TE Vfgh Erkenntnis 2007/12/1 B531/07

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Veröffentlicht am 01.12.2007
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Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

EMRK österr Vorbehalt zu Art5
EMRK österr Vorbehalt zu Art6
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
StVO 1960 §99a
VfGG §88
VStG §51e Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung voreinem Tribunal durch Bescheiderlassung seitens des UnabhängigenVerwaltungssenates betreffend Inbetriebnahme eines Kraftfahrzeugs inalkoholisiertem Zustand wegen Unterlassung der Durchführung einerBerufungsverhandlung; keine Bedenken gegen die dem UVS einenErmessensspielraum einräumende verwaltungsstrafrechtliche Bestimmungüber das Absehen von einer Berufungsverhandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.340,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 2. Mai 2006 wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt:

"1. Sie haben, wie anhand der bei der Verkehrskontrolle am Dienstag, dem 30.08.2005 auf der A 12 Inntalautobahn bei Straßenkilometer 24.300 auf der Kontrollstelle Kundl beschlagnahmten Schaublätter festgestellt werden konnte, als Lenker des Sattelkraftfahrzeuges mit dem Kennzeichen ... (Sattelzugfahrzeug), welches der Güterbeförderung dient und ein höchstzulässiges Gesamtgewicht von mehr als 3,5 t aufweist, vom 24.08.2005 von 04:16 Uhr bis zum 24.08.2005 um 22:46 Uhr 11 Stunden und 49 Minuten gelenkt, ohne in diesem Zeitraum eine tägliche oder wöchentliche Ruhezeit einzulegen, obwohl gemäß Art6 Abs1 der VO (EWG) Nr. 3820/85 die Gesamtlenkzeit zwischen zwei täglichen oder einer täglichen und einer wöchentlichen Ruhezeit 9 Stunden und zweimal pro Woche 10 Stunden nicht übersteigen darf.

2. Sie haben, wie anhand der bei der Verkehrskontrolle am Dienstag, dem 30.08.2005 auf der A 12 Inntalautobahn bei Straßenkilometer 24.300 auf der Kontrollstelle Kundl beschlagnahmten Schaublätter festgestellt werden konnte, als Lenker des Sattelkraftfahrzeuges mit dem Kennzeichen ... (Sattelzugfahrzeug), welches der Güterbeförderung dient und ein höchstzulässiges Gesamtgewicht von mehr als 3,5 t aufweist

-

am 24.08.2005 das Sattelkraftfahrzeug zwischen 04:16 Uhr und 09:34 Uhr insgesamt 5 Stunden und 6 Minuten gelenkt und in diesem Zeitraum keine länger als 15-minütige Fahrtunterbrechung im Gesamtausmaß von mindestens 45 Minuten eingelegt.

-

am 24.08.2005 das Sattelkraftfahrzeug zwischen 17:04 Uhr und 22:46 Uhr insgesamt 5 Stunden und 13 Minuten gelenkt und in diesem Zeitraum keine länger als 15-minütige Fahrtunterbrechung im Gesamtausmaß von mindestens 45 Minuten eingelegt,

obwohl gemäß Art7 Abs1 der VO (EWG) Nr. 3820/85 nach einer Lenkzeit von 4 1/2 Stunden eine Unterbrechung von mindestens 45 Minuten einzulegen ist, wobei diese Unterbrechung gemäß Abs2 auch durch Unterbrechungen von jeweils mindestens 15 Minuten ersetzt werden kann, die dabei in die Lenkzeit oder unmittelbar nach dieser so einzufügen sind, dass Abs1 eingehalten wird.

              3.              Sie haben, wie anhand der bei der Verkehrskontrolle am Dienstag, dem 30.08.2005 auf der A 12 Inntalautobahn bei Straßenkilometer 24.300 auf der Kontrollstelle Kundl beschlagnahmten Schaublätter festgestellt werden konnte, als Lenker des Sattelkraftfahrzeuges mit dem Kennzeichen ... (Sattelzugfahrzeug), welches der Güterbeförderung dient und ein höchstzulässiges Gesamtgewicht von mehr als 3,5 t aufweist, zwischen 24.08.2005 04:16 Uhr und 25.08.2005 04:16 Uhr, die tägliche Ruhezeit von neun, elf bzw. zwölf Stunden innerhalb von 24 Stunden nicht eingehalten, da die längste zusammenhängende Ruhezeit in diesem 24-stündigen Zeitraum (unter Berücksichtigung der Auswertetoleranz) lediglich 5 Stunden und 30 Minuten und die gesamte Ruhezeit von 12 Stunden und 10 Minuten, obwohl gemäß Art8 Abs1 der VO (EWG) Nr. 3820/85 dann, wenn die Ruhezeit innerhalb von 24 Stunden in zwei oder drei Abschnitten genommen wird, ein Abschnitt mindestens acht zusammenhängende Stunden betragen muss, und sich die Mindestruhezeit in diesem Fall zudem auf 12 Stunden erhöht."

