TE Vfgh Erkenntnis 1987/10/13 G90/87, G91/87, G92/87, G93/87, G94/87, G95/87, G96/87, G178/87, V26/8

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.10.1987
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Index

90 Straßenverkehrsrecht, Kraftfahrrecht
90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art11 Abs1 Z4
B-VG Art18 Abs1 / Allg
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsmaßstab
Verordnung des BMöWV vom 30.8.1985 über eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Rheintalautobahn A 14, BGBl 366/1985
StVO 1960 §20
StVO 1960 §20 Abs3

Leitsatz

StVO 1960 idF d. 6. Nov. BGBl. 412/1976; Verordnungsermächtigung für Geschwindigkeitsbeschränkungen "zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen" in §20 Abs3 - Ermächtigung zu Geschwindigkeitsbeschränkungen für alle denkbaren Untersuchungen, die für rechtspolitische Vorhaben im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr von Bedeutung sein können; erst wenn sich nach Heranziehung sämtlicher Interpretationsmethoden nicht beurteilen läßt, wozu das Gesetz die Verwaltungsbehörde ermächtigt, verletzt die Regelung den Art18 B-VG; der Gesetzgeber hat Vorhaben dieser Tragweite entweder selbst zu bestimmen oder doch im Gesetz in ihren wesentlichen Zügen derart zu umschreiben oder auf andere Weise einzugrenzen, daß die Behörde nicht Art und Ausmaß des Versuches zulasten der Teilnehmer am Straßenverkehr frei bestimmen kann; hier kann die Regelung nicht in einer Weise ausgelegt werden, die eine Überprüfung des Verhaltens der Behörde ermöglicht. Verordnungsermächtigung in §20 Abs3 nicht hinreichend bestimmt iSd Art18 B-VG V des BM für öffentliche Wirtschaft und Verkehr vom 30.8.1985, BGBl. 366/1985 (betr. Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Rheintalautobahn A 14); die Verfassungswidrigkeit der tragenden Gesetzesbestimmung hat die Gesetzwidrigkeit der V zur Folge; Feststellung, daß die V gesetzwidrig war

Spruch

I. In §20 Abs3 der Straßenverkehrsordnung 1960, BGBl. Nr. 159, in der Fassung der 6. Nov., BGBl. Nr. 412/1976, wird die Wortfolge "Zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen oder" als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. September 1988 in Kraft.

Frühere Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

II. Die V des Bundesministers für öffentliche Wirtschaft und Verkehr vom 30. August 1985 über eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Rheintalautobahn A 14, BGBl. Nr. 366/1985, war gesetzwidrig.

Der Bundesminister für öffentliche Wirtschaft und Verkehr ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Feststellung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Nach §20 Abs2 der Straßenverkehrsordnung (idF der Nov. BGBl. 402/1975) darf der Lenker eines Fahrzeuges im Ortsgebiet nicht schneller als 50 km/h, auf Autobahnen nicht schneller als 130 km/h fahren. Abs3 bestimmt sodann:

"Zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen oder für Zeiten, während derer eine besondere Verkehrsdichte zu erwarten ist, kann der Bundesminister für Verkehr für alle oder bestimmte Freilandstraßen durch V bestimmen, daß die Lenker aller oder bestimmter Fahrzeugarten zeitweise nicht schneller als mit einer unter Bedachtnahme auf die Verkehrssicherheit oder nach dem Zweck der Maßnahme bestimmten von Abs2 abweichenden Fahrgeschwindigkeit fahren dürfen."

Unter Berufung auf diese Gesetzesstelle erließ der Bundesminister für öffentliche Wirtschaft und Verkehr am 30. August 1985 folgende unter der Nummer 366 in dem am 5. September 1985 herausgegebenen und versendeten 161. Stück des Bundesgesetzblattes kundgemachte V:

"§1. Die Lenker von Kraftfahrzeugen dürfen auf der Rheintalautobahn A 14 nicht schneller als mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h fahren.

§2. Rechtsvorschriften, aufgrund derer für die Lenker von Kraftfahrzeugen eine geringere als die in §1 angeführte Fahrgeschwindigkeit angeordnet wird, bleiben unberührt.

§3. Diese V tritt mit 6. September 1985 in Kraft und mit Ablauf des 5. September 1986 außer Kraft."

1. Beim VfGH sind zu B420/86, 843/86, 926/86, 935/86, 1042/86, 1076/86, 1240/86 und 277/87 Beschwerden gegen Bescheide der Vorarlberger Landesregierung anhängig, in denen Berufungen gegen Strafbescheide von Bezirksverwaltungsbehörden abgewiesen werden, die den Bf. die Überschreitung der Geschwindigkeit von 100 km/h auf der Rheintalautobahn zur Last legen. Aus Anlaß dieser Beschwerden hat der VfGH die Prüfung der Gesetzmäßigkeit der diesen Bescheiden zugrundeliegenden V über die Geschwindigkeitsbeschränkung und die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der dieser V zugrundeliegenden Gesetzesbestimmung, nämlich der Worte "Zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen oder" in §20 Abs3 StVO idF der 6. Nov., BGBl. 412/1976, beschlossen. Er hat vorläufig angenommen, daß er diese Normen bei Beurteilung der anhängigen Beschwerden anzuwenden hätte. Er hatte gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes Bedenken wegen Verletzung des Legalitätsprinzips und des Gleichheitssatzes und diese im Einleitungsbeschluß wie folgt umschrieben:

"Es scheint dem Gesetz nicht entnehmbar zu sein, unter welchen Voraussetzungen der Verordnungsgeber zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen von der Bestimmung des Abs2 abweichende Fahrgeschwindigkeiten festsetzen kann; auch scheinen sich Anhaltspunkte für den Inhalt, die Art und den Zweck der Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen nicht zu ergeben. Vielmehr scheint sowohl die Festlegung des Inhaltes und der Art der durchzuführenden wissenschaftlichen Untersuchungen als auch die Bestimmung der zu ihrer Durchführung erforderlichen, von Abs2 abweichenden Fahrgeschwindigkeiten völlig dem Belieben des Verordnungsgebers überlassen zu sein.

Des weiteren besteht das Bedenken, daß die Regelung des §20 Abs3 StVO, soweit sie sich auf die Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen bezieht, . . . wegen der Möglichkeit der Anordnung der Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen ohne jegliche Beschränkung, somit von Untersuchungen zu beliebigen Zwecken und nicht nur von Untersuchungen, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr notwendig sind, mit dem im Gleichheitsgebot enthaltenen Sachlichkeitsgebot in Widerspruch steht. Dieser Widerspruch scheint durch die Aufhebung der Wortfolge 'Zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen oder' im §20 Abs3 StVO beseitigt werden zu können."

Die Bedenken gegen die Gesetzmäßigkeit der V gehen abgesehen vom Verlust ihrer Deckung durch Aufhebung des Gesetzes oder dessen einschränkender Interpretation - dahin, daß

". . . eine technisch nicht erforderliche Ausdehnung der Geltungsdauer der V etwa auf einen für die Auswertung der Untersuchungsergebnisse notwendigen Zeitraum gesetzlich nicht gedeckt wäre. In die Geltungsdauer der V (vom 6. September 1985 bis 5. September 1986) scheint ein größerer als der für die Auswertung der Untersuchungsergebnisse erforderliche Zeitraum einbezogen worden zu sein; dabei wird zu berücksichtigen sein, daß die Durchführung der - bei verfassungskonformer Auslegung des §20 Abs3 StVO - zulässigen Untersuchungen innerhalb eines wesentlich kürzeren als der Geltungsdauer der V zugrundegelegten Zeitraumes möglich gewesen zu sein scheint."

2. Nach Meinung der Bundesregierung ist die in Prüfung gezogene Gesetzesbestimmung einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich:

"1. Hiefür ist . . . die in Prüfung gezogene Wortfolge in ihrem gesetzlichen Gesamtzusammenhang zu betrachten und auszulegen. Die Straßenverkehrsordnung dient ihrer gesamten Konzeption nach in kompetenzkonformer Weise der rechtlichen Regelung des Straßenverkehrs zur Vorbeugung und Abwehr von mit dem Straßenverkehr zusammenhängenden Nachteilen und Gefahren für im öffentlichen Interesse zu schützende Rechtsgüter. Im besonderen soll einerseits ein funktionsgerechter Straßenverkehr unter Wahrung der Grundsätze der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs gewährleistet werden; andererseits sollen alle vom Straßenverkehr ausgehenden nachteiligen Auswirkungen oder Gefährdungen für das Leben oder die Gesundheit von Menschen oder für Sachen hintangehalten werden.

In einer - dem System und den Grundgedanken der Straßenverkehrsordnung entsprechenden - verfassungskonformen Interpretation der in Prüfung gezogenen Wortfolge ist diese folglich nach Auffassung der Bundesregierung einschränkend so auszulegen, daß nur wissenschaftliche Untersuchungen, die der Vorbeugung oder Abwehr von mit dem Straßenverkehr zusammenhängenden (dh. von diesem ausgehenden oder diesen bedrohenden) Nachteilen und Gefahren einschließlich der Vorbereitung von Maßnahmen zur Wahrung der Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs dienen, als Tatbestandsvoraussetzung für die Erlassung von Verordnungen gemäß §20 Abs3 StVO in Betracht kommen.

2. Besonders wichtig für die Auslegung der in Prüfung gezogenen Wortfolge erscheinen - wie dargelegt - die in der Straßenverkehrsordnung wiederholt angesprochenen Grundsätze der Wahrung der Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs einerseits sowie des Ausschlusses von Gefährdungen, Behinderungen oder Belästigungen von Personen bzw. von Beschädigungen von Sachen andererseits. Diesbezüglich darf beispielsweise auf die in der Gesetzesausgabe 'Die österreichische Straßenverkehrsordnung nach der 13. Nov. mit den wichtigsten Verordnungen, Erlässen und Entscheidungen sowie zahlreichen Anmerkungen', hrsg. v. Grundtner/Hellar/Schachter (April 1986), unter den Stichworten 'Flüssigkeit des Verkehrs' (Seite 440), Gefährdung (Seite 442), 'Leichtigkeit des Verkehrs' (Seite 452) und 'Sicherheit' (Seite 463) zitierten Gesetzesstellen verwiesen werden. Auch auf andere mit dem Straßenverkehr zusammenhängende öffentliche Interessen, wie z.B. auf die Erfordernisse des Straßenbaus, nimmt die Straßenverkehrsordnung Bedacht.

3. Dafür, daß als Tatbestandsvoraussetzung gemäß §20 Abs3 StVO nur mit dem Straßenverkehr zusammenhängende wissenschaftliche Untersuchungen geeignet sind, spricht auch der Bericht des Verkehrsausschusses über die Regierungsvorlage zur

6. StVO-Nov. (294 BlgNR XIV.GP). Dort heißt es zu der gegenständlichen Bestimmung:

'Im Gegensatz zur Regierungsvorlage ist §20 Abs3 nunmehr auf allgemeine Geschwindigkeitsbeschränkungen aus Gründen wissenschaftlicher Untersuchungen oder für Zeiträume mit besonders starkem Verkehr abgestellt. Unter wissenschaftlichen Untersuchungen werden insbesondere solche auf dem Gebiet des Straßenbaues, der Verkehrstechnik und der Verkehrspsychologie zu verstehen sein.'

4. Die Bundesregierung ist somit der Meinung, daß dem Gesetz im systematisch-teleologischen Gesamtzusammenhang der in Prüfung gezogenen Wortfolge im Sinne verfassungskonformer Auslegung entnommen werden kann, daß die Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen nur dann den Tatbestand zur Erlassung von Verordnungen im Sinne des §20 Abs3 StVO erfüllt, wenn diese Untersuchungen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Straßenverkehr im allgemeinen sowie mit der Abwehr von durch den Straßenverkehr bedingten oder diesen betreffenden Gefahren und Nachteilen einschließlich Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs stehen.

