TE AsylGH Erkenntnis 2008/12/01 E4 264339-0/2008

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Veröffentlicht am 01.12.2008
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Spruch

GZ.E4 264.339-0/2008-6E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. GABRIEL als Vorsitzende und die Richterin Dr. HERZOG-LIEBMINGER als Beisitzerin im Beisein der Schriftführerin Fr. SOVKA über die Beschwerde der E.Z., geb. 00.00.1981, StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.09.2005, FZ. 04 20.364-BAS, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

 

1. Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige und Angehörige der kurdischen Volksgruppe, reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und brachte am 05.10.2004 einen Asylantrag (nunmehr Antrag auf internationalen Schutz) ein.

 

Dazu wurde die Beschwerdeführerin am 07.10.2004 vor dem Bundesasylamt, EAST West sowie am 30.08.2005 vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Salzburg, niederschriftlich einvernommen.

 

Die Beschwerdeführerin gab dazu im Wesentlichen an, sie habe im Jahr 2001 an einer 1. Mai Demonstration teilgenommen und sei infolgedessen polizeilich befragt worden. Anlässlich dieser Befragung sei es zu Übergriffen gekommen und habe man versucht, sie zu schlagen und an den Haaren gezerrt. Die Polizisten haben sie auch bedroht und sie zu Hause aufgesucht (zuletzt am 00. oder 00. September 2004). Insgesamt sei sie zwanzigmal belästigt worden; dies erfolge entweder zu Hause oder auf der Straße, wo sie auch sexuell belästigt worden sei. Der Grund für diese Belästigungen sei darin gelegen, dass sie alleine sei. Man habe als Kurdin auch nicht die Möglichkeit die kurdische Sprache zu sprechen. Auch das Unternehmen ihrer Schwester sei unter Kontrolle gestellt worden.

 

Der Grund für die polizeilichen Belästigungen sei darin gelegen, dass sie Kurdin sei.

 

2. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.09.2005, FZ 04 20.364-BAS, wurde der Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 AsylG 1997 idgF abgewiesen (Spruchpunkt I), die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig erklärt (Spruchpunkt II) und die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen (Spruchpunkt III).

 

Der Bescheid wird im Wesentlichen damit begründet, dass die Angaben der Beschwerdeführerin als unglaubwürdig zu qualifizieren sind.

 

3. Gegen diesen Bescheid wurde durch den rechtsfreundlichen Vertreter der Beschwerdeführerin fristgerecht Berufung (nunmehr Beschwerde) erhoben.

 

4. Mit Einrichtung des Asylgerichtshofes wurde der gegenständliche Verfahrensakt der Gerichtsabteilung E4 zugeteilt.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG idF BGBL. I Nr. 100/2005 sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen; § 44 AsylG 1997 gilt. Die §§ 24, 26, 54 bis 57 und 60 dieses Bundesgesetzes sind auf diese Verfahren anzuwenden. § 27 ist auf diese Verfahren mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Behörde zur Erlassung einer Ausweisung zuständig ist und der Sachverhalt, der zur Einleitung des Ausweisungsverfahrens führen würde, nach dem 31. Dezember 2005 verwirklicht wurde. § 57 Abs. 5 und 6 ist auf diese Verfahren mit der Maßgabe anzuwenden, dass nur Sachverhalte, die nach dem 31.12.2005 verwirklicht wurden, zur Anwendung dieser Bestimmungen führen.

 

"Anhängige Verfahren" im Sinne des § 75 Abs.1 sind sowohl bei den Asylbehörden als auch bei VwGH oder VfGH anhängige Verfahren. Im Falle der Aufhebung des Berufungsbescheides kommt in diesen Fällen beim Asylgerichtshof nunmehr das AsylG 1997 zur Anwendung.

 

Gemäß § 44 Abs. 2 AsylG werden Asylanträge, die ab dem 1. Mai 2004 gestellt werden, nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997, BGBl. I Nr. 76/1997, in der jeweils geltenden Fassung geführt.

 

Die Beschwerdeführerin hat ihren Asylantrag nach dem 30.04.2004 gestellt; das Verfahren war am 31.12.2005 anhängig, weshalb das gegenständliche Beschwerdeverfahren nach dem AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76 in der Fassung BGBl. I Nr. 101/2003 zu führen ist.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

2. Gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 AsylG entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes.

 

Aufgrund der Geschäftsverteilung wurde gegenständlicher Verfahrensakt dem erkennenden Senat zugewiesen, woraus sich dessen Zuständigkeit ergibt.

 

3. Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde (kraft oben zitierter Bestimmung auch der AsylGH, es bestehen diesbezüglich keine materiellrechtlichen Sondernormen), so der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen.

 

Gemäß Absatz 3 dieser Gesetzesstelle kann die Berufungsbehörde jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist.

 

4. Gemäß § 28 AsylG 1997 haben die Asylbehörden in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen durch Fragestellung oder in anderer geeigneter Weise darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Bescheinigungsmittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Bescheinigungsmittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Bescheinigungsmittel auch von Amts wegen beizuschaffen. Diese Rechtsnorm stellt eine Konkretisierung der aus § 37 AVG i.V.m. § 39 Abs. 2 leg. cit. hervorgehenden Verpflichtung einer Verwaltungsbehörde, den maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen, dar.

 

5. Gemäß § 45 Abs. 3 AVG ist den Parteien Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis der Beweisaufnahme Kenntnis zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen. Den Parteien ist das Ergebnis der behördlichen Beweisaufnahme in förmlicher Weise zur Kenntnis zu bringen und ausdrücklich unter Setzung einer angemessenen Frist Gelegenheit zu geben, zu diesen Ergebnissen Stellung zu nehmen (VwGH 05.09.1995, Zl. 95/08/0002). Gegenstand des Parteiengehörs sind sämtliche Ergebnisse der Beweisaufnahme. Auch soweit die Behörde bestimmte Tatsachen als offenkundig behandelt, ist dies der Partei bekannt zu geben (VwGH 17.10.1995, Zl. 94/08/0269). Gemäß der Rechtssprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 27.02.2003, Zl. 2000/18/0040) ist die Verletzung des Parteiengehörs zwar saniert, wenn im Bescheid die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens dargelegt werden und die Partei die Möglichkeit hat, in ihrer Berufung dagegen Stellung zu nehmen - Voraussetzung einer solchen Sanierung ist aber, dass in der erstinstanzlichen Bescheidbegründung tatsächlich alle Beweisergebnisse dargelegt werden, da ansonsten der Asylgerichtshof das Parteiengehör einräumen müsste (VwGH 25.03.2004, Zl. 2003/07/0062).

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnissen vom 21. November 2002, Zl. 2002/20/0315 und Zl. 2000/20/0084, grundsätzliche Ausführungen zur Anwendbarkeit des § 66 Abs. 2 AVG im Asylverfahren im Allgemeinen und durch den Unabhängigen Bundesasylsenat im Besonderen getätigt. Dabei hat er im letztgenannten Erkenntnis insbesondere ausgeführt:

 

"Bei der Abwägung der für und gegen eine Entscheidung gemäß § 66 Abs. 2 AVG sprechenden Gesichtspunkte muss nämlich auch berücksichtigt werden, dass das Asylverfahren nicht nur möglichst kurz sein soll. Zur Sicherung seiner Qualität hat der Gesetzgeber einen Instanzenzug vorgesehen, der zur belangten Behörde und somit zu einer gerichtsähnlichen, unparteilichen und unabhängigen Instanz als besonderem Garanten eines fairen Asylverfahrens führt (vgl. bereits das Erkenntnis vom 16. April 2002, Zl. 99/20/0430). Die der belangten Behörde in dieser Funktion schon nach der Verfassung zukommende Rolle einer "obersten Berufungsbehörde" (Art. 129c 1 B-VG) wird aber ausgehöhlt und die Einräumung eines Instanzenzuges zur bloßen Formsache degradiert, wenn sich das Asylverfahren einem eininstanzlichen Verfahren vor der Berufungsbehörde nähert, weil es das Bundesasylamt ablehnt, auf das Vorbringen sachgerecht einzugehen und brauchbare Ermittlungsergebnisse in Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsstaat in das Verfahren einzuführen."

 

Im Erkenntnis vom 17.10.2006 (Zl 2005/20/0459) hat der VwGH betont, dass eine Behebung nach § 66 Abs 2 AVG nur zulässig ist, wenn eine weitere Verhandlung/Einvernahme erforderlich ist, was nicht der Fall wäre, wenn die Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens durch schriftliches Parteiengehör saniert hätten werden können.

 

Zusammengefasst ergibt sich aus der zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine umfangreiche und detaillierte Erhebung des asylrechtlich relevanten Sachverhaltes durch die erstinstanzliche Behörde durchzuführen ist.

 

6. Eine Erhebung solcher Art ist im vorliegenden Fall aus mehreren Gründen zu verneinen.

 

Zunächst ist festzuhalten, dass sich der angefochtene Bescheid überwiegend auf Länderfeststellungen aus den Jahren 2001 und 2002 stützt, welche zum Entscheidungszeitpunkt im September 2005 als veraltet zu qualifizieren sind, weshalb von einer unzureichenden Aktualität der Quellen ausgegangen werden kann. Zur Aktualität von Länderfeststellungen vgl. auch VwGH 09.03.1999, 89/01/0287; 11.11.1998, 98/01/0284, 07.06.2000, 99/01/0210.

 

Überdies sind als Quellen auch Internetadressen zitiert, welche jedoch nicht nachzuvollziehen sind.

 

Soweit sich die Feststellungen zur Lage in der Türkei im gegenständlichen Bescheid auf Bescheide des Unabhängigen Bundesasylsenates stützen, ist festzuhalten, dass diese einerseits zum Entscheidungszeitpunkt nahezu fünf Jahre alt waren und andererseits nicht geeignet sind, als Quellen im gegenständlichen Verfahren herangezogen zu werden, zumal die zitierten Bescheide für die Beschwerdeführerin nicht ohne weiteres öffentlich zugänglich sind und überdies nicht nachvollzogen werden kann, auf welche Teile des Bescheides respektive welche Quellen Bezug genommen wird.

 

Im übrigen wurden die verwendeten länderkundlichen Feststellungen der Beschwerdeführerin im erstinstanzlichen Verfahren nicht im Zuge des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht, weshalb die Beschwerdeführerin erst durch den Bescheid davon Kenntnis erlangte, was bei vorliegender Sachlage als hinzukommendes Faktum der Vollständigkeit halber zu erwähnen ist (der Asylgerichtshof übersieht in diesem Zusammenhang nicht die eventuelle Sanierung der Verletzung des Parteiengehörs durch die Berufungsmöglichkeit).

 

Diese Umstände sind angesichts der Tatsache, dass es sich beim Bundesasylamt um eine Spezialbehörde handelt, als gravierender Mangel zu qualifizieren.

 

Eine bloße Aneinanderreihung teils veralteter Informationen ohne jede systematische Bewertung oder wissenschaftliche Aufarbeitung vermag im Bereich der Länderfeststellungen nicht zu genügen.

 

Das Bundesasylamt wird im fortgesetzten Verfahren seiner Entscheidung jedenfalls aktuelle Länderfeststellungen zugrundezulegen haben, wobei zu beachten ist, dass diese auch auf die individuelle Situation der Beschwerdeführerin (Kurdin, alleinstehende Frau, Funktionieren der Strafrechtspflege in der Türkei, Schutzfähigkeit des türkischen Staates, Versorgungslage alleinstehender Frauen) vor allem auch in Verbindung mit einer allfälligen Rückkehr der Beschwerdeführerin in die Türkei Bezug zu nehmen haben.

 

In der Einvernahme wurde seitens der Beschwerdeführerin ferner behauptet, seitens der Polizei auch sexuell belästigt worden zu sein, was jedoch nicht näher hinterfragt wurde bzw. auch nicht abgeklärt wurde, ob sich die Beschwerdeführerin mittels Anzeige bzw. Beschwerde an übergeordnete Behörden um Hilfe bemüht hat. Die Beschwerdeführerin gab auch an, das Unternehmen ihrer Schwester werde kontrolliert, und wurde es diesfalls ebenfalls unterlassen, die Beschwerdeführerin zu einer Konkretisierung ihrer Angaben aufzufordern.

