TE Vfgh Erkenntnis 2008/6/10 B1327/07

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Veröffentlicht am 10.06.2008
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
FremdenpolizeiG 2005 §2 Abs4 Z11, §54 Abs1, §66
Niederlassungs- und AufenthaltsG (NAG) §11 Abs2 Z4, Abs5, §23 Abs4

Leitsatz

Verletzung einer indischen Staatsangehörigen im Recht auf Privat- undFamilienleben durch Ausweisung aus dem Bundesgebiet aufgrund der -vertretbaren - Annahme des Vorliegens einer finanziellen Belastungeiner Gebietskörperschaft durch den weiteren Aufenthalt derBeschwerdeführerin; jedoch verfassungswidrige Interessenabwägungmangels hinreichender Berücksichtigung eines intensivenGrundrechtseingriffs durch die Trennung von den Familienangehörigen

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.340,-

bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Beschwerdeführerin, eine indische Staatsangehörige,

lebt nach eigenen Angaben mit ihrem österreichischen Vater, ihrer Mutter sowie ihrem am 22. März 2006 in Österreich geborenen Kind im gemeinsamen Haushalt. Ihr Ehemann lebt in Indien, da sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen fehlender Unterkunft bzw. mangelnden Unterhalts abgewiesen wurde. Vier Geschwister der Beschwerdeführerin sind ebenfalls in Österreich aufhältig.

Die Beschwerdeführerin befand sich seit 14. November 2002 aufgrund eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet; der Aufenthaltstitel wurde in weiterer Folge verlängert und hatte zuletzt bis zum 17. März 2006 Gültigkeit. Aus Anlass eines am 4. Jänner 2006 eingebrachten Verlängerungsantrags wurde gegen die Beschwerdeführerin ein Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung eingeleitet.

2.1. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 9. Mai 2006 wurde die Beschwerdeführerin gemäß §54 Abs1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Die Bundespolizeidirektion führte aus, dass der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund entgegenstehe, da Aufenthaltstitel gemäß §11 Abs2 Z4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) einem Fremden nur erteilt werden dürfen, wenn der Aufenthalt zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte.

2.2. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 11. Juni 2007 abgewiesen. Darin ging die Behörde aufgrund der vorgelegten Unterlagen davon aus, dass der Vater der Beschwerdeführerin mit seinem Einkommen gerade sein eigenes Existenzminimum erwirtschaften könne, darüber hinaus aber nicht im Stande wäre, einer anderen Person Lebensunterhalt zu gewähren. Auch das geringe Einkommen der Beschwerdeführerin und die im Verfahren vorgelegte Haftungserklärung ihrer Schwester könnten die erforderlichen Unterhaltsmittel nicht nachweisen, zumal die Haftungserklärung schon mangels Zulässigkeit im hier maßgeblichen Aufenthaltsverfahren nicht geeignet sei, die Voraussetzungen des §11 Abs2 Z3 NAG zu erfüllen. Das an die Mutter der Beschwerdeführerin ausbezahlte Pflegegeld habe außer Betracht zu bleiben, da dieses eine zweckgebundene Leistung zur teilweisen Abdeckung der pflegebedingten Mehraufwendungen sei und daher keine Einkommenserhöhung darstelle. Insgesamt seien die Voraussetzungen des §54 Abs1 FPG damit erfüllt.

Im Weiteren führte die Behörde aus, dass sich der Ehemann der Beschwerdeführerin in Indien aufhalte; sein Antrag auf Erteilung eines (erstmaligen) Aufenthaltstitels sei wegen fehlender Unterkunft bzw. mangelnden Unterhalts erstinstanzlich abgewiesen worden. Die Beschwerdeführerin sei für ihr minderjähriges Kind sorgepflichtig; sie lebe mit ihren Eltern und einer Schwester im gemeinsamen Haushalt. Die Ausweisung bewirke somit einen Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin, der aber zur Erreichung der in Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten sei. Den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften und deren Befolgung durch den Normadressaten komme aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein besonders hoher Stellenwert zu. Gegen dieses hohe öffentliche Interesse würde gravierend verstoßen, wenn ein Fremder nicht im Besitz der erforderlichen Mittel zur Sicherstellung seines Unterhalts (und desjenigen seines Kindes) sei.

