TE OGH 1985/9/12 8Ob48/85

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Veröffentlicht am 12.09.1985
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Kropfitsch und Dr. Zehetner als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Margarethe A, Hausfrau, Gonowetz 74, 9150 Bleiberg, vertreten durch Dr. Matthäus Grilc, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagte Partei Gerfried B, Zollwachebeamter, Lind 1, 9121 Tainach, vertreten durch Dr. Johann Tischler, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wegen 55.466,-- S samt Anhang infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 2.April 1985, GZ 7 R 41/85-18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 30.November 1984, GZ 18 Cg 191/84-11, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Entscheidung insgesamt zu lauten hat:

'1.) Die Klagsforderung besteht mit 41.599,50 S zu Recht und mit 13.866,50 S nicht zu Recht.

2.) Die aufrechnungsweise geltend gemachte Gegenforderung des Beklagten besteht mit 11.575,50 S zu Recht und mit 34.726,50 S nicht zu Recht.

3.) Der Beklagte ist daher schuldig, der Klägerin binnen 14 Tagen den Betrag von 30.024,-- S samt 4 % Zinsen seit 26. Junu 1984 zu bezahlen.

Die Prozeßkosten sowie die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.'

Die Kosten des Revisionsverfahrens werden ebenfalls gegeneinander aufgehoben.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 24.März 1984 gegen 9,30 Uhr ereignete sich auf der St.Kanzianer-Landesstraße in Lind auf der Höhe des Gasthauses B bei trockener Fahrbahn ein Verkehrsunfall, an dem Alfons C mit dem PKW der Klägerin Marke Nissan Cherry (K 187.176) und der Beklagte mit seinem PKW Opel Kadett D (K 70.899) beteiligt waren. Dabei wurden beide Fahrzeuge beschädigt. Der Schaden der Klägerin beträgt S 55.466 S, jener des Beklagten 46.302.-- S. Die Klägerin begehrte vom Beklagten aus dem Titel des Schadenersatzes aus diesem Verkehrsunfall nach Einschränkung des Klagebegehrens die Bezahlung von 55.466,-- S samt Anhang. Der Beklagte sei von der Zufahrt zum Gasthaus B in die Landesstraße eingefahren und habe dabei den Vorrang des mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen angemessenen Geschwindigkeit fahrenden Lenkers ihres Fahrzeuges verletzt. Als Alfons C das verkehrswidrige Verhalten des Beklagten wahrgenommen habe, habe er den PKW nach links verrissen und zugleich stark gebremst, die Kollision jedoch nicht mehr verhindern können. Den Beklagten treffe daher das Alleinverschulden an dem Unfall.

Der Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Er sei aus der Zufahrt des Gasthauses nach links (in Richtung Osten) in die Landesstraße eingefahren und habe wegen der ungünstigen Sichtverhältnisse versucht, durch langsames Vortasten seine Sichtmöglichkeit zu erweitern. Als er den von Osten mit überhöhter Geschwindigkdit (mindestens 130 km/h) herankommenden PKW der Klägerin wahrgenommen habe, habe er seine Fahrgeschwindigkeit erhöht, um die dem herannahenden Fahrzeug zukommende nördliche Fahrbahnhälfte zu räumen und die südliche (in Richtung Osten führende) Fahrbahnhälfte zu erreichen. Da der PKW der Klägerin jedoch zufolge seiner überhöhten Geschwindigkeit auf die südliche Fahrbahnhälfte gelangt sei, sei es dort zur Kollision gekommen. Der Lenker des PKWs der Klägerin habe daher den Unfall allein verschuldet. Hilfsweise wendete der Beklagte den an seinem PKW entstandenen Schaden in der Höhe von 49.302,-- S (AS 9 und 38) der Klagsforderung gegenüber aufrechnungsweise ein.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren zur Gänze ab. Das Gericht zweiter Instanz gab der Berufung der Klägerin Folge und änderte das Urteil des Erstgerichtes dahin ab, daß es die Klagsforderung mit 55.466,-- S als zu Recht bestehend, die Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend erkannte und der Klägerin 55.466,-- S samt Anhang zusprach, wobei es die Revision nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO für zulässig erklärte.

