorbringen muss plausibel sein, d.h. mit den Tatsachen oder der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen. Diese Vorraussetzung ist u.a. dann nicht erfüllt, wenn die Darlegungen mit den allgemeinen Verhältnissen im Heimatland nicht zu vereinbaren sind oder sonst unmöglich erscheinen und

 

der Asylwerber muss persönlich glaubwürdig sein. Das wird dann nicht der Fall sein, wenn sein Vorbringen auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt ist, aber auch dann wenn er wichtige Tatsachen verheimlicht oder bewusst falsch darstellt, im Laufe des Verfahrens das Vorbringen auswechselt oder unbegründet und verspätet erstattet oder mangelndes Interesse am Verfahrensablauf zeigt und die nötige Mitwirkung verweigert.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in zahlreichen Erkenntnissen betont, wie wichtig der persönliche Eindruck, den das zur Entscheidung berufene Mitglied der Berufungsbehörde im Rahmen der Berufungsverhandlung von dem Berufungswerber gewinnt, ist (siehe z. B. VwGH vom 24.06.1999, 98/20/0435, VwGH vom 20.05.1999, 98/20/0505, u.v.a.m.).

 

Das Vorbringen des Beschwerdeführers ist hinreichend konkret und substantiiert und war er einigermaßen in der Lage, die konkreten fluchtkausalen Erlebnisse nachvollziehbar darzustellen. Das Vorbringen war jedoch insbesondere innerhalb der Aussagen vor der Behörde erster Instanz widersprüchlich. So behauptete er einerseits, eine militärische Ausbildung (durch die Wahabiten) erhalten zu haben und andererseits, dass diese nur wollten, dass er eine solche Ausbildung mache (was er in der Beschwerdeverhandlung wiederholt hat) und weiters ist ein Widerspruch darin zu erblicken, dass der Beschwerdeführer bei der Behörde erster Instanz angab, von den Wahabiten mehrmals entführt worden zu sein, während er in der Beschwerdeverhandlung ausführte, dass es nur beim Versuch geblieben sei. Dem Beschwerdeführer muss man allerdings zugute halten, dass er im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Einvernahme noch keine 16 Jahr alt war und er im Zuge der Beschwerdeverhandlung (als nunmehr Volljähriger) durchaus konkrete und widerspruchsfreie Angaben machen konnte.

 

Das Vorbringen des Beschwerdeführers erscheint insgesamt durchaus plausibel und mit der Erfahrung des vorsitzenden Richters auf Grund seiner früheren Tätigkeit beim Unabhängigen Bundesasylsenat im gleichen Länderbereich, sowie den dem Verfahren zu Grunde liegenden länderkundlichen Feststellungen zu vereinbaren.

 

Es ist auch nichts hervorgekommen, dass sich der Beschwerdeführer auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt hat. Er hat erst im Zuge des Beschwerdeverfahrens eine Geburtsurkunde, sowie ein Schreiben mit einem Lichtbild vorgelegt. Es kann auch nicht von einem Verheimlichen von Tatsachen oder bewusster falscher Darstellung gesprochen werden, wenn auch die Ausführungen in der Beschwerdeverhandlung ausführlicher sind als vor der Erstinstanz. Keineswegs kann ein mangelndes Interesse am Verfahrensablauf oder eine Unterlassung der nötigen Mitwirkung festgestellt werden.

 

Auch als Person macht der Beschwerdeführer keinen unglaubwürdigen Eindruck. Weiters fallen seine Bemühungen um eine Integration (legale Arbeit, sportliche Betätigung, Besuch von Kursen) positiv auf.

 

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der Asylgerichtshof letztlich doch von der Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdeführers (welche auch von der Behörde erster Instanz nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen wurden) ausgeht, obwohl doch Widersprüche vorliegen, welche allerdings möglicherweise auf das jugendliche Alter des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Einvernahme zurückzuführen sind.

 

Die festgestellten Erkrankungen beruhen auf den ärztlichen Zeugnissen des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. W. A.

S.

 

Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

Gemäß § 75 AsylG 2005 BGBl. I Nr. 100/2005 sind alle am 31. Dezember 2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetztes 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG 1997 gilt.

 

Gemäß § 75 Abs 7 Z 2 AsylG 2005 sind abweisende Bescheide, welche am 01.07.2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängig und in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, von Asylgerichtshof nach dem nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat weiterzuführen.

 

Gemäß § 44 Abs. 1 AsylG 1997 werden Verfahren zur Entscheidung über Asylanträge und Asylerstreckungsanträge, die bis zum 30. April 2004 gestellt wurden, nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 126/2002 geführt.

 

Da der gegenständliche Asylantrag am 06.02.2004 gestellt wurde, war er nach der Rechtslage des Asylgesetzes 1997 idF BGBI I 2002/126, woraus sich die gegenständliche Zuständigkeit ergibt, zu beurteilen.

 

Gemäß § 7 Asylgesetz 1997 hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art. 1, Abschnitt A, Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling i.S.d. AsylG 1997 ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "begründete Furcht vor Verfolgung."