Bei der gemäß §66 Abs2 FPG durchzuführenden Interessenabwägung sei zunächst auf die aus der Dauer des inländischen Aufenthalts ableitbare Integration der Beschwerdeführerin Bedacht zu nehmen. Diese wiege jedoch keinesfalls schwer, zumal die Beschwerdeführerin weder am heimischen Arbeitsmarkt nachhaltig integriert noch der deutschen Sprache mächtig sei. Weiters sei darauf hinzuweisen, dass das Kind der Beschwerdeführerin gemäß §23 Abs4 NAG ihr aufenthaltsrechtliches Schicksal teile und keine unüberwindbaren Hindernisse geltend gemacht wurden, die einer gemeinsamen Ausreise entgegenstehen würden. Selbst wenn die Beschwerdeführerin mit ihrer Familie im gemeinsamen Haushalt lebe, sei zu bedenken, dass sie bereits volljährig ist. Insgesamt erweise sich das der Beschwerdeführerin zuzuschreibende Interesse am Weiterverbleib im Bundesgebiet zwar als gewichtig, keinesfalls jedoch als besonders ausgeprägt. Bei Abwägung der insofern relevanten Interessenlage würden die Auswirkungen der Ausweisung auf die Lebenssituation der Beschwerdeführerin keinesfalls schwerer wiegen als das mit der Verwirklichung des Versagungsgrundes gegebene hohe Interesse am Verlassen des Bundesgebietes.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde gemäß Art144 B-VG, in der die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes sowie die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens, auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter behauptet und beantragt wird, den angefochtenen Bescheid kostenpflichtig aufzuheben, in eventu die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof abzutreten.

Begründend wird u.a. ausgeführt, dass die belangte Behörde im Hinblick auf das intensive Familienleben der Beschwerdeführerin in Österreich, ihren mehr als vier Jahre durchgehend rechtmäßigen Aufenthalt und ihre Erwerbstätigkeit eine unzutreffende Interessenabwägung iSd Art8 EMRK durchgeführt habe. Die Behörde sei zudem fälschlicher Weise davon ausgegangen, dass der Vater der Beschwerdeführerin sein Recht auf Freizügigkeit nicht iSd §2 Abs4 Z11 FPG in Anspruch genommen habe, weshalb nicht die Sicherheitsdirektion, sondern gemäß §9 Abs1 FPG der Unabhängige Verwaltungssenat zur Entscheidung berufen gewesen wäre. Schließlich behauptet die Beschwerde die Verfassungswidrigkeit des §2 Abs4 Z11 FPG sowie des §11 Abs5 NAG, da diese Vorschriften dem Bestimmtheitsgebot des Art18 B-VG nicht entsprechen und diskriminierende Regelungen treffen würden.

4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie der Beschwerde entgegentritt und im Wesentlichen ausführt, dass kein Hinweis dafür bestehe, dass die Beschwerdeführerin begünstigte Drittstaatsangehörige iSd §2 Abs4 Z11 FPG sei, zumal auch aus der Beschwerde nicht hervorgehe, aus welchen Gründen der Vater der Beschwerdeführerin freizügigkeitsberechtigt sein solle.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Zum Verständnis des §2 Abs4 Z11 FPG ist auf die Entscheidungen des Verfassungsgerichthofes vom 13. Oktober 2006, VfSlg. 17.983 und B236/06, zu §11 Abs5 NAG auf das Erkenntnis vom 13. Oktober 2007, B1462/06, zu verweisen; die diesbezüglichen Ausführungen des Gerichtshofes zur Verfassungsmäßigkeit der in Rede stehenden Normen können jeweils auf den vorliegenden Fall übertragen werden.

Die in der Beschwerde vorgebrachten Bedenken gegen die dem Bescheid zugrunde liegenden Normen treffen daher nicht zu. Ebenso wenig sind aus Anlass der vorliegenden Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der §§54 Abs1 und 66 FPG entstanden.

2. Auch das Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter geht ins Leere: Der Behörde kann angesichts des vorliegenden Sachverhalts in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht entgegengetreten werden, wenn sie davon ausgeht, dass die Beschwerdeführerin keine begünstigte Drittstaatsangehörige iSd §2 Abs4 Z11 FPG ist. Die Sicherheitsdirektion hat daher ihre Zuständigkeit zutreffend in Anspruch genommen.

Ob die von der Behörde vorgenommene Berechnung zur Frage des Vorliegens einer finanziellen Belastung iSd §11 Abs5 NAG dem Gesetz entspricht, ist - da der Behörde dabei kein in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen ist - nicht vom Verfassungsgerichtshof, sondern vom Verwaltungsgerichtshof zu beurteilen (vgl. das bereits zitierte Erkenntnis VfGH 13.10.2007, B1462/06).