Gegen dieses Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die auf die Anfechtungsgründe des § 503 Abs 1 Z 3 und 4 ZPO gestützte Revision des Beklagten mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Wiederherstellung der erstgerichtlichen Entscheidung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Klägerin beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die Entscheidung im Hinblick darauf, daß das Berufungsgericht bei Beurteilung der Angemessenheit der im Straßenverkehr zulässigen Fahrgeschwindigkeit von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen ist, von der Lösung von Rechtsfragen des materiellen Rechts abhängt, denen zur Wahrung der Rechtssicherheit erhebliche Bedeutung zukommt. Die Revision ist teilweise auch berechtigt.

Die vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes sowie die nach teilweiser Beweiswiederholung gemäß § 281 a ZPO weiters getroffenen Feststellungen lassen sich über den bereits wiedergegebenen Sachverhalt hinaus im wesentlichen wie folgt zusammenfassen:

Die St.Kanzianer-Landesstraße verläuft bei Annäherung an die Unfallsstelle - in Fahrtrichtung des PKWs der Klägerin gesehen - von Osten nach Westen in einer unübersichtlichen Rechtskurve und geht nach einem 50 m langen geraden Straßenstück in eine weitgezogene Linkskrümmung über. Vor dem nördlich der Fahrbahn gelegenen Gasthaus B befindet sich ein Parkplatz, der zur Landesstraße hin durch eine 1 m breite und 27 m lange Grüninsel begrenzt ist und über eine ostseitige und eine westseitige Zufahrt erreicht werden kann. Die ostseitige Zufahrt ist 7 m breit. Von der östlichen Begrenzung dieses Grünstreifens (Fixpunkt samt quer über die Fahrbahn angenommener Bezugslinie) gesehen verläuft die Landesstraße nach Osten vorerst 20 m gerade, um dann in eine Linkskurve überzugehen. Die asphaltierte Fahrbahn ist 5,80 m breit und durch eine 10 cm breite Leitlinie in zwei gleich breite Richtungsfahrstreifen geteilt. An die Asphaltfahrbahn schließt beidseitig ein 80 cm breites Muldenrigol an. Ein von Osten nach Westen fahrender, von seinem rechten Fahrbahnrand etwa 1 m entfernter Verkehrsteilnehmer kann die nördliche Fluchtlinie der Landesstraße im Bereich der ostseitigen Ausfahrt des Parkplatzes vor dem Gasthaus B aus einer Entfernung von 80 m einsehen. Auf 70 m sind bereits 2 m in den Trichter der Ausfahrt einsehbar. Die Sicht über die Unfallsstelle hinaus in Richtung Westen beträgt etwa 300 m. Die Unfallsstelle befindet sich im Freilandgebiet.

Der Beklagte fuhr mit seinem 1,62 m breiten PKW aus der östlichen Parkplatzausfahrt aus einer - auf die linke Seite seines Wagens bezogen - Position 3,5 m östlich des Endes der Grünfläche in einer schräg nach links verlaufenden Fahrlinie in die Landesstraße in der Absicht ein, in östliche Richtung (nach links) weiterzufahren. Vor dem Einfahren in die nördliche Fahrbahnhälfte überzeugte er sich durch einen Blick nach rechts, daß sich von Westen her kein Fahrzeug näherte. Beim Einfahren in die nördliche Fahrbahnhälfte der Landesstraße hielt er eine Geschwindigkeit von ca. 3 km/h ein. Als sich der Beklagte - bezogen auf seine Sitzposition im PKW - ungefähr in der Mitte der nördlichen Fahrbahnhälfte befand, nahm er den von Osten herankommenden PKW der Klägerin, der sich im Zeitpunkt des Beginnes der Einfahrt des Beklagten in die nördliche Fahrbahnhälfte der Landesstraße noch nicht in dessen Sichtbereich befunden hatte, wahr. Hätte der Beklagte in diesem Zeitpunkt gebremst, hätte er seinen PKW noch vor der Leitlinie anhalten können. Der Beklagte setzte jedoch in der Absicht, die vom herannahenden PKW der Klägerin benützte nördliche Fahrbahnhälfte zu räumen, seine Fahrt unter Beschleunigung auf 10 km/h fort und gelangte so in insgesamt 3,3 Sekunden bzw. nach Zurücklegung einer Strecke von insgesamt 5.3 m an den Unfallspunkt, wobei die rechte vordere Begrenzung seines PKW 1,2 m über die Leitlinie in die südliche Fahrbahnhälfte hineinragte. Alfons C näherte sich der späteren Unfallstelle mit dem PKW der Klägerin von Osten und hielt dabei eine Bremsausgangsgeschwindigkeit von 103 km/h ein, die bei einer mittleren Bremsverzögerung von 7,5 m/sec 2 einen Anhalteweg von 82,8 m erfordert. Bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h hätte der Anhalteweg unter den gegebenen Umständen 79,3 m betragen. Als sich der PKW des Beklagten mit der vorderen Begrenzung 1,2 m innerhalb der Fahrbahn der Landesstraße befand, nahm Alfons C eine Gefahr wahr und leitete 64,3 m vor dem späteren Unfallspunkt bzw.3 Sekunden vor der Kollision ein brüskes Bremsmanöver ein, durch welches sich der PKW der Klägerin aus der Kurve geradeaus weiterbewegte und auf die südliche (linke) Fahrbahnhälfte geriet, wo er mit einer Restgeschwindigkeit von 60 km/h gegen den eine Geschwindigkeit von 10 km/h einhaltenden PKW des Beklagten stieß. 3,3 Sekunden vor der Kollision befand sich der PKW der Klägerin 73 m vor dem Unfallspunkt auf Höhe der östlichen Begrenzung der östlichen Gasthausausfahrt bzw. 80 m vor dem östlichen Ende des Grünstreifens (Bezugslinie). Auch bei einer Geschwindigkeit des PKW der Klägerin von 100 km/h wäre es zum Unfall gekommen. Die Anstoßgeschwindigkeit hätte in diesem Fall 53 km/h betragen. Die Unfallsfolgen wären dieselben gewesen. Mit Rücksichz auf die bestehende Sichtmöglichkeit hätte Alfons D um 0,3 Sekunden früher auf den PKW des Beklagten reagieren können.