 

Vor diesem Hintergrund ist die Beweiswürdigung, wonach die Angaben der Beschwerdeführerin nicht konkretisiert und allgemein gehalten seien und daher nicht den Tatsachen entsprechen würden, nicht als schlüssig zu bezeichnen. Der Asylgerichtshof übersieht nicht, dass die einvernehmende Referentin in anderen Bereichen sehr wohl durch mehrmaliges Nachfragen versuchte, die Beschwerdeführerin zu konkreteren Angaben zu veranlassen, jedoch wäre auch im genannten Zusammenhang ein aktiveres Nachfragen angebracht gewesen.

 

Vor allem wäre jedoch die Situation der Beschwerdeführerin im Lichte einer beabsichtigten Ausweisung seitens des Bundesasylamtes abzuklären gewesen und erscheint die diesbezügliche Frage an die Beschwerdeführerin, ob sie zu einer beabsichtigten Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet etwas anzugeben habe, nicht geeignet, den für die Ausweisungsentscheidung maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, zumal nicht davon ausgegangen werden kann, dass für die Asylwerberin aus dieser Fragestellung ableitbar ist, worauf diese Frage abzielt.

 

Im fortgeführten Verfahren werden mittels einer neuerlichen Befragung die Lebensumstände - schon in Anbetracht der seit der Einvernahme vergangenen Zeit (dazu auch VwGH, 19.12.2007, 2006/20/0425-6)- der Beschwerdeführerin genauer zu ermitteln sein und in weiterer Folge eine Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK vorzunehmen sein. Dementsprechend wird das Bundesasylamt aktuelle Feststellungen zur Frage der Zulässigkeit der Ausweisung zu treffen haben. Dies vor allem auch im Lichte der Tatsache, dass Familienangehörige der Beschwerdeführerin in Österreich leben, was im Übrigen schon zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung der Fall und dem Bundesasylamt auch bekannt war.

 

Die Begründung der Erstbehörde für die Zulässigkeit der Ausweisung greift auch zu kurz, wenn das Bundesasylamt lediglich feststellt, dass in Bezug auf die Beschwerdeführerin in Österreich kein Familienbezug in Form einer Kernfamilie zu einem dauernd aufenthaltsberechtigten Fremden vorliegt und folglich die Ausweisung keinen Eingriff in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstelle.

 

Die Erstbehörde übersieht in diesem Zusammenhang, dass sich der Art. 8 EMRK zugrunde liegende - durch die Rechtsprechung der Straßburger Instanzen (EKMR und EGMR) entwickelte - Familienbegriff nicht im Begriff der Kernfamilie des § 1 Ziffer 6 Asylgesetz erschöpft, sondern darüber hinausgeht. Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern, sondern auch z.B. Beziehungen zwischen Geschwistern (EKMR 14.3.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Eltern und erwachsenen Kindern (etwa EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215). Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt. Es kann nämlich nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass zwischen Personen, welche miteinander verwandt sind, immer auch ein ausreichend intensives Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK besteht, vielmehr ist dies von den jeweils gegebenen Umständen, von der konkreten Lebenssituation abhängig. Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK setzt daher neben der Verwandtschaft auch andere, engere Bindungen voraus. Die Beziehungen müssen eine gewisse Intensität aufweisen. So ist etwa darauf abzustellen, ob die betreffenden Personen zusammengelebt haben, ein gemeinsamer Haushalt vorliegt oder ob sie (finanziell) voneinander abhängig sind (vgl. dazu EKMR 6.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215; EKMR 19.7.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.2.1979, 7912/77, EuGRZ 1981,118; EKMR 14.3.1980, 8986/80 EuGRZ 1982,311; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1).

 

Schließlich wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass jedenfalls im Falle einer neuerlichen negativen Ausweisungsentscheidung eine solche zielstaatsbezogen im Sinne der einschlägigen höchstgerichtlichen Judikatur zu erfolgen haben wird.

 

Ausgehend von diesen Überlegungen war im vorliegenden Fall das dem Asylgerichtshof gemäß § 66 Abs. 2 und 3 AVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung zu üben.

 

Besondere Gesichtspunkte, die aus der Sicht der Beschwerdeführerin gegen eine Kassation des erstinstanzlichen Bescheides sprechen würden, sind nicht hervorgekommen.

 

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden und wird die Erstbehörde im fortgesetzten Verfahren die dargestellten Mängel zu verbessern haben.

Schlagworte
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
06.02.2009
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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