TE OGH 1970/11/3 8Ob253/70

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Veröffentlicht am 03.11.1970
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Norm

ABGB §879

Kopf

SZ 43/194

Spruch

Auch ein minderer Grad der Verstandesschwäche als der zu einer beschränkten Entmündigung erforderliche kann den Voraussetzungen des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB entsprechen

OGH 3. November 1970, 8 Ob 253/70 (OLG Innsbruck 2 R 81/70; LG Innsbruck 6 Cg 182/69)

Text

Mit Kaufvertrag vom 25. April 1963 verkaufte die Klägerin den Beklagten die Liegenschaften EZ 523 II und EZ 524 II, beide KG I. Sie begehrte zunächst die Aufhebung des Kaufvertrages bezüglich der EZ 524 II KG I. Als Aufhebungsgrunde machte sie Geschäftsunfähigkeit, List, Irrtum und Formmangel geltend. Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Das Berufungsgericht hob dieses Urteil gemäß § 496 Abs 1 Z 3 ZPO auf und trug dem Erstgericht die Ergänzung der Verhandlung und neuerliche Entscheidung auf. Im fortgesetzten Verfahren machte die Klägerin zusätzlich noch Wucher als Anfechtungsgrund geltend. Außerdem begehrte sie nunmehr die Aufhebung des Vertrages auch bezüglich der EZ 523 II. Das auf

Aufhebung des Vertrages nur bezüglich der EZ 524 II gerichtete Begehren hielt sie als Eventualbegehren aufrecht.

Das Erstgericht gab dem Hauptbegehren statt. Es stellte fest: Im Winter 1962/1963 kam der Erstbeklagte, der einen außerhalb des Verbauungsgebietes von I gelegenen Lagerplatz suchte, mit der Klägerin ins Gespräch, die die Bereitschaft zum Verkauf der beiden oben genannten Liegenschaften zeigte. Es folgte eine Zusammenkunft des Erstbeklagten und seines Bruders, des Zweitbeklagten, der als Mitkäufer auftreten sollte, mit der Klägerin in der Kanzlei des Rechtsanwaltes Dr R, wo erstmals über die Höhe des Kaufpreises gesprochen wurde. Bis dahin hatte die Klägerin nur bemerkt, sie brauche nicht viel, sie sei froh, wenn sie eine kleine Zubuße zu ihrer Rente bekomme. Bei Dr R erklärte der Erstbeklagte, um eine Ausgangsbasis für weitere Preisverhandlungen zu haben, einen Quadratmeterpreis von 10 S anzubieten. Hätte die Klägerin mehr verlangt, wären die Beklagten bis 50 S pro m2 gegangen. Zur Überraschung der Beklagten erklärte sich die Klägerin sogleich mit einem Quadratmeterpreis von 10 S einverstanden. Für das Gesamtausmaß von 3669 m2 ergab sich sonach ein Kaufpreis von 36.690 S, der vereinbarungsgemäß in Raten von 1000 S bezahlt werden sollte. Die Raten sollten von der Klägerin nach Maßgabe ihrer Bedürfnisse abgerufen werden. Die Klägerin fürchtete nämlich, sie laufe bei größeren Ratenzahlungen Gefahr, ihre Rente zu verlieren. Der Geisteszustand der Klägerin entsprach etwa dem eines Minderjährigen im Alter zwischen 10 und 15 Jahren. Ihr Sehvermögen betrug im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses rund 1/15 des normalen Sehvermögens. Um als blind bzw als praktisch blind zu gelten, hätte ihr Sehvermögen ein Zwanzigstel des normalen Sehvermögens nicht überschreiten dürfen. Nachträglich reute die Klägerin der Verkauf, insbesondere das im Verbauungsgebiet von I gelegenen Grundstückes EZ 524 II. Der Verkehrswert der letzteren Liegenschaft betrug im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses 130 S pro m2, also insgesamt

293.800 S, der Verkehrswert der außerhalb des Verbauungsgebietes gelegenen Liegenschaft betrug 17.50 S pro m2, zusammen also