Das Erstgericht führte in rechtlicher Hinsicht aus, daß es zwar vernünftiger gewesen wäre, wenn der Beklagte nicht die ostseitige, sondern die westliche Parkplatzausfahrt benützt hätte, eine Verpflichtung hiezu aber nicht bestanden habe. Der Beklagte habe sich richtig verhalten, weil er zuerst ganz langsam auf die Fahrbahn hinausgefahren sei und nach dem Auftauchen des Fahrzeuges der Klägerin durch erhöhte Geschwindigkeit versucht habe, für das Fahrzeug der Klägerin dessen rechte Fahrbahnhälfte frei zu machen. Da den Beklagten kein Verschulden an dem Unfall treffe, sei das Klagebegehren nicht berechtigt.

Das Gericht zweiter Instanz ging bei der rechtlichen Beurteilung des teilweise ergänzten Sachverhaltes davon aus, daß Fahrzeuge auf der St.Kanzianer-Landesstraße gegenüber Fahrzeugen, die aus der Gasthausausfahrt kommen, Vorrang gemäß § 19 Abs 6 StVO hätten und ein im Nachrang befindlicher Verkehrsteilnehmer in eine bevorrangte Verkehrsfläche nur dann einfahren dürfe, wenn er durch gehörige Beobachtung des bevorrangten Verkehrs in seiner tatsächlichen Gestaltung sich die Gewißheit verschafft habe, dies ohne Gefährdung oder auch nur Behinderung des bevorrangten Verkehrsteilnehmers tun zu können. Der im Nachrang befindliche Verkehrsteilnehmer habe seine Fahrweise so einzurichten, daß er in der Lage sei, unter Berücksichtigung der örtlichen Sichtverhältnisse den Vorrang zu wahren. Bei ungünstigen Sichtverhältnissen sei es in erster Linie Sache des Wartepflichtigen, dieser Sichtbehinderung Rechnung zu tragen. Der Wartepflichtige habe sich bei schlechten Sichtverhältnissen der Kreuzung äußerst vorsichtig zu nähern und sich auf dieser vorzutasten, bis er die notwendige Sicht gewinne. Vortasten bedeute dabei ein schrittweises, erforderlichenfalls zentimeterweises Vorrollen in mehreren Etappen bis zu einem Punkt, von dem aus die erforderliche Sicht möglich sei. Nur durch eine solche Fahrweise werde der Lenker eines Fahrzeuges mit Vorrang im Sinne des § 19 Abs 7 StVO nicht behindert. Hingegen bedeute schon ein langsames Einfahren in einem Zug eine Vorrangverletzung. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergäbe sich, daß dem Beklagten eine Vorrangverletzung zur Last liege. Der Grundsatz, daß die Anwendung der Vorrangbestimmungen die Wahrnehmbarkeit eines anderen Fahrzeuges voraussetze, gelte nur für den Fall, daß es dem Wartepflichtigen auch bei gehöriger Vorsicht und Aufmerksamkeit nicht möglich sei, das andere Fahrzeug überhaupt oder rechtzeitig wahrzunehmen, nicht aber dann, wenn das Nichtwahrnehmen oder nicht rechtzeitige Wahrnehmen auf ein Fehlverhalten des Wartepflichtigen zurückzuführen sei. An der Fahrweise des Beklagten sei zu beanstanden, daß er einerseits sich zuletzt von einer Stelle aus, von der er jedenfalls nicht optimale Sicht gehabt habe, durch einen Blick nach rechts - und nicht nach links - vom bevorrangten Verkehr überzeugt habe, und er anderseits sich entschlossen habe, bereits von dieser Stelle aus, wenngleich nur mit 3 km/h, so doch in einem Zug, in die bevorrangte Verkehrsfläche einzufahren, obwohl bei den beschränkten Sichtverhältnissen - die Sichtstrecke habe höchsten 76,5 m (80 m - 3,5 m) gegenüber einem Anhalteweg eines mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h fahrenden Verkehrsteilnehmers von 79,3 m - ein schrittweises Vorrollen geboten gewesen wäre. Die genaue Einhaltung dieser Grundsätze wäre aber besonders wichtig gewesen, weil der Beklagte mit seinem PKW erst eine kurze Strecke in die nördliche Fahrbahnhälfte der Landstraße eingefahren