TE Vfgh Erkenntnis 2002/10/9 B807/02

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.10.2002
beobachten
merken

Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

EMRK österr Vorbehalt zu Art5
EMRK österr Vorbehalt zu Art6
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
StVO 1960 §99a
VfGG §88
VStG §51e Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal durch Bescheiderlassung seitens des Unabhängigen Verwaltungssenates betreffend Inbetriebnahme eines Kraftfahrzeugs in alkoholisiertem Zustand wegen Unterlassung der Durchführung einer Berufungsverhandlung; keine Bedenken gegen die dem UVS einen Ermessensspielraum einräumende verwaltungsstrafrechtliche Bestimmung über das Absehen von einer Berufungsverhandlung

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid wird aufgehoben.

Das Land Tirol ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Rechtsvertreters die mit € 2.142,- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Landeck vom 22. Februar 2001 wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe

"am 05.08.2000 um 22.09 Uhr das Fahrzeug (Kombi), Kennzeichen (...), auf der Arlbergstraße S-16 bei km 15,0884 in Flirsch in Fahrtrichtung Osten gelenkt (...) und die durch Straßenverkehrszeichen in diesem Bereich zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 50 km/h überschritten".

Dadurch habe der Beschwerdeführer gegen §52 lita Z10a iVm.

§99 Abs3 lita StVO 1960 verstoßen. Über ihn wurde eine Geldstrafe und eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt und die Verpflichtung zum Ersatz der Verfahrenskosten ausgesprochen.

2. Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer Berufung an den Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol (in der Folge: UVS). Im Rahmen der Ausführung seiner Berufung bestritt er den Vorwurf, wonach er zum Tatzeitpunkt am Tatort zu schnell gefahren sei mit den Worten:

"Das Straferkenntnis vom 22.02.2001 (...) wird seinem gesamten Inhalt und Umfang nach angefochten. (...) Der Beschuldigte hat bereits in seiner Stellungnahme vom 17.01.2001 klargestellt, daß er keinesfalls mit 110 km/h zur behaupteten Tatzeit am behaupteten Tatort gefahren ist (...)".

Der Beschwerdeführer stellte beim UVS ausdrücklich den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

Der UVS führte ein Ermittlungsverfahren durch, indem er das Landesgendarmeriekommando für Tirol ersuchte, sich zur Frage der Eichung und der Funktionsfähigkeit des Radargerätes zu äußern, mit dem die zur Last gelegte Geschwindigkeitsüberschreitung festgestellt worden sei.

Nachdem er dem Beschwerdeführer schriftlich Gelegenheit zur Stellungnahme zur Äußerung des Landesgendarmeriekommandos erteilt hatte, fällte der UVS sein Berufungserkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung, bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid und verpflichtete den Beschwerdeführer zum Ersatz der Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die gemäß Art144 B-VG erhobene Beschwerde, in der insbesondere die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung bei der Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage durch ein Tribunal (Art6 Abs1 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides beantragt wird.

4. Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der er den Beschwerdeausführungen entgegentritt und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

2.1. Mit Erkenntnis vom 25. September 2002, B1737/01, hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, daß im Verwaltungsstrafverfahren eine Verletzung der durch Art6 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Verfahrensgarantie stattfindet, wenn der UVS - der insofern als das zur Entscheidung über die strafrechtliche Anklage berufene Tribunal einschreitet - einen Schuldspruch fällt, ohne zuvor die erforderliche mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben, obwohl keine Gründe für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung vorlagen.

Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde vom Berufungswerber ausdrücklich beantragt. Der UVS hat von einer mündlichen Verhandlung abgesehen, ohne dies im Bescheid zu begründen.

2.2. Zur Rechtfertigung des Absehens von einer mündlichen Verhandlung beruft sich der UVS in seiner Gegenschrift darauf, daß das Berufungsvorbringen im Wesentlichen nur Rechtsfragen aufwarf, und daß der Beschwerdeführer keine Anträge auf Einvernahme von Zeugen gestellt hatte.

Diese Einwände stehen im Widerspruch zum Inhalt des Verwaltungsaktes. Die Berufung beschränkte sich nicht bloß darauf, die rechtliche Beurteilung eines ansonsten außer Streit stehenden Sachverhalts durch die Erstbehörde zu bekämpfen, sondern sie beinhaltet vielmehr die Bestreitung des von der ersten Instanz angenommenen Sachverhalts. Davon, daß Tatfragen strittig waren, ging die belangte Behörde im Übrigen sogar selbst aus, zumal sie zur Frage der ordnungsgemäßen Eichung und Funktionstüchtigkeit des Radargerätes, mit dem die Geschwindigkeit des Tatfahrzeuges gemessen worden sei, ein eigenes Beweisverfahren durchführte (Einholung einer Äußerung des Landesgendarmeriekommandos) und die Ergebnisse ihrer Erhebungen im angefochtenen Bescheid zur Widerlegung des Berufungsvorbringens heranzog.

Es kann daher keine Rede davon sein, daß vom UVS aufgrund des Berufungsvorbringens ausschließlich Rechtsfragen zu lösen waren. Schon aus diesem Grund geht auch der Hinweis des UVS auf das Urteil des EGMR vom 19. Februar 1998 im Fall Jacobsson gg. Schweden (ÖJZ 1998/41) ins Leere. Im Übrigen hatte der Beschwerdeführer die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung beim UVS sogar ausdrücklich beantragt, sodaß auch nicht von einem Verzicht gesprochen werden kann.

3. Der Beschwerdeführer wurde daher in seinem gemäß Art6 Abs1 EMRK garantierten Recht verletzt (vgl. das Erkenntnis vom 25. September 2002, B1737/01).

4. Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

5. Der Kostenzuspruch beruht auf §88 VfGG; in den zugesprochenen Kosten ist eine Eingabegebühr gemäß §17a VfGG in Höhe von € 180,- und Umsatzsteuer in Höhe von € 327 enthalten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Ermessen, Straßenpolizei, Alkoholisierung, Unabhängiger Verwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung, Verhandlung mündliche, Öffentlichkeitsprinzip, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2002:B807.2002

Dokumentnummer

JFT_09978991_02B00807_2_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten