TE Vwgh Erkenntnis 2003/9/17 2001/20/0324

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Veröffentlicht am 17.09.2003
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §6 Z3;
AVG §45 Abs2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldner und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde der A in S, vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 2. März 2001, Zl. 217.893/0-XI/34/00, betreffend §§ 6 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, ihren Angaben zufolge eine am 2. Juli 1983 geborene Staatsangehörige von Sierra Leone, reiste am 25. April 2000 in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag Asyl. Bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 30. Mai 2000 gab sie ihre Adresse im Herkunftsstaat mit "3 Colo Street, Kayima, Cono, Sierra Leone" an. Zu ihrem Fluchtgrund brachte sie vor, Rebellen hätten ihren Vater zwingen wollen, sich ihnen anzuschließen. Als ihr Vater sich geweigert habe, sei ihm die Hand abgehackt worden, ihre Mutter sei von Rebellen getötet worden und ihre Brüder habe sie seither nicht mehr gesehen. Zu ihrem Fluchtweg gab die Beschwerdeführerin an, sie sei "über das Wasser gekommen, an mehr kann ich mich nicht erinnern".

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 21. Juni 2000 wurde der Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 6 Z 2 und 4 AsylG abgewiesen und gemäß § 8 AsylG festgestellt, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Sierra Leone sei zulässig.

Aufgrund der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung führte die belangte Behörde am 29. November 2000 eine mündliche Berufungsverhandlung durch. Die wesentlichen Teile der Einvernahme der Beschwerdeführerin sind in der Niederschrift wie folgt wiedergegeben:

"VL (Verhandlungsleiter) Sind Sie aus Sierra Leone? AW (Asylwerberin): Ja.

VL: Nennen Sie mir Ihren Heimatort, bevor Sie aus Sierra Leone geflohen sind!

     AW: Kayima. ... Ich habe nur in Kayima gelebt.

     VL: Was sprechen Sie außer  Englisch für Sprachen?

     AW: Krio und Englisch.

     VL: Im Gebiet von Mende spricht man auch Mende.

     AW: Ich spreche kein Mende.

     VL:  Ihre Muttersprache ist Krio?

     AW: Ja.

     VL: Warum sprechen Sie kein Mende, wenn man das doch in der

Gegend von Kayima spricht?

     AW: Ich spreche es nicht.

     VL: Im ganzen Südosten, wo Kayima liegt, spricht man Mende.

Was spricht man in dieser Gegend außer Krio noch?

AW: Man spricht Mende.

     VL: Waren Sie in der Schule?

     AW: Ja. ... 5 Jahre Roman Catholic Primary School in Kayima.

...

VL: Bitte erzählen Sie das noch mal in Krio ...

Der Dolmetscher für Krio gibt an, dass viele Ausdrücke, die die AW jetzt verwendet hat, Englisch waren und nicht Krio bzw. dass es dafür Krioausdrücke gäbe. Er meint, dass das nicht das Krio aus Sierra Leone ist.

...

Die AW spricht (über ihre Fluchtgründe) wieder in Krio.

...

VL: Wissen Sie Nachbarorte von Kayima?

AW: Peyima... Ich selbst war nie dort.

Die VL legt Beilage 3 vor über die Nachbarorte von Kayima.

VL: Sie sprechen offensichtlich nicht das Krio aus Sierra Leone, das mit den Sprachen stimmt überhaupt nicht, es war ein Fehler von mir, dass man in Ihrer Region 'Mende' spricht. Welche Sprache spricht man in Ihrer Gegend?

AW: Ich weiß nur, dass man in meiner Gegend nur Englisch und Krio spricht.

VL: Haben Sie schon einmal von der Sprache Kono gehört?

AW: Ja, aber ich spreche kein Kono.

Dolmetscher: Ich bestätige, dass in der Gegend von Kayima als Hauptsprache 'Kono' gesprochen wird.

VL: Ich habe Zweifel, dass Sie aus dem Ort her sind, wo Sie sagen. Erzählen Sie mir detailliert die Währung in Sierra Leone, Scheine, Münzen.

AW: Es gibt Leone und Cents. ...

VL: Wie viel Cents sind 1 Leone?

AW: Ich kann mich nicht mehr erinnern.

VL: Wissen Sie, wann die Regenzeit in Sierra Leone ist?

AW: Im Juni und Juli.

...

SV (Sachverständiger): Die höchsten Niederschläge sind im August.

...

SV an AW: Nennen Sie mir die Hauptbeschäftigung der Einwohner

von Kayima?

AW: Die Hautbeschäftigung ist Handel.

SV: Das stimmt nicht, denn es sind die Minen.

SV spricht wieder in Krio.

SV: In welcher Provinz liegt Kayima?

AW: Das weiß ich nicht.

RV (Rechtsvertreter) an SV: Können Sie ausschließen, dass die AW Krio spricht?

SV: Was heißt 'Lizard' auf Krio?

AW: Lizard.

SV: Simmt nicht. Was heißt 'family' auf Krio?

AW: Family.

SV: Fambul. Kondo ist Lizard. Was heißt 'dieser Becher bleibt

hier stehen' auf Krio?

Die AW behauptete, dass es Unterschiede zwischen den vielen Kriodialekten gibt und dass sie ein anderes Krio als der SV spricht."

Mit Schreiben vom 10. Dezember 2000 legte die Beschwerdeführerin eine beglaubigte Abschrift ihrer in Sierra Leone ausgestellten Geburtsurkunde vor.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 2. März 2001 wies die belangte Behörde die Berufung der Beschwerdeführerin "gemäß § 6 AsylG" ab und stellte gemäß § 8 AsylG iVm § 57 FrG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Sierra Leone fest. Begründend führte die belangte Behörde aus, es könne nicht festgestellt werden, dass es sich bei Sierra Leone um den Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin handle. "Da die Angaben zum Herkunftsstaat falsch sind", entsprächen die "damit verbundenen Fluchtgründe nicht den Tatsachen". Die Angaben zu den Fluchtgründen würden der Entscheidung mangels Glaubwürdigkeit nicht zugrunde gelegt. Darüber hinaus traf die belangte Behörde umfangreiche Feststellungen zur "allgemeinen Lage" in Sierra Leone. Beweiswürdigend führte sie zur negativen Feststellung hinsichtlich der Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerin Folgendes aus:

"Obwohl die Asylwerberin durch die von ihr ... vorgelegte Geburtsurkunde ihre Staatsangehörigkeit zu Sierra Leone beweisen wollte, war der durch die erkennende Behörde bei der mündlichen Verhandlung am 29.11.2000 gewonnene Eindruck, dass Sierra Leone nicht das Geburtsland der Asylwerberin sein kann, ganz eindeutig.

Die Asylwerberin, die behauptete, aus Kayima zu stammen, spricht weder das dort übliche 'KONO' noch konnte sie die Landessprache 'KRIO' sprechen. Über das in der angeblichen Heimat verwendete Geld konnte die Asylwerberin überhaupt keine Angaben machen. Auch über die Regenzeit war die Aussage der Asylwerberin falsch, sodass die erkennende Behörde nur davon ausgehen kann, dass die Asylwerberin eine Regenzeit in Sierra Leone noch nie erlebt hat. Auch die Hauptbeschäftigung der Menschen in ihrer angeblichen Heimatstadt Kayima war ihr fremd. Es handelt sich dabei um eine Bergbauregion und die meisten Menschen arbeiten in den Minen.

Auf Grund dieser Ausführungen gelangt die erkennende Behörde zu der Ansicht, dass die Angaben der Berufungswerberin hinsichtlich ihrer Identität und ihrer Staatsangehörigkeit nicht der Wahrheit entsprechen, weshalb auch davon auszugehen ist, dass der von der Berufungswerberin behauptete Fluchtgrund nicht der Wahrheit entsprechen kann. Wenn aber bereits die angegebene Staatsangehörigkeit auf die Berufungswerberin nicht zutrifft, so erübrigt sich auch ein näheres Eingehen auf Fluchtgrund und Fluchtweg."

Im Rahmen der Rechtsausführungen kam die belangte Behörde zum Schluss, dass das gesamte Vorbringen der Asylwerberin zu einer Verfolgungssituation "offensichtlich den Tatsachen nicht entspricht, weshalb gem. § 6 Z 3 AsylG der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzuweisen war."

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Gemäß § 6 Z 3 AsylG sind Asylanträge als offensichtlich unbegründet abzuweisen, wenn das Vorbringen der Asylwerber zu einer Bedrohungssituation offensichtlich den Tatsachen nicht entspricht. Wenn die Behauptungen des Asylwerbers zu seiner Staatsangehörigkeit bzw. zum Herkunftsland wegen grober Wissenslücken über den angeblichen Heimatstaat als offensichtlich unglaubwürdig zu qualifizieren sind, kann eine Schlussfolgerung im Sinne des § 6 Z 3 AsylG auch ohne eine darüber hinaus gehende Prüfung der Glaubwürdigkeit der vom Asylwerber angegebenen Fluchtgründe selbst erfolgen (vgl. das Erkenntnis vom 31. Jänner 2002, Zl. 99/20/0447, mit weiteren Nachweisen). Aufgrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dieser Bestimmung ist aber zwischen "schlichter" und "offensichtlicher" Tatsachenwidrigkeit zu unterscheiden. Nur eine "offensichtliche" Tatsachenwidrigkeit kann zur Anwendung des § 6 Z 3 AsylG führen. Letzteres kann nur dann angenommen werden, wenn Umstände vorliegen, die besonders deutlich die Unrichtigkeit der erstatteten Angaben vor Augen führen. Es muss unmittelbar einsichtig ("eindeutig", "offensichtlich") sein, dass die abgegebene Schilderung tatsächlich wahrheitswidrig ist. Dieses Urteil muss sich quasi "aufdrängen", der (die) dazu führende(n) Gesichtspunkt(e) muss (müssen) klar auf der Hand liegen, sei es allenfalls auch deshalb, weil nach einem Ermittlungsverfahren "Hilfstatsachen" (z.B. fehlende Kenntnis der behaupteten Stammessprache) substantiell unbestritten bleiben (vgl. z.B. die hg. Erkenntnisse vom 21. August 2001, Zl. 2000/01/0214, vom 20. Juni 2002, Zl. 2000/20/0443, vom 15. Mai 2003, Zl. 2002/01/0086, und vom 3. Juli 2003, Zl. 2001/20/0185).

Die Darlegungen der belangten Behörde, sie sei im vorliegenden Fall auf Grundlage der oben wiedergegebenen Überlegungen zu der Ansicht gelangt, dass die Angaben der Beschwerdeführerin hinsichtlich ihrer Identität und ihrer Staatsangehörigkeit "nicht der Wahrheit entsprechen", wobei der von ihr gewonnene Eindruck "ganz eindeutig" gewesen sei, vermögen in Bezug auf die Herkunft der Beschwerdeführerin aus Sierra Leone die im Sinne des § 6 Z 3 AsylG erforderliche "Offensichtlichkeit" nicht zu begründen:

Die von der belangten Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung gemachten Ausführungen, wonach die Beschwerdeführerin die Landessprache "Krio" nicht habe sprechen können und über das in Sierra Leone verwendete Geld "überhaupt keine Angaben" habe machen können, stehen im Widerspruch zu dem im Verhandlungsprotokoll vermerkten Umstand, dass die Beschwerdeführerin "Krio" gesprochen habe, und dass sie die Bezeichnung der Landeswährung richtig angegeben hat. Der belangten Behörde ist auch vorzuwerfen, dass den Ausführungen im angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen ist, sie habe auf den Umstand Bedacht genommen, dass die Beschwerdeführerin nach ihren Angaben im Zeitpunkt des Verlassens von Sierra Leone erst siebzehn Jahre alt gewesen ist und nur fünf Jahre die Grundschule besucht hat (vgl. in diesem Zusammenhang etwa das Erkenntnis vom 16. April 2002, Zl. 2000/20/0200). Darüber hinaus ist zu bemängeln, dass die belangte Behörde nicht auf den Umstand einging, dass die Beschwerdeführerin den Ort Peyima als Nachbarort ihres behaupteten Heimatortes Kayima angab, was aufgrund des dem Verwaltungsgerichtshof vorliegenden Kartenmaterials, worin dieser Ort - im Gegensatz zu der von der belangten Behörde herangezogenen Karte - aufscheint, nicht als offensichtlich unzutreffend erkannt werden kann.

Schließlich hat die belangte Behörde die von der Beschwerdeführerin vorgelegte Geburtsurkunde im Hinblick auf deren Echtheit keiner Würdigung unterzogen und der Beweiswürdigung damit ausschließlich den bei der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck zugrundegelegt. Da nicht gesagt werden kann, dass die von der Beschwerdeführerin zum Beweis ihrer Identität und Herkunft aus dem behaupteten Herkunftsstaat vorgelegte Geburtsurkunde für das Ergebnis des Asylverfahrens nicht von Bedeutung wäre oder es sich dabei um ein von vornherein - ohne unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung - untaugliches Beweismittel handeln würde, hat die belangte Behörde sich im Rahmen der Beweiswürdigung zu Unrecht mit dieser Urkunde nicht auseinander gesetzt (vgl. zur Unzulässigkeit einer antizipativen Beweiswürdigung etwa das Erkenntnis vom 3. April 2001, Zl. 96/08/0230, mit weiteren Nachweisen).

Zusammenfassend ergibt sich, dass die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid mit Verfahrensmängeln belastet hat, bei deren Vermeidung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, sodass der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 17. September 2003

Schlagworte

Beweiswürdigung antizipative vorweggenommene

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2003:2001200324.X00

Im RIS seit

27.10.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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