gewesen sei, als auch schon der PKW der Klägerin herangekommen sei. Dazu komme noch, daß der Beklagte, als er den PKW während des Einfahrens in die Landesstraße im Bereich der Mitte der nördlichen Fahrbahnhälfte wahrgenommen habe, statt unverzüglich anzuhalten, unter Beschleunigung seines PKWs weiter in die bevorrangte Verkehrsfläche, deren gesamte Breite der Vorrang zukomme, eingefahren sei, wodurch er den Lenker des Fahrzeuges der Klägerin zu einer Reaktion gezwungen habe und es in der Folge zum Unfall gekommen sei. Durch ein sofortiges Anhalten des PKW des Beklagten wäre für den Lenker des Fahrzeuges der Klägerin erkennbar geworden, daß der Beklagte seine Vorbeifahrt abwarten wolle. Dem Beklagten sei somit die Verletzung des Vorranges des PKWs der Klägerin anzulasten, welcher Verstoß nach ständiger Rechtsprechung schwerer wiege als andere Verkehrswidrigkeiten. Der Lenker des Fahrzeuges der Klägerin, der durch eigenes Fehlverhalten den Vorrang nicht verloren hätte, habe lediglich eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 3 % und eine Reaktionsverzögerung um Sekundenbruchteile (0,3 Sekunden) zu vertreten. Beides sei gegenüber einer Vorrangverletzung zu vernachlässigen. Im übrigen stehe fest, daß es auch bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zum Unfall gekommen wäre und die Folgen dieselben gewesen wären. Ein meßbares Mitverschulden des Lenkers des PKW der Klägerin liege somit nicht vor, weshalb die erstgerichtliche Entscheidung spruchgemäß abzuändern gewesen sei. Demgegenüber steht der Beklagte in seiner Revision weiterhin auf dem Standpunkt, er habe sich keiner Vorrangverletzung schuldig gemacht, den Lenker des Fahrzeuges der Klägerin treffe vielmehr das alleinige Verschulden an dem Unfall, weil er sich der Unfallstelle mit einer unzulässigen Geschwindigkeit genähert habe. Diesen Ausführungen kommt im Ergebnis teilweise Berechtigung zu. Daß der Beklagte aus einer Verkehrsfläche iS des § 19 Abs 6 StVO in die Landesstraße eingefahren ist, läßt der Revisionswerber zu Recht unbekämpft. Einem Wartepflichtigen ist es verboten, durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen die Lenker von Fahrzeugen mit Vorrang zu einem unvermittelten Bremsen oder einem Ablenken ihrer Fahrzeuge zu nötigen (§ 19 Abs 7 StVO). Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß ein von einer nach § 19 Abs 6 StVO benachrangten Verkehrsfläche kommender Fahrzeuglenker besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit anzuwenden und seine Fahrweise unter allen Umständen so einzurichten hat, daß er auch Lenker von Fahrzeugen mit Vorrang, die sich nicht vorschriftsgemäß verhalten, weder gefährdet noch behindert (ZVR 1970/63; ZVR 1976/287; ZVR 1978/70 ua). Es wird daher vom Wartepflichtigen bei Vorliegen schlechter Sichtverhältnisse verlangt, daß er seine Fahrgeschwindigkeit bis zu einem Vortasten herabmindert, dh äußerst langsam, schrittweise, wenn notwendig, in mehreren Etappen in die bevorrangte Verkehrsfläche einfährt, um den Vorrang allenfalls herankommender Verkehrsteilnehmer wahren zu können (vgl ZVR 1975/177; ZVR 1977/157; ZVR 1983/331 ua). Diese Vorsichtsmaßnahmen sind aber nicht nur beim Einfahren in eine vom Wartepflichtigen vorerst nicht einsehbare Verkehrsfläche einzuhalten, sondern auch dann, wenn die Fahrbahn der bevorrangten Straße nicht in jenem Ausmaß überblickt werden kann, das erforderlich ist, um mit Sicherheit beurteilen zu können, daß durch das Einfahren in die bevorrangte Verkehrsfläche keine Fahrzeuge, die dort herankommen könnten, behindert werden.