25.427.50 S. Das Erstgericht war der Ansicht, im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses sei die Klägerin weder geschäftsunfähig noch blind im Sinn der Bestimmung des § 1 Abs 1 lit e des Notariatszwangsgesetzes gewesen. Auch von einer arglistigen Täuschung der Klägerin im Sinn des § 870 ABGB könne nicht gesprochen werden. Das Vorliegen eines von den Beklagten gemäß § 871 ABGB zu vertretenden wesentlichen Irrtums der Klägerin sei nicht anzunehmen. Berechtigt sei aber die auf § 879 Abs 2 Z 4 ABGB gestützte Vertragsanfechtung. Die Klägerin, deren Geisteszustand dem eines Minderjährigen im Alter zwischen 10 und 15 Jahren geglichen habe, habe offenbar keine Ahnung von den tatsächlichen Grundstückspreisen gehabt. Es seien somit Verstandesschwäche und Unerfahrenheit im Sinn der angeführten Gesetzesstelle vorgelegen. Das auffallende Mißverhältnis zwischen den beiderseitigen Leistungen ergebe sich aus der Gegenüberstellung des vereinbarten Kaufpreises und des Verkehrswertes der Liegenschaften. Auch der Tatbestand des Ausbeutens sei erfüllt. Den Beklagten falle bewußte Benützung der gegebenen Lage zur Last. Hätten doch die Beklagten den Betrag von 10 S pro m2 nicht etwa deshalb vorgeschlagen, weil sie diesen Betrag für angemessen gehalten hätten, sondern nur deshalb, um eine Ausgangsbasis für weitere Preisverhandlungen zu haben, wozu es nur infolge der für die Beklagten selbst überraschend gekommenen sofortigen Annahme ihres Vorschlages durch die Klägerin nicht gekommen sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes 15.000 S übersteige.

Der Oberste Gerichtshof gab der Revision der Beklagten nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Beklagten wenden sich in ihrer Revision ebenso wie schon im Berufungsverfahren gegen die Berücksichtigung des im fortgesetzten Verfahren erstmals geltend gemachten Anfechtungsgrundes nach § 879 Abs 2 Z 4 ABGB. Sie meinen, einer Berücksichtigung dieses Anfechtungsgrundes stunden die Bestimmungen der §§ 482, 496 ZPO entgegen. Aus diesen Bestimmungen ergebe sich, daß sich im Falle der Aufhebung eines Urteiles gemäß § 496 Abs 1 Z 3 ZPO das fortgesetzte Verfahren auf die im Aufhebungsbeschluß als aufklärungsbedürftig bezeichneten Umstände zu beschränken habe und die Berücksichtigung neuen Vorbringens nicht gestattet sei. Diese Ansicht der Beklagten wurde schon in der Berufungsentscheidung zutreffend widerlegt. Lehre und Rechtsprechung stimmen darin überein, daß die Sache durch die Aufhebung des Urteils gemäß § 496 Abs 1 Z 3 ZPO in den Stand vor Schluß der mündlichen Verhandlung erster Instanz zurückversetzt wird und die Parteien alle Befugnisse haben, die ihnen im erstinstanzlichen Verfahren bis zu diesem Zeitpunkt zukommen, daß sie also auch Neues vorbringen und neue Rechtsgrunde geltend machen können (vgl SZ 28/96 ua, Fasching, Komm zu den ZP-Gesetzen, zu § 496 ZPO, 213 f Anm 11). Ein Eingehen auf den erst im fortgesetzten Verfahren neu geltend gemachten Anfechtungsgrund nach § 879 Abs 2 Z 4 ABGB war daher den Vorinstanzen keineswegs verwehrt. Die Zulässigkeit der in der Geltendmachung eines neuen Klagsgrundes gelegenen Klagsänderung ist nach § 235 ZPO zu beurteilen. Da die Beklagten, ohne gegen die Ausdehnung Einwendungen zu erheben, über das ausgedehnte Klagebegehren verhandelt haben, sind sie im Sinn des § 235 Abs 2 ZPO als zustimmend zu behandeln.