5. Unter Beachtung des systematischen Zusammenhanges der in Prüfung gezogenen Wortfolge ist nach Auffassung der Bundesregierung überdies darauf hinzuweisen, daß auch die Wortfolge 'nach dem Zweck der Maßnahme' in §20 Abs3 StVO in der dargelegten Weise - ebenso wie die ausdrückliche Formulierung der Wortfolge 'unter Bedachtnahme auf die Verkehrssicherheit' nur im Lichte des gesamten Regelungskonzepts der Straßenverkehrsordnung zu sehen ist. Diese Wortfolge - die sich gleichermaßen auf beide Verordnungserlassungstatbestände des §20 Abs3 StVO bezieht - betrifft somit entsprechend dem gesamten Regelungszusammenhang gleichfalls nur mit dem Straßenverkehr zusammenhängende Maßnahmen. Doch kann aus der weiten Formulierung dieser Wortfolge - entgegen dem ersten Anschein - nicht auf eine mangelnde Bestimmtheit des Untersuchungsgegenstandes bzw. der Untersuchungszwecke oder gar auf eine 'Beliebigkeit' verwaltungsbehördlichen Vorgehens geschlossen werden."

Für die Beurteilung unter dem Blickwinkel des Sachlichkeitsgebotes des Gleichheitssatzes folgert die Bundesregierung daraus:

"Demnach ist es . . . keineswegs so, daß Untersuchungen zu beliebigen Zwecken den Anlaß für die Erlassung von Verordnungen gemäß §20 Abs3 StVO bilden könnten. Vielmehr muß es sich - wie dargelegt - um wissenschaftliche Untersuchungen handeln, die dazu dienen, Studien hinsichtlich der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Straßenverkehrs, der vom Straßenverkehr ausgehenden Gefährdungen für das Leben und die Gesundheit von Menschen oder für Sachen und andere mit dem Straßenverkehr zusammenhängende Umstände zu erheben und allfällige diesbezügliche Maßnahmen zu prüfen. Insbesondere kann auch die Erforschung des verkehrsgerechten Verhaltens von Verkehrsteilnehmern oder von umweltbelastenden Emissionen durch den Straßenverkehr Gegenstand der in §20 Abs3 StVO angesprochenen wissenschaftlichen Untersuchungen sein.

Es ist somit nach Auffassung der Bundesregierung keineswegs so, daß die von der in Prüfung gezogenen Wortfolge angesprochenen wissenschaftlichen Untersuchungen ohne jegliche Beschränkung zu beliebigen Zwecken zulässig wären. Vielmehr sind sie - wie eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des §20 Abs3 StVO ergibt - nur zulässig, soweit sie im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr notwendig sind."

3. Der Bundesminister für öffentliche Wirtschaft und Verkehr hält - von ähnlichen Erwägungen ausgehend - die V für gesetzmäßig:

"Daß Gegenstand der Untersuchungen typisch unmittelbar mit dem Straßenverkehr im Zusammenhang stehende Belange waren, ergibt sich aus dem vor Auftragvergabe erstellten Anforderungsprofil (Leistungskatalog) und dem Ergebnis der Untersuchungen. Demnach waren Gegenstand der Untersuchungen die Auswirkungen von Tempo 100 auf der Rheintalautobahn auf das Fahrverhalten, die Schadstoffemissionen und die Schallemissionen.

