TE Vfgh Erkenntnis 2001/6/27 B676/00

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Veröffentlicht am 27.06.2001
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Index

L0 Verfassungs- und Organisationsrecht
L0350 Gemeindewahl

Norm

B-VG Art117 Abs2
Nö GRWO 1994 §18
Nö GRWO 1994 §28

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Teilnahme an der Gemeinderatswahl durch Nichtaufnahme in das Wählerverzeichnis; gravierende Mängel des Ermittlungsverfahrens bei Beurteilung der Frage des Vorliegens eines ordentlichen Wohnsitzes der Beschwerdeführerin in der fraglichen Gemeinde

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Teilnahme an der Gemeinderatswahl verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

II. Das Land Niederösterreich ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seiner Beschwerdevertreterin die mit ATS 29.500,-- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Mit an die Gemeindewahlbehörde der Gemeinde Groß-Enzersdorf (politischer Bezirk Gänserndorf) gerichtetem Schreiben vom 24.1.2000 wurde gemäß §23 NÖ Gemeinderatswahlordnung 1994 (GWO), LGBl. 0350-1, die Aufnahme des Beschwerdeführers, eines österreichischen Staatsbürgers, in das dort aufliegende Wählerverzeichnis für die Wahl zum Gemeinderat vom 2.4.2000 begehrt.

1.1.2. Die Gemeindewahlbehörde gelangte in ihrer Sitzung am 1.2.2000 zur Entscheidung, dass der Beschwerdeführer nicht in das Wählerverzeichnis aufzunehmen sei, weil dieser an der angegebenen Adresse (Donau-Oder-Kanal, Becken III, Mitte-Ost 50) keinen ordentlichen Wohnsitz habe.

1.1.3.1. Über die gegen die bescheidmäßige Ausfertigung der Entscheidung der Gemeindewahlbehörde erhobene Berufung erging der nunmehr bekämpfte Bescheid der Bezirkswahlbehörde Gänserndorf vom 17.2.2000, worin ausgesprochen wurde, dass der Beschwerdeführer in das Wählerverzeichnis der Gemeinde Groß-Enzersdorf nicht aufzunehmen sei.

1.1.3.2. Dieser Bescheid wurde wie folgt begründet:

"Die Entscheidung stützt sich auf die durchgeführte Erhebung durch Organe der Bezirkswahlbehörde (siehe Beilage).

Lt. Ansicht der Bezirkswahlbehörde liegt ein ordentlicher Wohnsitz gemäß §18 Abs6 und 7 nicht vor."

(Die Beilage besteht aus einem Aktenvermerk vom 16.2.2000.)

1.2.1. In der gegen diesen Berufungsbescheid gerichteten und auf Art144 (Abs1) B-VG gestützten Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof wird insbesondere die Verletzung des durch Art117 Abs2 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Teilnahme an der Gemeinderatswahl behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt.

1.2.2. Die Bezirkswahlbehörde Gänserndorf als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor, erstattete aber keine Gegenschrift.

1.3.1. Die mit "Aktives Wahlrecht" überschriebene Bestimmung des §17 GWO lautet folgendermaßen:

"(1) Wahlberechtigt ist jeder österreichische Staatsbürger und jeder Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union, der vor dem 1. Jänner des Jahres der Wahl das 18. Lebensjahr vollendet hat, vom Wahlrecht nicht ausgeschlossen ist und in der Gemeinde seinen ordentlichen Wohnsitz hat.

(2) Ob die Voraussetzungen nach Abs1 zutreffen, ist - abgesehen vom Wahlalter - nach dem Stichtag zu beurteilen.

(3) Jeder Wahlberechtigte hat nur eine Stimme."

1.3.2. §18 - überschrieben mit "Wählerverzeichnis" - hat folgenden Wortlaut:

"(1) Die Wahlberechtigten einer Gemeinde bilden den Wahlkörper. Diese Personen müssen in das Wählerverzeichnis eingetragen werden.

(2) Wählerverzeichnisse müssen von den Gemeinden aufgrund der Landes- und der Gemeinde-Wählerevidenz (§3 des NÖ Landesbürgerevidenzengesetzes, LGBl. 0050) angelegt werden.

(3) Die Wählerverzeichnisse müssen nach Wahlsprengeln und innerhalb dieser nach Straßen und/oder Hausnummern geordnet angelegt werden.

(4) Jeder Wähler übt sein Wahlrecht in dem Wahlsprengel aus, in dem er am Stichtag seinen ordentlichen Wohnsitz hat. Hat ein Wahlberechtigter in einer Gemeinde mehrere Wohnungen, muß er eine davon als Wohnsitz bezeichnen.