 

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht, (zB VwGH vom 19.12.1995, 94/20/0858, VwGH vom 14.10.1998, 98/01/0262).

 

Nach den glaubwürdigen Angaben des Beschwerdeführers unterliegt dieser in seiner Heimat einer zweifachen Bedrohungs- bzw. Verfolgungssituation: einerseits wurde er als heranwachsender Sohn eines wahabitischen Kämpfers, der von den russischen Behörden als Terrorist gesucht wurde, mehrfach festgenommen, misshandelt und bedroht, wobei hier von einer von der Intensität her durchaus asylrelevanten Verfolgung auszugehen ist. Wenn sich auch der Beschwerdeführer selbst nicht im Sinne der wahabitischen Kämpfer betätigt hat, so wird im vorliegenden Fall der Zusammenhang zu den in der GFK taxativ aufgezählten Verfolgungsgründen durch die soziale Gruppe der Familie vermittelt (zB. VwGH vom 22.08.2006, ZI 2006/01/0251 ua.).

 

Darüber hinaus wurde der Beschwerdeführer von den Wahabiten zunächst zum Kämpfen bzw. zum Beitritt zum Zwecke einer militärischen Ausbildung aufgefordert und letztlich immer konkreter bedroht, sodass auch hier eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgungsgefahr anzunehmen ist.

 

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. schon Steiner, Österreichisches Asylrecht [1990] 30; aus jüngerer Zeit etwa die Erkenntnisse des VwGH vom 27. Juni 1995, 94/20/0836; vom 24. Oktober 1996, 95/20/0231; vom 28. März 1995, 95/19/0041, u. v.a.) liegt eine dem Staat zuzurechnende Verfolgungshandlung nicht nur dann vor, wenn diese unmittelbar von staatlichen Organen aus Gründen der Konvention gesetzt wird, sondern es kann eine dem Staat zuzurechnende asylrelevante Verfolgungssituation auch dann gegeben sein, wenn der Staat nicht gewillt oder - wie es in der bisherigen Rechtsprechung ausgedrückt wurde - nicht in der Lage ist, von "Privatpersonen" ausgehende Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, sofern diesen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - Asylrelevanz zukommen sollte (siehe Erkenntnis des VwGH vom 04.05.2000, 99/20/0177)

 

Wenn es sich bei den Verfolgungen durch die Wahabiten wohl um keine staatliche Verfolgung handelt und grundsätzlich der dagestanische Staat durchaus gewillt ist, Verfolgung durch Wahabiten hintanzuhalten, ist er im konkreten Fall offenbar jedoch nicht in der Lage, dem Berufungswerber den erforderlichen Schutz zu gewähren, zumal er den Berufungswerber selbst verfolgt. Diesbezüglich liegt eine Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Religion vor, weil der Beschwerdeführer nicht gewillt war, die wahabitische Ausprägung des Islam bzw. der politischen Gesinnung zu unterstützen, weil er den bewaffneten Kampf, den Tschihad, ablehnt ("wie kann man mit jemandem sympathisieren, der andere Leute umbringt?").

 

Der Beschwerdeführer hätte daher bei einer Rückkehr in seine Heimat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Eingriffen von hoher Intensität in seine zu schützende persönliche Sphäre, sowohl von der russischen Obrigkeit als auch von den Wahabiten, zu rechnen, wobei er im letzteren Fall nicht mit einer ausreichenden staatlichen Schutzgewährung rechnen könnte.

 

Der Beschwerdeführer, der (vor seiner Flucht nach Österreich) fast sein ganzes Leben in M./Dagestan verbracht hat und sich keineswegs eine längere Zeit in anderen Teilen der Russischen Föderation niedergelassen hat, verfügt auch nicht über Verwandte oder Bekannte in der Russischen Föderation, aber außerhalb von Dagestan (vielmehr ist sein Vater verschwunden und hat er zu seiner Mutter keinen Kontakt mehr). Wie der Beschwerdeführer zurecht ausführte, wäre er als Sohn eines Terrorverdächtigen nach Überzeugung des Asylgerichtshofes auch in anderen Teilen der Russischen Föderation nicht hinreichend sicher, wobei noch die allgemeinen Probleme auf Grund seiner kaukasischen Herkunft hinzukommen. Dem gegenüber ist der Beschwerdeführer in Österreich schon recht gut integriert, besuchte Kurse, arbeitet legal und betreibt Sport (mag dies auch nicht unmittelbar asylrelevant sein). Der Asylgerichtshof geht daher - im Gegensatz zur Behörde erster Instanz - davon aus, dass dem Beschwerdeführer in anderen Teilen Russlands (außerhalb von Dagestan) keine zumutbare inländische Fluchtalternative offen steht.

 

Dem Beschwerdeführer war daher Asyl zu gewähren.

Schlagworte
aktuelle Gefahr, asylrechtlich relevante Verfolgung, Familienverband, gesamte Staatsgebiet, Integration, Misshandlung, politische Gesinnung, private Verfolgung, Religion, Schutzunfähigkeit, soziale Gruppe, Zurechenbarkeit
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten