TE OGH 1958/3/19 5Ob68/58

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Veröffentlicht am 19.03.1958
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Norm

ABGB §865
ABGB §869

Kopf

SZ 31/48

Spruch

Mängel des Intellekts, denen zufolge jemand die Tragweite eines bestimmten Geschäftes nicht zu überblicken und dessen Folgen nicht einzusehen vermag, begrunden nicht Handlungsunfähigkeit nach § 865

ABGB.

Entscheidung vom 19. März 1958, 5 Ob 68/58.

I. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien; II. Instanz:

Oberlandesgericht Wien.

Text

In der Verlassenschaftssache nach ihrem am 4. Februar 1950 ohne Hinterlassung einer letztwilligen Verfügung verstorbenen Vater Matthias B. haben die Klägerin auf Grund des Gesetzes zu drei Vierteln und Johanna B., die zweite Ehefrau des Verstorbenen und Stiefmutter der Klägerin zu einem Viertel des Nachlasses unbedingte Erbserklärungen abgegeben. Nach dem zwischen den beiden vor dem öffentlichen Notar Dr. Hans F. in K. als Gerichtskommissär abgeschlossenen Erbübereinkommen vom 23. März 1950 hat Johanna B. u.

a. von den in den Nachlaß gehörigen 3/5 (12/20)-Anteilen der Liegenschaft EZ. 398 des Grundbuches über die KG. M. 7/20-Anteile übernommen, während 5/20-Anteile der Klägerin zufielen. Mit Beschluß vom 12. Mai 1950 wurden die Erbserklärungen vom Gericht angenommen und das Erbübereinkommen zur Kenntnis genommen. In diesem Sinne erfolgte auch die grundbücherliche Durchführung am 9. September 1950.

Am 31. Mai 1952 ist Johanna B. ohne Hinterlassung einer letztwilligen Verfügung gestorben. Die vom Beklagten auf Grund des Gesetzes abgegebene unbedingte Erbserklärung wurde vom Gericht angenommen. Mit Beschluß vom 17. September 1952 wurde der Nachlaß zur Gänze dem Beklagten eingeantwortet. Daraufhin erfolgte die Einverleibung des Eigentumsrechtes für den Beklagten auf die der Johanna B. zugeschriebenen drei Viertelanteile an der Liegenschaft EZ. 398. Nachdem die Liegenschaftsanteile vom Beklagten verkauft worden waren, wurde das Eigentumsrecht am 8. Juli 1953 auf die neuen Erwerber Friedrich und Anna M. übertragen.

Die Klägerin behauptet nun, daß das Erbübereinkommen vom 23. März 1950 nichtig sei, vor allem weil sie infolge ihrer angeborenen Taubstummheit außerstande gewesen sei, ihre Angelegenheiten, insbesondere die Verwaltung ihres unbeweglichen Vermögens, gehörig zu besorgen; unter das Erbübereinkommen habe sie ihre Unterschrift, deren Echtheit sie vorsichtsweise bestreite, nur aus Furcht vor ihrer Stiefmutter gesetzt. Das Erbübereinkommen sei ferner nichtig wegen List, Irrtums, Formgebrechens und Nichteintrittes der Bedingung, daß sie zur Universalerbin der Johanna B. eingesetzt werde. Die Klägerin begehrt daher, daß das Übereinkommen vom 23. März 1950 für nichtig und unwirksam erklärt und der Beklagte zur Zahlung des gemeinen Wertes der ihr gebührenden Liegenschaftsanteile im Betrage von 54.943 S samt 4% Zinsen seit 8. Juli 1953 sowie zur Rechnungslegung über die Liegenschaftserträgnisse seit 12. Mai 1950 verhalten werde.

Das Erstgericht erkannte gemäß dem Klagebegehren. Es stellte fest, daß am 16. Juli 1952 der Antrag auf beschränkte Entmündigung der Klägerin gestellt und an diesem Tage Josef O. zum vorläufigen Beistand der Klägerin bestellt wurde. Die vom Bezirksgericht Kirchdorf a. d. Krems am 10. August 1952 angeordnete beschränkte Entmündigung sei mit Beschluß vom 24. Juni 1953 wieder aufgehoben worden. Die Tragweite des Erbübereinkommens vom 23. März 1950 zu ermessen, sei die Klägerin nach dem Gutachten des Sachverständigen weder im Jahre 1950 in der Lage gewesen, noch sei sie es derzeit. Sie sei auch nicht fähig, auf Grund von Erklärungen dritter Personen juristische Begriffe, wie solche im Erbübereinkommen enthalten seien, zu erfassen. Auch jetzt sei sie nicht imstande, Nichtanschauliches und Abstraktes zu begreifen. Der Notar habe bei Abschluß des Erbübereinkommens keinen Taubstummen-Dolmetscher beigezogen, so daß der Klägerin weder der Inhalt noch die Auswirkungen des Übereinkommens bekannt gewesen seien. Die Einstufung der Intelligenzleistungen der Klägerin, die sich nicht nur als Ergebnis ihrer Sinnesbehinderung, sondern auch aus der geistigen Gesamtkapazität ergebe, habe mit dem Intelligenzalter eines Kindes von zehn, höchstens eines solchen von zwölf Jahren zu erfolgen. Das Erbübereinkommen sei daher nach § 865 ABGB. nichtig.

Die Liegenschaft wurde im Pflegschaftsverfahren des Bezirksgerichtes Kirchdorf a. d. Krems am 27. Oktober 1952 auf 274.716 S geschätzt. Der Wert der der Johanna B. von der Klägerin überlassenen Anteile betrage daher 54.943 S. Dagegen habe der bei der Schätzung anwesende Beklagte keine Einwendungen erhoben. Der angemessene Wertersatzanspruch der Klägerin sei daher in dieser Höhe anzunehmen.

Das Berufungsgericht hob infolge Berufung des Beklagten dieses Urteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Die Klägerin sei zur Zeit des Abschlusses des Erbübereinkommens nicht entmundigt gewesen, weshalb ihre Handlungsfähigkeit (gemeint ist Handlungsunfähigkeit) bewiesen werden müsse. Nach den erstgerichtlichen Feststellungen sei die Klägerin in ihrem Intelligenzgrad einem Kinde von zehn bis zwölf Jahren gleichzustellen, ohne daß eine Geisteskrankheit oder Geistesschwäche bei ihr festgestellt wurde. Daraus ergebe sich, daß von einer Handlungsunfähigkeit der Klägerin im Sinne der gesetzlichen Vorschriften nicht die Rede sein könne. Denn Handlungsunfähigkeit sei nur bei einem Geisteszustand gegeben, der jenem eines Kindes unter sieben Jahren gleichkomme. Selbst geistesschwache Personen, von denen man nicht sagen könne, daß sie den Gebrauch der Vernunft nicht haben, seien, solange sie nicht entmundigt seien, an und für sich in ihrer Handlungsfähigkeit nicht beschränkt (§§ 21, 865 ABGB.; SZ. XXIV 179 und 140). Wenn auch die Klägerin nach dem Sachverständigengutachten die Tragweite des Erbübereinkommens nicht erfaßt haben konnte, könne dieser Umstand nicht mit Erfolg als ein Beweis für Handlungsunfähigkeit ins Treffen geführt werden. Denn Handlungsunfähigkeit Schwachsinniger sei bei Mangel der Einsicht in die Tragweite der Erklärung nur dann gegeben, wenn der Mangel auf Geisteskrankheit zurückgehe (JBl. 1928 S. 225). Eine geistige Erkrankung der Klägerin sei aber nicht hervorgekommen. Für die Anwendung der Vorschrift des § 865 AHGB. liege aber keine Handhabe vor, weil in dieser Bestimmung nur die Rechtsfolgen des Vertrages geregelt würden, den ein unvollkommen handlungsfähiger Kontrahent (Minderjähriger oder Entmundigter) ohne die nach dem Gesetz erforderliche Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters eingehe.

Wenn sich sonach die Nichtigkeit des angefochtenen Übereinkommens nicht aus den Bestimmungen des § 865 ABGB. ableiten lasse, müsse noch geprüft werden, ob die übrigen von der Klägerin geltend gemachten Aufhebungsgrunde nach den §§ 869 ff. ABGB. oder allenfalls die Nichtigkeit nach § 879 Abs. 2 Z. 4 ABGB. gegeben seien.

Abweichend von der Rechtsansicht des Erstrichters vertrat das Berufungsgericht die Rechtsmeinung, daß es der Zuziehung eines Taubstummendolmetschers bei Errichtung des angefochtenen Erbübereinkommens nicht bedurft hätte. Der Hinweis des Erstrichters auf die Entscheidung GlU. 2506 sei verfehlt, weil die im Zeitpunkt dieser Entscheidung geltende Notariatsordnung vom 21. Mai 1855, RGBl. Nr. 94, seither außer Kraft getreten sei. Gemäß § 61 der derzeit geltenden Notariatsordnung vom 25. Juli 1871, RGBl. Nr. 75, sei die Zuziehung eines Dolmetschers nicht erforderlich gewesen, weil die Klägerin lesen und schreiben könne. Aus den gleichen Gründen sei zur Gültigkeit des Erbübereinkommens auch nicht die Aufnahme eines Notariatsaktes erforderlich gewesen (§ 1 lit. e des Gesetzes vom 25. Juli 1871, RGBl. Nr. 76).

Schließlich vertrat das Berufungsgericht noch die Rechtsansicht, daß bezüglich der Berechnung des Wertes der Liegenschaftsanteile der Zeitpunkt der Klagseinbringung oder ein späterer, jedenfalls nicht nach Schluß der Verhandlung liegender, Zeitpunkt zugrunde zu legen sein werde (2 Ob 921/52, SZ. VI 226 = JB. 15 neu) und daß eine ordentliche Rechnungslegung alle jene Angaben zu umfassen habe, die eine Überprüfung der Rechnung ermöglichten (SZ. XIV 19), wozu auch die genaue Festsetzung des Zeitraumes gehöre, für den Rechnung zu legen sei.

Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der Klägerin nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Nach § 865 Satz 1 ABGB. wird Handlungsunfähigkeit nur durch einen Geisteszustand herbeigeführt, der dem eines Kindes unter sieben Jahren gleichkommt. Nur diese Personen sind in bezug auf den Abschluß von Verträgen handlungsunfähig, weil ihnen das Gesetz die Fähigkeit, ein Versprechen zu machen oder anzunehmen, somit die Fähigkeit zu einer Willensäußerung im rechtlichen Sinne überhaupt abspricht. Ob bei Geistesschwäche minderen Grades volle Handlungsunfähigkeit bis zum Ausspruch der beschränkten Entmündigung besteht oder ob die Grenzen der Handlungsfähigkeit von Fall zu Fall geprüft werden müssen, ist in Lehre und Rechtsprechung strittig. Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes JBl. 1934 S. 322 und NotZ. 1931 S. 151 und mit ihnen Gschnitzer in Klang 2. Aufl. IV 88 Anm. 3 stehen auf dem Standpunkt, daß die mit geistiger Schwäche minderen Grades behafteten Personen ihre volle Handlungsfähigkeit behalten, solange die beschränkte Entmündigung nicht ausgesprochen ist. Dagegen kommt in den Entscheidungen JBl. 1928 S. 225 und SZ. XXIV 140 die auch von Ehrenzweig (2. Aufl. I/1 S. 180) vertretene Rechtsansicht zum Ausdruck, daß es bei einem Zustand, der eine beschränkte Entmündigung rechtfertigt, auf die Fähigkeit ankomme, die Tragweite des konkreten Geschäftes zu beurteilen.

Im gegebenen Fall kann diese im Schrifttum und in der Rechtsprechung kontrovers entschiedene Frage auf sich beruhen, denn die Klägerin ist nach den untergerichtlichen Feststellungen weder geisteskrank noch geistesschwach. Sie war es auch im Zeitpunkt des Abschlusses des Erbübereinkommens nicht. Sie ist also imstande, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen, und bedarf eines Beistandes nicht (§ 1 Abs. 2 EntmO.). Auch in ihren Willensentschlüssen ist sie nicht etwa durch krankhaftes Empfinden, krankhafte Vorstellungen und Gedanken beeinträchtigt; sie ist nur zu wenig intelligent, um die rechtliche Tragweite des von ihr abgeschlossenen Erbübereinkommens erfassen zu können. Solche Mängel des Intellekts vermögen aber keinesfalls Handlungsunfähigkeit im Sinne des § 865 ABGB. zu begrunden. Sie rechtfertigen auch nicht die Annahme, daß durch sie die Freiheit der Willensbildung ausgeschlossen sei. Wie weit eine Person imstande ist, sich den an sie gestellten Anforderungen und Situationen mit Hilfe von Denkleistungen anzupassen, hängt immer von der individuellen Beschaffenheit des Intellekts ab. Je nach der Höhe ihrer Intelligenz wird sie entweder die Tragweite und die Folgen ihrer Entschlüsse und Handlungen selbst oder erst nach vorheriger Beratung und Aufklärung erkennen können. Wollte man den Gedankengängen des Rekurses folgen und in allen jenen Fällen, wo Mängel des Intellekts es verhindern, die Tragweite eines Geschäftes zu überblicken und dessen Folgen einzusehen, die Handlungsfähigkeit verneinen, würde jede Sicherheit im rechtsgeschäftlichen Verkehr aufhören (vgl. Pisko in Klang 1. Aufl. I/1 226).

Der Oberste Gerichtshof billigt daher die Ansicht des Berufungsgerichtes, daß sich eine Nichtigkeit des Erbübereinkommens aus der von der Klägerin behaupteten Handlungsunfähigkeit nicht ableiten läßt und daß daher auch die übrigen von der Klägerin geltend gemachten Aufhebungsgrunde geprüft werden müssen.

Anmerkung

Z31048

Schlagworte

Geschäftsunfähigkeit nach § 865 ABGB., Mängel des Intellekts, Handlungsunfähigkeit nach § 865 ABGB., Mängel des Intellekts, Intellekt, Mängel, Handlungsunfähigkeit nach § 865 ABGB., Mängel des Intellekts, keine Handlungsunfähigkeit nach § 865 ABGB., Verschwendung, Voraussetzungen einer Entmündigung nach § 2 Z. 1 EntmO.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1958:0050OB00068.58.0319.000

Dokumentnummer

JJT_19580319_OGH0002_0050OB00068_5800000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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