Den Beklagten kann auch nicht darin gefolgt werden, soweit sie sich dagegen wenden, daß die Voraussetzungen des Anfechtungsgrundes nach § 879 Abs 2 Z 4 ABGB als gegeben angenommen wurden. Soweit es sich dabei um die Person der Klägerin handelt, haben die Vorinstanzen mit Recht Verstandesschwäche und Unerfahrenheit im Sinn der angeführten Gesetzesstelle angenommen. Daß es bisher nicht zu einer Entmündigung der Klägerin gekommen ist, steht dem nicht entgegen, zumal auch ein minderer Grad der Verstandesschwäche als derjenige, der zu einer beschränkten Entmündigung erforderlich ist, den Voraussetzungen des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB entsprechen kann (vgl Klang Komm[2] IV/1, 204 nach Anm 286). Daß die Klägerin nicht über Verstandeskräfte verfügte, wie sie einem Durchschnittsmenschen eigen sind, zeigt die Tatsache, daß der Geisteszustand der Klägerin dem eines Minderjährigen im Alter zwischen 10 und 15 Jahren glich, also dem einer Person, die zumindest schwierigere Angelegenheiten mangels entsprechender geistiger Reife und Erfahrung, noch nicht selber befriedigend zu besorgen in der Lage ist. Der Verkauf von Grundstücken beträchtlichen Wertes ist keine leicht zu erledigende Angelegenheit. Die Reaktion der Klägerin auf das nur als Ausgangsbasis für weitere Verhandlungen gedachte Preisanbot der Beklagten, nämlich das für die Beklagten selbst überraschend gekommene sofortige und kritiklose Eingehen der Klägerin auf dieses Anbot, macht den Mangel an entsprechenden Verstandeskräften und Erfahrung auf Seiten der Klägerin deutlich. Dem stunde es keineswegs entgegen, wenn die Klägerin tatsächlich, wie die Beklagten behaupten, auch andere Grundstücke verkauft und auch hinsichtlich der gegenständlichen Grundstücke mit anderen Interessenten gesprochen haben sollte.

Was die von den Beklagten bekämpfte Unverhältnismäßigkeit zwischen Leistung und Gegenleistung anlangt, so ist hiebei von dem festgestellten Verkehrswert der Grundstücke auszugehen, und nicht von den davon abweichenden Unterstellungen der Beklagten. Daß ein Verhältnis von 36.690 S zu 319.227.50 S ein auffallendes Mißverhältnis im Sinn des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB darstellt, bedarf keiner näheren Begründung.

Den Vorwurf der Ausbeutung glauben die Beklagten damit entkräften zu können, daß die Klägerin selber durch ihre Äußerung, sie sei alt und brauche nicht viel, sie sei froh, wenn sie eine kleine Zubuße zu ihrer Rente bekomme, zum Ausdruck gebracht habe, daß sie die Grundstücke den Beklagten, die ihr in anderen Dingen behilflich gewesen seien, bewußt zu einem günstigen Preis überlasse.

Die Annahme, die Klägerin habe die Liegenschaft den Beklagten aus solchen Erwägungen bewußt um einen hinter dem Verkehrswert weit zurückbleibenden Betrag überlassen wollen, findet in den Feststellungen der Vorinstanzen keine Deckung. Nach diesen Feststellungen ist vielmehr davon auszugehen, daß sich die Klägerin infolge Verstandesschwäche und Unerfahrenheit mit dem unverhältnismäßig niedrigen Preis begnügte. Eine Schädigungsabsicht der Beklagten ist nicht erforderlich. Es genügt das Bewußtsein von dem Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung (vgl Klang Komm[2] IV/1, 207 bei Anm 317). Daß sich die Beklagten eines solchen Mißverhältnisses bewußt waren, zeigt schon der Umstand, daß sie von der sofortigen Annahme ihres nur als Ausgangsbasis für weitere Preisverhandlungen gedachten Anbotes, das sie gegebenenfalls auf ein Mehrfaches des zuerst Gebotenen zu erhöhen bereit gewesen wären, überrascht waren.

Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anfechtung des Vertrags nach § 879 Abs 2 Z 4 ABGB wurde von den Vorinstanzen mit Recht bejaht.

Der Revision war daher der Erfolg zu versagen.

Anmerkung

Z43194

Schlagworte

Verstandesschwäche, minderer Grad der - als Voraussetzung für Wucher, Wucher, minderer Grad der Verstandesschwäche

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1970:0080OB00253.7.1103.000

Dokumentnummer

JJT_19701103_OGH0002_0080OB00253_7000000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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