TE OGH 1987/10/15 13Os120/87

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Veröffentlicht am 15.10.1987
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 15.Oktober 1987 durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Melnizky als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Müller, Dr. Felzmann (Berichterstatter), Dr. Brustbauer und Dr. Kuch als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Bachinger als Schriftführerin in der Mediensache des Antragstellers Erich W*** gegen die Antragsgegnerin Karl M*** GesmbH wegen §§ 6, 33 Abs. 2, 34 MedienG über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 19.August 1985, AZ 27 Bs 308/85, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Erster Generalanwalt Dr. Nurscher, des Vertreters des Antragstellers Dr. Amhof und des Vertreters der Antragsgegnerin Dr. Kollmann jedoch in Abwesenheit des Antragstellers zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

I. Aus den Akten 9 a E Vr 11.954/84 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien 27 Bs 308/85 des Oberlandesgerichtes Wien ergibt sich nachstehender Sachverhalt:

In der Medienrechtssache des Antragstellers Erich W*** gegen die Antragsgegnerin Karl M*** GesmbH wegen §§ 6, 33 Abs. 2 und 34 MedienG, AZ 9 a E Vr 11.954/84 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, stellte der Einzelrichter dieses Gerichts in seinem in Abwesenheit der Antragsgegnerin gefällten Urteil vom 19. Februar 1985 (ON 8) fest, daß durch bestimmte, in der Ausgabe der periodischen Druckschrift "U*** S***-J***, Simmering-Journal" vom Oktober 1984 unter dem Titel "Beinharte Anschuldigungen an Hauswart - führt hier jemand ein Schreckensregime?" veröffentlichte, im Urteilsspruch näher umschriebene Textstellen der Antragsteller in einem Druckwerk verächtlicher Eigenschaften und Gesinnungen geziehen und unehrenhafter Verhaltensweisen beschuldigt wurde, die geeignet sind, ihn in der öffentlichen Meinung verächtlich zu machen und herabzusetzen, wodurch der Tatbestand des Vergehens der üblen Nachrede nach § 111 Abs. 1 und Abs. 2 StGB (in objektiver Hinsicht) verwirklicht wurde.

Auf Grund dieser Feststellung wurde gemäß § 33 Abs. 2 MedienG die Einziehung der noch zur Verbreitung bestimmten Stücke des erwähnten Medienwerkes angeordnet und gemäß § 6 Abs. 1 MedienG die Antragsgegnerin Karl M*** GesmbH zur Bezahlung eines Entschädigungsbetrages in der Höhe von S 10.000 zur Abgeltung der dem Antragsteller widerfahrenen Kränkung verpflichtet. Gemäß § 33 Abs. 5 und § 8 Abs. 3 MedienG sowie § 389 StPO wurde die Antragsgegnerin in den Kostenersatz verfällt. Schließlich wurde gemäß § 34 Abs. 3 MedienG auf die Veröffentlichung des Spruches des erstgerichtlichen Urteils erkannt.

Gegen dieses Urteil meldete die Antragsgegnerin Berufung wegen Nichtigkeit sowie wegen des Ausspruchs über die Schuld an; in der schriftlichen Berufungsausführung wurde die Nichtigkeitsberufung zurückgezogen und die Schuldberufung dahin ausgeführt, daß - nunmehr erstmalig - für die inkrimierten Textstellen der Wahrheitsbeweis sowie der Beweis der Wahrnehmung journalistischer Sorgfalt angeboten und in diesem Zusammenhang die Vernehmung dreier Zeugen in der Berufungsverhandlung beantragt wurde.

Das Oberlandesgericht Wien gab mit Urteil vom 19.August 1985, AZ 27 Bs 308/85, der Berufung der Antragsgegnerin nicht Folge. Es vertrat - gestützt auf die Bestimmung des § 112 StGB und die hiezu von Leukauf-Steininger2 in RN 3 zu § 112 StGB angeführte oberstgerichtliche Entscheidung SSt 24/52 - die Ansicht, der Wahrheitsbeweis hätte bereits in erster Instanz angeboten werden müssen und es stünde nicht im Belieben des Beschuldigten, seinen Antrag auf Durchführung des Wahrheitsbeweises in die zweite Instanz zu verlagern. Die Ablehnung der gegenteiligen Auffassung (Foregger WrK Rz 5 zu § 112 StGB und die dort angeführte Rechtsprechung) begründet das Oberlandesgericht Wien auch noch mit der durch das StGB geänderten Rechtslage, wonach die Tatbestände nach den §§ 487, 488 StG 1945 die fälschliche Erhebung der dort genannten Anschuldigungen zur Voraussetzung gehabt hätten und sohin die Unwahrheit der Anschuldigungen ungeachtet des Umstandes, daß in Ansehung der Wahrheit der Vorwürfe den Täter die Beweislast getroffen habe, Tatbestandsmerkmal gewesen sei; hingegen seien die im § 111 StGB umschriebenen Anschuldigungen völlig unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt tatbildlich, und durch die Erbringung des Wahrheitsbeweises könne der Täter bloß zufolge Inanspruchnahme eines sachlichen Schuldausschließungsgrundes straflos werden. Ein solcher Schuldausschließungsgrund könne aber - wofür auch Erwägungen der Prozeßökonomie sprächen - nur in erster Instanz geltend gemacht werden, was im vorliegenden Fall unterblieben sei, weil die Antragsgegnerin zur Hauptverhandlung keinen bevollmächtigten Vertreter entsandt habe. Nur wenn sich der Täter bereits in erster Instanz auf die Wahrheit der Anschuldigungen gemäß § 112 StGB berufe, könne er auch im Rahmen der Schuldberufung die Überprüfung der erstgerichtlichen Feststellungen und Beweiswürdigung zum Thema des Wahrheitsbeweises - auch unter Beibringung neuer Beweismittel - verlangen.

II. Nach Meinung der Generalprokuratur verletzt das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 9.August 1985, AZ 27 Bs 308/85, das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 6 Abs. 2 Z 2 lit a, 8 Abs. 2, 29 Abs. 2, 33 Abs. 2 und 34 Abs. 3 MedienG im Zusammenhalt mit § 112 StGB sowie den §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 1 und 489 Abs. 1 StPO; sie führt hiezu wörtlich aus:

"Der Meinung des Oberlandesgerichtes Wien zuwider hat die Konstruktion des erbrachten Wahrheitsbeweises als sachlichen Strafausschließungsgrund (EvBl 1979/120, SSt 51/12) - im Gegensatz zum Mangel am Tatbestand nach den §§ 487, 488 StG 1945 - bloß Auswirkungen im Verfahren über die Berufung wegen Nichtigkeit in Ansehung des heranzuziehenden Nichtigkeitsgrundes. Denn die Bekämpfung der rechtsirrigen Annahme, daß der - in erster Instanz - angebotene Wahrheitsbeweis gelungen oder mißlungen sei, war zur Zeit der Geltung des StG 1945 auf den Nichtigkeitsgrund der Z 9 lit a des § 281 Abs. 1 StPO und ist nunmehr auf jenen der Z 9 lit b des § 281 Abs. 1 StPO (§§ 489 Abs. 1 und 468 Abs. 1 Z 4 StPO) zu stützen. Wird - wie im vorliegenden Fall - der Wahrheitsbeweis in erster Instanz nicht angeboten, dann kann dieser Strafausschließungsgrund im Rechtsmittelverfahren auch nicht im Rahmen einer Nichtigkeitsberufung unter dem Gesichtspunkt von - entsprechendes Vorbringen in erster Instanz voraussetzenden - Feststellungsmängeln im Sinne des Nichtigkeitsgrundes der Z 9 lit b des § 281 Abs. 1 StPO berücksichtigt werden.

Keine Änderung der Rechtslage ist hingegen im Bereich der Schuldberufung eingetreten, mit welcher im Verfahren beim Bezirksgericht und vor dem Einzelrichter des Gerichtshofes (§ 489 Abs. 1 StPO) der Rechtsmittelwerber berechtigt ist, in einer fristgerecht ausgeführten (Schuld-)Berufung allenfalls neue Tatsachen oder Beweismittel unter genauer Angabe aller zur Beurteilung ihrer Erheblichkeit dienenden Umstände anzuzeigen (§ 467 Abs. 1 StPO), worauf in der Berufungsverhandlung die etwa vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie der Angeklagte, wenn er persönlich anwesend ist, zu vernehmen sind (§ 473 Abs. 1 StPO). Dieses Berufungsverfahren ist nämlich ein neues, mit erhöhten Garantien ausgestattetes Hauptverfahren, in dem das Berufungsgericht seine Aufgaben auf Grund des gesamten ihm vorliegenden Materials zu lösen hat, insbesondere ist es daher zulässig, im Berufungsverfahren Neuerungen vorzubringen und neue Beweisanträge zu stellen (EvBl 1958/38).

Es ist daher nicht einzusehen, warum unter einer solchen "neuen Tatsache", welche im Rahmen der Schuldberufung geltend gemacht wird, nicht auch jene der inhaltlichen Wahrheit des inkriminierten Vorwurfes zu verstehen sein sollte, die bei ihrer

Erweisbarkeit - unter Umständen - zugunsten des Rechtsmittelwerbers zu einer anderen rechtlichen Beurteilung des gesamten zu beachtenden Sachverhaltes führen kann. Der Ansicht des Oberlandesgerichtes Wien, der Wahrheitsbeweis hätte bereits in erster Instanz angeboten werden müssen, kann daher auch noch aus nachstehenden Erwägungen nicht gefolgt werden:

Weder im § 112 StGB noch in den hier in Rede stehenden §§ 8 Abs. 2 und 29 Abs. 2 (bzw §§ 33 Abs. 2 und 34 Abs. 3) MedienG ist festgelegt, bis zu welchem Verfahrenszeitpunkt der Wahrheitsbeweis - spätenstens - anzubieten ist.

Nach dem Wortlaut und Sinngehalt dieser Bestimmungen kann es aber nicht zweifelhaft sein, daß ein Täter straflos bleibt, sofern er nur im Zuge des gegen ihn eingeleiteten Verfahrens die Wahrheit seiner Beschuldigung nachweist (SSt 24/85). Die gleichlautende Regelung im § 112 StGB und in den §§ 8 Abs. 2 sowie 29 Abs. 2 MedienG, wonach der Wahrheitsbeweis nur aufzunehmen ist, wenn sich der Täter darauf beruft, bedeutet bloß, daß die Aufnahme dieses besonderen Entlastungsbeweises nicht von amtswegen, sondern nur über Initiative des Täters erfolgen darf (Kienapfel, BT I2 Rz 3 und 15 zu § 112 StGB; Hartmann-Rieder, Mediengesetz 1985, Anm IX zu § 6, Anm IV zu § 8, Anm X und XI zu § 29); es läßt sich aber aus diesen gesetzlichen Bestimmungen - entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichtes Wien - nicht der Schluß ableiten, daß dieser Wahrheitsbeweis in erster Instanz angeboten werden müsse und nicht erst im Berufungsverfahren erbracht werden dürfe.

Daraus und im Zusammenhalt mit den Bestimmungen der Strafprozeßordnung über die volle Berufung folgt, daß der Antragsgegnerin, die im vorliegenden Fall im Verfahren in erster Instanz nicht vertreten war und daher auch den Wahrheitsbeweis gar nicht antreten konnte, das Recht zustand, den Wahrheitsbeweis, der in jedem Stadium des Verfahrens erbracht werden kann, auch noch - erstmalig - im Berufungsverfahren anzubieten, wobei es nach der oberstgerichtlichen Rechtsprechung sogar ohne Bedeutung ist, daß der Täter in erster Instanz den Wahrheitsbeweis nicht erbringen konnte oder nicht gewillt war, ihn zu erbringen. Denn die StPO kennt keine Präklusion des Beschuldigten in seinem Rechte, alles zu seiner Verteidigung vorzubringen und Beweisanträge zu stellen, soweit dies nach dem Prozeßstadium nur überhaupt möglich ist (SSt 24/85; EvBl 1958/38; Foregger-Serini, StGB3, Anm III zu § 112 StGB, Foregger in WrK Rz 5 zu § 112 StGB; Mayerhofer-Rieder, StPO2, ENr 97 bis 99 zu § 3).

An dieser Rechtsauffassung vermag auch - entgegen der Meinung des Oberlandesgerichtes Wien - die zu SSt 24/52 veröffentlichte Entscheidung des Obersten Gerichtshofes nichts zu ändern, weil sie einen anders gelagerten Fall betrifft, der dem Obersten Gerichtshof übrigens gar keine Veranlassung bot, auf die - erst in seiner späteren Entscheidung gelösten - Rechtsfrage einzugehen, daß der Wahrheitsbeweis auch erst in der Berufungsverhandlung erbracht werden kann (SSt 24/85).

Die vom Oberlandesgericht Wien im übrigen ins Treffen geführten prozeßökonomischen Erwägungen sind daher ebensowenig rechtserheblich, zumal sie auch den für alle anderen Fälle der vollen Berufung geltenden gesetzlich eingeräumten Rechtsschutzmöglichkeiten des Rechtsmittelwerbers zuwiderlaufen würden.

Da in bezug auf den Wahrheitsbeweis die Rechte des Medieninhabers (Verlegers) jenen des Beschuldigten (Täters) nachgebildet sind (§§ 6 Abs. 2, 8 Abs. 2, 29 Abs. 2, 33 Abs. 2 MedienG), gelten die dargelegten Erwägungen auch für ein selbständiges Einziehungs- und Urteilsveröffentlichungsverfahren nach den §§ 33 Abs. 2 (und 34 Abs. 3) MedienG sowie für den Zuspruch eines Entschädigungsbetrages nach § 6 Abs. 1 MedienG. Nur vollständigkeitshalber sei erwähnt, daß gemäß § 29 Abs. 4 MedienG die §§ 111 Abs. 3 und 112 StGB nicht anzuwenden sind."

Rechtliche Beurteilung

III. Hiezu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:

Auch die Beschwerde zieht nicht in Zweifel, daß in Fällen, wo - etwa zufolge § 56 StPO - über eine Anklage nach § 111 StGB ein Schöffen- oder Geschwornengericht zu entscheiden hat, der Wahrheitsbeweis oder ihm gleichzuhaltende Strafausschließungsgründe nur Gegenstand einer Nichtigkeitsbeschwerde sein können, wenn in erster Instanz ein entsprechendes Vorbringen und Beweisanbot vorlag. Demgemäß kann auch im Rahmen einer Nichtigkeitsberufung gegen das Urteil des Einzelrichters beim Gerichtshof erster Instanz oder eines Bezirksgerichtes ein derartiger Strafausschließungsgrund nur mit Erfolg releviert werden, wenn sich der Berufungswerber schon in der Hauptverhandlung darauf berufen hatte.

Richtig ist weiter, daß die ältere Judikatur zu §§ 489, 490 StG von diesen Grundsätzen nur dann eine Ausnahme zuließ, wenn gegen ein Urteil auch eine Schuldberufung zulässig ist; sie hielt daher im Einzelrichter- und bezirksgerichtlichen Rechtsmittelverfahren das Anbot des Wahrheitsbeweises auch dann noch für beachtlich, wenn es im Rahmen der derartigen Schuldberufung schriftlich oder mündlich in der Berufungsverhandlung erklärt wurde (vgl hiezu Foregger, Ehrenbeleidigungen und Ehrenkränkungen, S 122, 123; derselbe im WrK Rz 5 zu § 112 StGB und die dort zitierte Judikatur). Allerdings sprach der Oberste Gerichtshof später wieder aus, daß der Antrag auf Aufnahme des Wahrheitsbeweises spätestens bis zum Schluß des Beweisverfahrens zu stellen ist (vgl Leitsatz in SSt 24/52). Auch der - von der Beschwerde zur Stützung ihres Standpunktes herangezogenen - Entscheidung SSt 24/85 lag ein Fall zugrunde, bei dem sich der Angeklagte schon in der Hauptverhandlung auf den Wahrheitsbeweis berufen hatte und darauf (nach vorübergehender Rückziehung) in der Berufungsverhandlung wieder zurückgekommen war. Diese Entscheidung vermag deshalb nichts darüber auszusagen, was rechtens sein soll, wenn sich der Beschuldigte (Antragsgegner) in erster Instanz überhaupt nicht am Verfahren beteiligt und erstmalig in der Berufungsschrift den Wahrheitsbeweis anbietet. Die (hier zu entscheidende) früher nur im Rahmen von Strafverfahren wegen Ehrenbeleidigung auftauchende Frage, bis zu welchem Zeitpunkt sich ein Beschuldigter (Antragsgegner) auf bestimmte strafausschließende Tatsachen (ausdrücklich) berufen muß, wurde weder im neugefaßten § 112 StGB noch in den dieser Beweislastregel nachgebildeten Vorschriften des MedienG geregelt; sie ist daher nach allgemeinen prozessualen Grundsätzen zu lösen. Die ratio für die hier in Frage stehenden - dem Strafverfahren im allgemeinen fremden - Beweislastregeln liegt offensichtlich in der sachlichen Wechselwirkung zwischen einer behaupteten üblen Nachrede und einem (gelungenen) Beweis der Richtigkeit einer derartigen Beschuldigung (§ 112 StGB) oder des Vorliegens von anderen gesetzlich anerkannten Gründen, die die Verantwortlichkeit für ein (objektiv begangenes) Medieninhaltsdelikt ausschließen (§§ 8 Abs. 2, 29 Abs. 2, 33 Abs. 2, 34 Abs. 3 MedienG). Kann doch unter Umständen ein in einem gerichtlichen Strafverfahren erbrachter Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsbeweis für einen (Privat-)Ankläger höchst diskriminierend sein (vgl Roeder in Maurach-FS, 1972, S 352 f, Kienapfel, BT2 RN 12, 13 zu § 112 StGB; Hartmann-Rieder, Handkommentar zum Mediengesetz, § 29, Punkt XI. S 180/184 ).

Nun ist im Prozeßrecht aber normiert, daß die Anklage (Antrags-)berechtigung nicht nur davon abhängt, daß von ihr innerhalb einer bestimmten Frist Gebrauch gemacht wird (§§ 2, 46 Abs. 1 StPO; § 117 StGB; §§ 8 Abs. 1 und 3, 33 Abs. 3, 34 Abs. 3 MedienG), sie muß auch jedenfalls zum Schluß der Hauptverhandlung noch vorliegen und kann dann - ausgenommen bei späterer Urteilsaufhebung und Verfahrenserneuerung in erster Instanz - nicht mehr zurückgezogen werden (vgl hiezu §§ 2 Abs. 4 und 5, 46 Abs. 3 StPO; § 8 Abs. 1 MedienG). Auf Seite des (Privat-)Anklägers (Antragstellers) ist somit vom Gesetzgeber klargestellt, daß nach Schluß der Hauptverhandlung auf (straf- oder medienrechtlich) relevante Sachverhalte, die nicht formell geltend gemacht wurden, nicht mehr Bedacht genommen werden kann. Nichts anderes kann für die (besonderen) Strafverfahren gelten, in welchen der Gesetzgeber für den Beschuldigten (Antragsgegner) formelle Schranken für die Erbringung von Entlastungsbeweisen (Beweislastregeln) aufstellt. Es muß sich daher auch der Beschuldigte (Antragsgegner) bis zum Schluß der Hauptverhandlung auf den Wahrheitsbeweis (Beweis des guten Glaubens; der journalistischen Sorgfalt usw.) berufen.