(5) Jeder Wahlberechtigte darf nur einmal im Wählerverzeichnis einer Gemeinde eingetragen sein.

(6) Der ordentliche Wohnsitz einer Person ist an jenem Ort begründet, welchen sie zu einem Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen, beruflichen oder gesellschaftlichen Betätigung zu gestalten die Absicht hatte. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Absicht dahin gehen muß, an dem gewählten Ort für immer zu bleiben; es genügt, daß der Ort nur bis auf weiteres zu diesem Mittelpunkt frei gewählt worden ist.

(7) Ein ordentlicher Wohnsitz gilt insbesondere dann nicht als begründet, wenn der Aufenthalt

a) bloß der Erholung oder Wiederherstellung der Gesundheit dient,

b) lediglich zu Urlaubszwecken gewählt wurde oder

c) aus anderen Gründen offensichtlich nur vorübergehend ist; gleiches gilt, wenn die Begründung des ordentlichen Wohnsitzes nur auf Eigentum oder Besitz an Baulichkeiten oder Liegenschaften gestützt werden kann.

..."

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Der administrative Instanzenzug ist erschöpft (§26 Abs3 GWO).

2.1.2. Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen zutreffen, ist die Beschwerde zulässig.

2.2.1. Nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes genießt das Wahlrecht zum Gemeinderat kraft der Vorschrift des Art117 Abs2 B-VG den gleichen verfassungsrechtlichen Schutz wie das Wahlrecht zum Nationalrat (VfSlg. 5148/1965, 7017/1973 uam.), sodass jede rechtswidrige Verweigerung der Eintragung in das entsprechende Wählverzeichnis das in dem zitierten Verfassungsartikel verbürgte Recht verletzt. Das ist auch dann der Fall, wenn das zur Nichteintragung führende Verwaltungsverfahren an gravierenden Mängeln leidet (vgl. zB. VfSlg. 5148/1965, 6303/1970, 7017/1973, 7766/1976, 10.668/1985, 11.676/1988).

2.2.2. Dies ist hier der Fall:

2.2.2.1. Laut einem in den Verwaltungsakten einliegenden - nicht vom Beschwerdeführer unterschriebenen - "Erhebungs- bzw. Fragebogen zur Feststellung eines ordentlichen Wohnsitzes gemäß §17 Gemeinderatswahlordnung" ist der Beschwerdeführer sowohl in der Gemeinde Groß-Enzersdorf als auch in der Gemeinde Wien polizeilich gemeldet; in Groß-Enzersdorf an der Adresse: Donau-Oder-Kanal, Becken III, Mitte-Ost 50. Als Liegenschaftsbesitz wird in dem genannten Bogen "Badebungalow-Sommerhaus" angegeben und unter der Rubrik "Gesellschaftliche Betätigung" finden sich zwei Fragezeichen. Unter der Rubrik "Leistung von Steuern oder Abgaben in der Gemeinde" werden die Grundsteuer und die Kanalgebühr angeführt.

2.2.2.2. Wie schon die beim Verfassungsgerichtshof zu Z B675/00, B676/00 und B677/00 protokollierten Verfahren zeigen, waren sowohl von der Gemeindewahlbehörde als Einspruchsinstanz als auch von der Bezirkswahlbehörde als Berufungsinstanz mehrere gleich oder ähnlich gelagerte Anträge um Aufnahme in das Wählerverzeichnis der Gemeinde Groß-Enzersdorf zu erledigen.

Aus dem Protokoll über die Sitzung der Gemeindewahlbehörde vom 1.2.2000 ergibt sich, dass "die Anträge betreffend Donau-Oder-Kanal ... allesamt" deshalb nicht positiv erledigt wurden, weil "kein einziger der Aufnahmewerber an der angegebenen Adresse angetroffen wurde, es sich ausschließlich um Sommerhäuser handelt und keine Schneeräumung stattfindet, tatsächlich auch im Winter nicht geräumt wird - auch nicht von privaten Diensten." Es werde laut telefonischer Auskunft der Post im Winter kaum Post zugestellt, weil die betreffende Region nicht bewohnt sei.

Der im bekämpften Bescheid der Bezirkswahlbehörde verwiesene Aktenvermerk vom 16.2.2000 hat nun den folgenden Wortlaut:

"Am heutigen Tage wurden in den Berufungsverfahren betreffend Donau-Oder-Kanal in Groß-Enzersdorf Erhebungen im Sinne des §18 Abs6 und 7 NÖ GRWO gepflogen. Angetroffen wurde von den Berufungswerbern niemand.