Die vorliegende Verkehrssituation war vor allem dadurch gekennzeichnet, daß der Beklagte die Landesstraße nach Osten wegen ihres Verlaufes nur auf etwa 70 bis 80 m einzusehen vermochte. Unter diesen Umständen konnte er aber nicht mit Sicherheit davon ausgehen, das Einfahrmanöver in die Landesstraße ohne Behinderung möglicherweise herankommenden bevorrangten Fließverkehrs beenden zu können; wie der Unfall zeigte, war er dann auch tatsächlich nicht in der Lage, den Vorrang des Lenkers des von Osten kommenden Kraftfahrzeuges der Klägerin zu wahren. Da der Beklagte unter den gegebenen Umständen nicht berechtigt war, in die Landesstraße in einem Zuge einzufahren und er durch sein Verhalten Alfons C zu einem unvermittelten Bremsen genötigt hat, wurde ihm vom Berufungsgericht mit Recht ein Verstoß gegen die Bestimmung des § 19 Abs 7 StVO angelastet. Die Annahme einer Haftung des Beklagten für die Unfallsfolgen durch das Gericht zweiter Instanz entspricht daher der Sach- und Rechtslage. Insoweit ist die Revision nicht berechtigt.

Was nun die Frage eines Mitverschuldens des Lenkers des PKW der Klägerin anlangt, so ist davon auszugehen, daß die Einwendung des Alleinverschuldens auch jene des Mitverschuldens enthält (ZVR 1973/1; ZVR 1978/167; SZ 53/164 ua), die Prüfung des Mitverschuldens sich auf jene tatsächlichen Umstände zu beschränken hat, die vom Beklagten eingewendet wurden (SZ 37/151; ZVR 1973/1 ua) und den Beklagten die Behauptungs- und Beweislast für eine die Haftung für die Unfallsfolgen begründendes Mitverschulden des Klägers trifft, wobei jede in dieser Richtung verbleibende Unklarheit zu Lasten des das Mitverschulden behauptenden Beklagten geht (ZVR 1976/194; ZVR 1979/58; ZVR 1981/84 ua). Der Beklagte hat das Mitverschulden des Lenkers des Fahrzeuges der Klägerin auf die Einhaltung einer unzulässigen Geschwindigkeit gestützt. Den Ergebnissen des Beweisverfahrens entsprechend (wonach die Bremsausgangsgeschwindigkeit des PKW der Klägerin mindestens 103 km/h höchstens jedoch 120 km/h betragen hat), ist bei der Beurteilung eines allfälligen Mitverschuldens Alfons CS zu seinen und der Klägerin Gunsten von der Einhaltung einer Fahrgeschwindigkeit von 103 km/h auszugehen. Wenn das Berufungsgericht unter diesen Umständen die von Alfons C eingehaltene Bremsausgangsgeschwindigkeit mit 103 km/h festgestellt, jedoch die vom Erstgericht auf Grund des eingeholten Sachverständigengutachtens weiters noch getroffene Feststellung, diese Geschwindigkeit hätte höchstens 120 km/h betragen, unterlassen hat, so erweist sich diese Unterlassung als rechtlich unerheblich, weshalb der vom Revisionswerber geltend gemachte Anfechtungsgrund der Aktenwidrigkeit nicht gegeben ist.