3. Der bekämpfte Bescheid verletzt die Beschwerdeführerin allerdings in ihrem gemäß Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

3.1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht wäre dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg. 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3.2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 29. September 2007, B328/07, dargelegt hat, ist die zuständige Fremdenpolizeibehörde stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In der zitierten Entscheidung wurden vom Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.

3.3. Im Lichte dieser Kriterien erweist sich aber die von der Behörde vorgenommene Abwägung iSd Art8 EMRK als fehlerhaft:

Die belangte Behörde hat zwar dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens die persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib im Bundesgebiet gegenüber gestellt, die Interessen jedoch im Ergebnis in verfassungswidriger Weise abgewogen.

Zunächst misst die Behörde dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin ab dem 14. November 2002 ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig war (s. §24 Abs2 NAG) und während dieser Zeit mit ihren Eltern im gemeinsamen Familienverband lebte, einer (geringfügigen) Erwerbstätigkeit nachging und im März 2006 ein Kind zur Welt brachte, fälschlicherweise keine entscheidungswesentliche Bedeutung bei. Die Behörde lässt es für die aus der Dauer des Aufenthalts ableitbare Integration der Beschwerdeführerin vielmehr bei den allgemeinen Feststellungen bewenden, dass die Beschwerdeführerin am Arbeitsmarkt nicht "nachhaltig" integriert sei und keine Kenntnisse der deutschen Sprache habe. Damit hat sie jedoch die rechtliche Qualität des Aufenthalts der Beschwerdeführerin in Österreich und ihre daraus erwachsenden, grundrechtlich geschützten Interessen nicht hinreichend bedacht.

Die Behörde hat unter diesem Gesichtspunkt aber auch dem Umstand, dass die aufgrund der Ausweisung drohende Trennung der Beschwerdeführerin von ihren Eltern und ihren Geschwistern einen intensiven Eingriff in die gemäß Art8 EMRK garantierten Rechte bewirkt, nicht hinreichend Rechnung getragen. Allein die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin bereits volljährig ist, entbindet die Behörde nicht von der verfassungsrechtlich gebotenen Bedachtnahme auf die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland und der Beurteilung, ob diesen entsprechende Bindungen im Heimatstaat gegenüberstehen. Die Berücksichtigung der persönlichen Situation ist auch dann nicht entbehrlich, wenn - wie im vorliegenden Fall - der Ehemann der Beschwerdeführerin in Indien lebt, da darin aus der Sicht des Falles kein allein ausschlaggebender Grund für das Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Ausreise zu sehen ist.

Der Verfassungsgerichtshof vermag schließlich der im Bescheid getroffenen Feststellung, dass das minderjährige Kind der Beschwerdeführerin gemäß §23 Abs4 NAG das aufenthaltsrechtliche Schicksal der Mutter teile und (daher) einer gemeinsamen Ausreise nichts entgegenstehe, nicht zu folgen: Wenn die Behörde damit vermeint, dass eine Trennung der Beschwerdeführerin von ihrer minderjährigen Tochter angesichts des §23 Abs4 NAG von vornherein nicht drohe, ist ihr zu entgegnen, dass mit dem bekämpften Bescheid ausschließlich die Ausweisung der Beschwerdeführerin, nicht aber ihrer Tochter ausgesprochen wird, weshalb sich auch die damit verbundene Ausreiseverpflichtung (s. §67 Abs1 FPG) allein gegen die Beschwerdeführerin richtet. Die Behörde hätte bei ihrer Entscheidung daher jedenfalls den Umstand einer möglichen Trennung von Mutter und Kind in Erwägung zu ziehen gehabt.

4. Dadurch, dass die Behörde auf die Interessen der Beschwerdeführerin am Verbleib im Bundesgebiet nicht ausreichend Bedacht genommen hat, wurde diese in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

Der Bescheid war daher aufzuheben.

III. 1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG; im zugesprochenen Betrag sind Umsatzsteuer in Höhe von € 360,- sowie der Ersatz der gemäß §17a VfGG entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 180,- enthalten.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Fremdenrecht, Fremdenpolizei, Ausweisung, Aufenthaltsrecht, Privat-und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2008:B1327.2007

Zuletzt aktualisiert am

18.08.2010
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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