Eine Rückfrage bei der Stadtgemeinde Groß-Enzersdorf, beim Gemeindeverband für Aufgaben des Umweltschutzes im Bezirk Gänserndorf sowie beim Postamt Groß-Enzersdorf erbrachte folgendes Bild:

Die Wohnungen sind für einen längeren Aufenthalt benützbar und weisen ein durchschnittliches Flächenausmaß von 30-40 m2 auf. Es besteht kein Gasanschluß, offene Feuerstätten sind laut Bebauungsplan verboten. Die Müllabfuhr wird grundsätzlich ganzjährig durchgeführt, im Winter allerdings bei Schneelage nicht (Privatstraße; wird nicht öffentlich geräumt). Die Bungalows werden maximal zwischen Ostern und Ende September bewohnt. Bei Anwesenheit wird Haushalt geführt (Kochen, Garten- und Hausbetreuung) und auch in Groß-Enzersdorf eingekauft. Post wird grundsätzlich zugestellt, ein Nachsendeauftrag wird in vielen Fällen im Sommer vom 'Wohnsitzpostamt' (meist Wien) erteilt. Die Grundstücksfläche beträgt durchschnittlich 300 m2.

Eine Nachschau vor Ort erbrachte, daß die Anwesen sämtlich 'eingewintert' sind. An den Postkästen war erkennbar, daß sie durchwegs seit längerem nicht geleert wurden. Bewohner wurden nicht angetroffen, Kfz vor den Bungalows wurden ebenfalls nicht wahrgenommen."

2.2.2.3. Gemäß §18 Abs6 GWO ist der ordentliche Wohnsitz einer Person an jenem Ort begründet, welchen sie zu einem (von mehreren möglichen) Mittelpunkt(en) (arg: "einem Mittelpunkt") ihrer wirtschaftlichen, beruflichen oder gesellschaftlichen Betätigung zu gestalten die Absicht hatte. Der Verfassungsgerichtshof führte schon in seinem zur vergleichbaren Bestimmung des §17 Abs2 Burgenländische Gemeindewahlordnung 1992 ergangenen Erkenntnis VfSlg. 15.437/1999 aus, dass es bei der von der Behörde vorzunehmenden Prüfung der Frage, ob eine Person zu einer Gemeinde in einer derart intensiven Beziehung stehe, dass sie dort über einen Wohnsitz im Sinne der genannten Vorschrift verfüge, auf die qualitativen Elemente dieser Beziehung und nicht etwa allein auf die vergleichsweise Dauer der Anwesenheit in den in Rede stehenden Gemeinden ankomme. Die belangte Behörde hat ihre im Bescheid vertretene Auffassung, dass ein ordentlicher Wohnsitz des Beschwerdeführers iSd §18 GWO nicht vorliege, allein auf die Feststellungen im genannten Aktenvermerk vom 16.2.2000 gestützt. Eine auf den Fall des Beschwerdeführers sowie nicht auf einen Stichtag bezogene Untersuchung der entscheidenden Frage, ob der Beschwerdeführer an der angegebenen Adresse in Groß-Enzersdorf einen ordentlichen Wohnsitz iSd GWO hat, ist also unterblieben. Im Hinblick darauf leidet das gegenständliche zur Nichtaufnahme des Beschwerdeführers in das Wählerverzeichnis führende Verwaltungsverfahren an gravierenden Mängeln (vgl. VfSlg. 11.676/1988).

2.2.2.4. Sohin wurde der Beschwerdeführer durch den angefochtenen, die Nichtaufnahme in das Wählerverzeichnis verfügenden Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Teilnahme an der Gemeinderatswahl (Art117 Abs2 B-VG) verletzt.

2.3. Der Bescheid war darum schon aus den genannten Gründen als verfassungswidrig aufzuheben. Bei der gegebenen Sachlage bedurfte es nicht eines Eingehens auf das weitere Beschwerdevorbringen (die in der Beschwerde verfassungswidrig erachtete Vorschrift des §28 GWO ist nicht präjudiziell in der Bedeutung des Art140 Abs1 B-VG); es war auch nicht zu prüfen, ob der Beschwerdeführer in anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von ATS 4.500,-- enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Wahlen, Wahlrecht aktives, Wohnsitz, Ermittlungsverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2001:B676.2000

Dokumentnummer

JFT_09989373_00B00676_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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