Alfons C hat daher - wenn auch geringfügig - die gemäß § 20 Abs 2 StVO auf Freilandstraßen zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Dazu kommt aber noch, daß jeder motorisierte Verkehrsteilnehmer auf Sicht zu fahren hat. Die Angemessenheit der Fahrgeschwindigkeit im Sinne dieses Grundsatzes wird durch die Erfahrungswerte bestimmt, bei denen unter den jeweils gegebenen Verhältnissen ein verläßliches Anhalten vor einem auf der Fahrbahn befindlichen Hindernis gewährleistet ist (ZVR 1966/180). Die Pflicht zum Fahren auf Sicht gilt grundsätzlich uneingeschränkt; die Geschwindigkeit ist daher stets so zu wählen, daß sie unter Berücksichtigung der Reaktionszeit ein Anhalten innerhalb der eingesehenen Strecke (ZVR 1968/12: ZVR 1969/59 ua) oder zumindest ein Umfahren des Hindernisses gestattet (ZVR 1957/3; ZVR 1968/123; ZVR 1972/6; ZVR 1982/181; ZVR 1983/257 ua); sie besteht auch auf Freilandstraßen (ZVR 1968/l82). Im vorliegenden Fall konnte der Lenker des PKWs der Klägerin bei Annäherung an die Unfallsstelle den rechten Fahrbahnrand der Landesstraße bloß auf eine Strecke von 70 bis 80 m einsehen und das auf der Fahrbahn befindliche Fahrzeug des Beklagten erst auf 73 m wahrnehmen. Dessenungeachtet hielt er tatsächlich eine Geschwindigkeit ein, bei der der Anhalteweg 82,8 m betrug. Auch bei der unter günstigsten Verhältnissen zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h hätte der Anhalteweg für den von ihm gelenkten PKW 79,3 m betragen. Unter diesen Umständen war ein verläßliches Anhalten vor einem auf der Fahrbahn befindlichen Hindernis aber nicht mehr gewährleistet. Alfons C hat somit auch gegen § 20 Abs 1 StVO verstoßen. Damit liegt ihm aber eine übertretung von Schutznormen im Sinne des § 1311 ABGB zur Last (vgl.MGA ABGB 32 , § 1311/59 und 61), so daß die Klägerin hätte behaupten und beweisen müssen, daß ihr Schade auch bei Einhaltung einer zulässigen Geschwindigkeit im gleichen Umfang eingetreten wäre (vgl.MGA ABGB 32 , § 1311/39; ZVR 1981/116 ua). Diesen Nachweis hat die Klägerin aber nicht erbracht. Bedenkt man weiters, daß C, abgesehen von dem Verstoß gegen § 20 Abs 2 und 1 StVO, auch noch eine - wenngleich geringfügige - Reaktionsverspätung zur Last fällt, so kann unter den gegebenen Unständen sein Fehlverhalten im Straßenverkehr bei der Schadensteilung doch nicht gänzlich vernachlässigt werden. Da Vorrangverletzungen in der Regel schwerer wiegen als andere Verkehrswidrigkeiten (vgl.ZVR 1980/115; ZVR 1981/211 uns 263; ZVR 1982/19, 107 und 235; ZVR 1983/13, 94 und 149), insbesondere auch als Geschwindigkeitsüberschreitungen (vgl.ZVR 1979/213; ZVR 1982/233), erscheint im Hinblick auf die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten beider Verkehrsteilnehmer im allgemeinen und im konkreten Fall bewirkten Gefahr (vgl. ZVR 1975/162; ZVR 1976/11; SZ 51/104; ZVR 1980/346; ZVR 1981/106; ZVR 1983/124; ZVR 1985/1) eine Verschuldensaufteilung von 3 : 1 zu Lasten des Beklagten gerechtfertigt.

Damit erweist sich aber die Revision als teilweise berechtigt, weshalb die Entscheidungen der Vorinstanzen im Hinblick auf die aufrechnungsweise geltend gemachte Gegenforderung des Beklagten spruchgemäß abzuändern waren.

Die Entscheidung über die Prozeßkosten und die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf den §§ 43 Abs 1 bzw. und 50 ZPO.

Anmerkung

E06579

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1985:0080OB00048.85.0912.000

Dokumentnummer

JJT_19850912_OGH0002_0080OB00048_8500000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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