Dadurch habe der Beschwerdeführer gegen §134 Abs1 Kraftfahrgesetz 1967 iVm Art6 Abs1, 7 Abs1 und 8 Abs1 der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates vom 20. Dezember 1985 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr verstoßen. Über ihn wurden Geldstrafen bzw. Ersatzfreiheitsstrafen verhängt und die Verpflichtung zum Ersatz der Verfahrenskosten ausgesprochen.

2. Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer Berufung an den Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol (im Folgenden: UVS), in der er ausdrücklich den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung stellte. In der Berufung führte der Beschwerdeführer unter anderem aus:

"Der vorgehaltene Sachverhalt wird bestritten. Insbesondere wird die örtliche Zuständigkeit gerügt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Fahrten außerhalb der Europäischen Union stattgefunden haben. Zwischen Kontrollort und Kontrollzeit und den einzelnen vorgeworfenen Sachverhalten liegen Zeitintervalle, die auch eine größere örtliche Entfernung bedingen. Insbesondere ist der Beschuldigte zu den Zeiten/Zeiträumen, die bei den vorgehaltenen Verstößen angeführt werden, nicht in Österreich gefahren. Deshalb ist hier die Rüge der örtlichen Zuständigkeit zu erheben."

3. Mit Spruchpunkt I. des Bescheides des UVS vom 7. Februar 2007 wurde die Berufung - ohne zuvor eine mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben - als unbegründet abgewiesen. Mit Spruchpunkt II. des Bescheides wurde das Straferkenntnis wie folgt berichtigt:

"Spruchpunkt 1. des angefochtenen Straferkenntnisses wird insofern richtig gestellt, als die Gesamtlenkzeit 11 Stunden, 38 Minuten (04:16 Uhr bis 22:49 Uhr) zu betragen hat.

Spruchpunkt 2. wird insoferne berichtigt, als es zu lauten hat: 'zwischen 04:16 Uhr und 09:33 Uhr, insgesamt 4 Stunden, 57 Minuten' und 'zwischen 17:03 Uhr und 22:49 Uhr, insgesamt 5 Stunden, 18 Minuten'.

In Spruchpunkt 3. wird die Dauer der längsten zusammenhängenden Ruhezeit auf 4 Stunden, 52 Minuten berichtigt."

4. Dagegen richtet sich die gemäß Art144 B-VG erhobene Beschwerde, in der insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung bei der Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage durch ein Tribunal (Art6 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.

5. Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der er den Beschwerdeausführungen entgegentritt und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

2.1. Im Erkenntnis VfSlg. 16.624/2002 hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass im Verwaltungsstrafverfahren eine Verletzung der durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Verfahrensgarantie stattfindet, wenn der UVS - der insofern als das zur Entscheidung über die strafrechtliche Anklage zuständige Tribunal einschreitet - einen Schuldspruch fällt, ohne zuvor die erforderliche mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben, obwohl keine Gründe für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung vorliegen.

2.2. Der Beschwerdeführer hat ausdrücklich eine mündliche Verhandlung beantragt. Der UVS hat jedoch die Durchführung unterlassen, ohne dies im Bescheid zu begründen.

2.3. Zur Rechtfertigung dafür beruft sich der UVS in seiner Gegenschrift unter anderem darauf, dass der Berufung nicht zu entnehmen sei, welchen Sachverhaltsfeststellungen die mündliche Verhandlung dienen hätte sollen.

2.4. Der Inhalt des Berufungsvorbringens lässt erkennen, dass Elemente vorgebracht wurden, die die Bestreitung von Tatfragen beinhalten. Die Berufung beschränkte sich nicht darauf, die rechtliche Beurteilung eines ansonsten außer Streit stehenden Sachverhalts durch die Erstbehörde zu bekämpfen, vielmehr beinhaltet sie die Bestreitung des von der ersten Instanz angenommenen Sachverhalts. Die belangte Behörde ging im Übrigen sogar selbst vom Vorliegen strittiger Tatfragen aus, zumal sie zur Frage der Lenk- und Ruhezeiten ein eigenes Beweisverfahren durchführte (Einholung eines Gutachtens eines Sachverständigen für Kraftfahrzeug- und Schifffahrtstechnik) und die Ergebnisse ihrer Erhebungen dem angefochtenen Bescheid zugrunde legte. Im Übrigen hatte der Beschwerdeführer die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung beim UVS ausdrücklich beantragt, sodass auch von einem Verzicht nicht ausgegangen werden kann. Auf Grund des Berufungsvorbringens waren vom UVS auch nicht ausschließlich Rechtsfragen zu lösen.

3. Der Beschwerdeführer wurde daher in seinem gemäß Art6 Abs1 EMRK garantierten Recht verletzt (vgl. VfSlg. 16.624/2002, VfGH 9.10.2002, B36/02, VfGH 9.10.2002, B807/02).

Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 360,- sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 180,-

enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Ermessen, Straßenpolizei, Alkoholisierung, UnabhängigerVerwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung, Verhandlungmündliche, Öffentlichkeitsprinzip, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2007:B531.2007

Zuletzt aktualisiert am

30.01.2009
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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