Konkret ergab sich folgende Fragestellung: Wie ändert sich die Geschwindigkeitsverteilung, die Schadstoffemission und die Schallemission auf der A 14 beim Übergang von der generellen bundesweiten Regelung (Tempo 130 km/h) auf eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h? Kann aufgrund der Untersuchung in Vorarlberg die Abgasemissionsänderung auf dem Autobahnnetz durch den generellen Übergang auf 'Tempo 100' festgestellt werden, und wie groß ist diese rechnerisch ermittelte Abgasemission?"

und zwar auch, was ihre Gültigkeitsdauer betrifft:

"Der wissenschaftliche Versuch der Arbeitsgemeinschaft . . . hatte im wesentlichen Verkehrszählungen, Geschwindigkeitsmessungen in Querschnitten, Verfolgungsfahrten und Verkehrsbefragungen, Immissionsmessungen der Schadstoffe CO, NOx, SO2, Ozon und Staub sowie Schallmessungen zum Gegenstand, die alle auf der Autobahn vorzunehmen waren.

Im einzelnen sind folgende Zeiträume für die Erhebungen festzuhalten:

Bereits vor dem Inkrafttreten der V mit 6. September 1985 wurden Vorheruntersuchungen durchgeführt, um eine Vergleichsbasis für die Erhebungen nach dem Inkrafttreten der V zu erhalten.

Die Verkehrserhebungen an der Rheintalautobahn wurden zwischen Juli und November 1985 und im Sommer 1986 durchgeführt. Geschwindigkeitsmessungen wurden zuletzt im Juli 1986 vorgenommen. Bereits vor Inkrafttreten der V und während der gesamten Geltung der V, also auch im August 1986 und darüber hinaus, wurden vom Amt der Vorarlberger Landesregierung Luftqualitätsmessungen durchgeführt, die bei dem Großversuch verwendet worden sind. Überdies sind vom Amt der Vorarlberger Landesregierung auch Untersuchungen im Rahmen der Verkehrssicherheit durchgeführt worden, die für eine Unfallanalyse erforderlich waren. Es wurden an Hand der Unfallberichte Vergleiche zwischen der Anzahl der Unfälle bzw. der Verletzten und Toten und der Art der Unfälle bei Tempo 130 km/h und bei Tempo 100 km/h angestellt, wobei es erforderlich war, jeweils den geschlossenen Zeitraum eines ganzen Jahres mit den verschiedenen jahreszeitlich bedingten Verkehrsverhältnissen bei Tempo 100 einerseits einem entsprechenden Zeitraum anderer Jahre bei Tempo 130 gegenüberzustellen. Für die Unfallanalyse des Amtes der Vorarlberger Landesregierung war somit die gesamte Geltungsdauer der V heranzuziehen, um ein exaktes vergleichbares Ergebnis zu bekommen."

III. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig. Die Bedenken gegen §20 Abs3 StVO idF der 6. Nov. sind begründet.

1. Die Anlaßbeschwerden sind zulässig. Es ist nicht zweifelhaft geworden, daß der VfGH bei ihrer Beurteilung die RheintalautobahnVO und bei Prüfung von deren Gesetzmäßigkeit die in Prüfung gezogene Wortfolge in §20 Abs3 StVO anzuwenden hätte.

2. Der in Prüfung gezogene Teil des §20 Abs3 StVO bestimmt das verwaltungsbehördliche Handeln nicht hinreichend voraus und widerspricht daher dem Gebot des Art18 Abs2 B-VG.

Nach Art18 Abs1 B-VG darf die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden. Bereits im Gesetz müssen die wesentlichen Voraussetzungen und Inhalte des behördlichen Handelns umschrieben sein. Bei Ermittlung des Inhaltes einer gesetzlichen Regelung sind freilich - soweit nötig - alle der Auslegung zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen. Erst wenn auch nach Heranziehung sämtlicher Interpretationsmethoden noch nicht beurteilt werden kann, wozu das Gesetz die Verwaltungsbehörde ermächtigt, verletzt die Regelung die in Art18 B-VG enthaltenen rechtsstaatlichen Erfordernisse (vgl. VfSlg. 8395/1978 und die dort genannte Vorjudikatur).