Diese Auslegung widerspricht nicht dem in jedem Strafverfahren zu beachtenden Gebot der Erforschung der materiellen Wahrheit (§§ 3, 232 Abs. 2, 254 StPO), und steht auch - der Beschwerde zuwider - nicht im Gegensatz zu den Vorschriften über das Berufungsverfahren im Einzelrichter- und bezirksgerichtlichen Verfahren (§§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 1, 489 Abs. 1 StPO), weil die logischen Voraussetzungen für die Erforschung der materiellen Wahrheit das Vorliegen einer Anklage und - wenn formelle Beweislastregeln auf Seite des Prozeßgegners bestehen - auch eine entsprechende (zeitgerechte) Prozeßhandlung des Beschuldigten (Antragsgegners) sind. Wurde andererseits eine solche Prozeßhandlung in der Hauptverhandlung gesetzt, dann können auch noch im Rechtsmittelverfahren (je nach der materiellen Rechtslage) Anträge gestellt werden, die auf die Erbringung des entsprechenden Entlastungsbeweises abzielen, sohin im Rahmen einer (zulässigen) Berufung gegen den Ausspruch über die Schuld (§§ 464 Z 2, 489 Abs. 1 StPO) auch neue Tatsachen und Beweismittel vorgebracht werden. Dasselbe gilt wohl auch für eine allfällige Wiederaufnahme des Strafverfahrens (siehe hingegen Foregger-Serini3 Anm III und Foregger in WrK Rz 5 a.E., je zu § 112 StGB; die dort zitierte Entscheidung KH 2186 läßt allerdings nicht erkennen, ob sich der Beschuldigte nicht doch schon früher auf den Wahrheitsbeweis berufen hatte).

Anders läge der Fall allerdings dann, wenn im Rahmen eines - aus welchem Grunde immer - erneuerten Beweisverfahren Tatsachen zutagetreten, die eine andere als die in der Anklage angelastete strafbare Handlung begründen könnten (§ 262 StPO) und erst hiedurch dem Angeklagten (Antragsgegner) die (nach der Anklage noch nicht bestandene) Möglichkeit der (strafbarkeitsausschließenden) Erbringung eines Wahrheitsbeweises oder des Beweises des Vorliegens eines ähnlichen Strafausschließungsgrundes eröffnet wird. In diesem Fall müßte dem Angeklagten Gelegenheit geboten werden, der geänderten Situation eine adäquate Verteidigungslinie entgegenzusetzen.

Der Oberste Gerichtshof schließt sich daher im Ergebnis der Meinung des Oberlandesgerichtes Wien an und kann in der Forderung, daß ein Beschuldigter (Antragsgegner), der ehrenrührige Vorwürfe verbreitet oder veröffentlicht, noch vor Schluß der Hauptverhandlung erklären müsse, ob er sich auf den Wahrheitsbeweis oder zumindest subjektiv auf die Berechtigung, solche Vorwürfe zu erheben, beruft, keine (unbillige) Benachteiligung des Beschuldigten (Antragsgegners) erblicken. In der Regel kann nämlich davon ausgegangen werden, daß der Täter schon zum Tatzeitpunkt von der Richtigkeit seiner (ehrenrührigen) Behauptungen ausging (vgl SSt 16/46 und Hartmann-Rieder, Anm 17 zu § 6 MedienG). Dann besteht aber für ihn auch kein Hindernis, sich darauf - zumindeset eventualiter - schon in der Hauptverhandlung zu berufen, und zwar unabhängig davon, ob sogleich ausreichende Beweismittel zur Verfügung stehen. Es war daher der von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes der Erfolg zu versagen.

Anmerkung

E11936

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:1987:0130OS00120.87.1015.000

Dokumentnummer

JJT_19871015_OGH0002_0130OS00120_8700000_000
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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