Im vorliegenden Fall ist mithin zu prüfen, ob die Wortfolge "Zur Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen oder" - allenfalls im Zusammenhang mit anderen Vorschriften - in einer Weise ausgelegt werden kann, die eine Überprüfung des Verhaltens der zuständigen Behörde ermöglicht.

Diese Frage muß der Gerichtshof verneinen.

a) Der Wortlaut des Gesetzes läßt völlig offen, von wem und zu welchem Zweck jene "wissenschaftlichen" - und das heißt hier wohl nur: fachgerecht vorbereiteten - Untersuchungen durchgeführt werden können, welche die vorgesehene Geschwindigkeitsbeschränkung rechtfertigen sollen. In den anderen Fällen umschreibt das Gesetz die Zwecke, zu welchen Verkehrsbeschränkungen erlassen werden dürfen, für jede Maßnahme besonders: sie muß beispielsweise "zum Schutz der Straßenbenützer" oder "zur Verkehrsabwicklung" erforderlich sein (§43 Abs1 lita), kann verfügt werden, wenn und soweit es "die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs" verlangt (§43 Abs1 litb), oder wenn "ein erhebliches wirtschaftliches Interesse von umliegenden Unternehmen" vorliegt (§43 Abs1 litc), dann "zur Fernhaltung von Gefahren oder Belästigungen, insbesondere von Lärm- und Geruchsbelästigungen" (§43 Abs2), "zum Zweck der Erleichterung oder Beschleunigung des Verkehrs, insbesondere des Durchzugsverkehrs" (§43 Abs3), "zur besseren Orientierung der Benützer von Straßen" (§43 Abs5) oder "aus Gründen der Sicherheit des Straßenverkehrs" (§43 Abs11). In auffälligem Gegensatz dazu läßt die in Prüfung gezogene Wortfolge jede Bezugnahme auf irgendwelche Angelegenheiten des Straßenverkehrs vermissen.

Aus dem systematischen Zusammenhang läßt sich diesem Mangel nicht begegnen. §20 StVO beschäftigt sich ganz allgemein mit der Fahrgeschwindigkeit, die der Lenker eines Fahrzeuges nach Abs1 den Umständen anzupassen und in den in Abs2 vorgeschriebenen Grenzen zu halten hat, soweit nicht die in §43 Abs1 oder 4 zugelassenen Vorschriften abweichendes anordnen. Auch innerhalb des Abs3 ist nur noch von der Bedachtnahme "auf die Verkehrssicherheit" und vom "Zweck der Maßnahme" die Rede; da die Verkehrssicherheit aber offenkundig nur Zweck der Geschwindigkeitsbeschränkung während der Zeit besonderer Verkehrsdichte ist, bleibt für die in Prüfung stehende Wortfolge wieder nur der vage Ausdruck "Zweck der Maßnahme", der offenbar auf jeden beliebigen Zweck abstellt und eine Beschränkung auf bestimmte Ziele nach Art der übrigen Vorschriften des Gesetzes ganz bewußt vermeidet. In systematischer Hinsicht stellt die in Prüfung gezogene Wortfolge insgesamt einen Fremdkörper im Gefüge des normativen Umfeldes dar, in welchem sich §20 findet, sodaß es für deren Auslegung keinen Anhaltspunkt bieten kann.

Was die Entstehungsgeschichte betrifft, beschränken sich die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage (23 BlgNR 14. GP, 24), die als ersten von drei möglichen Zwecken einer allgemeinen Geschwindigkeitsbeschränkung (neben dem schon der Stammfassung bekannten Fall der besonderen Verkehrsdichte) noch den der Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des Verkehrs genannt hatte, auf den wenig aufschlußreichen Satz:

"Mit der Verordnungsermächtigung des Abs3 soll eine neue Grundlage für die allenfalls notwendige Erlassung von allgemeinen Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Freilandstraßen geschaffen werden. Im übrigen tritt keine inhaltliche Änderung der geltenden Rechtslage ein."

Der in der Äußerung der Bundesregierung wiedergegebene Bericht des Verkehrsausschusses des Nationalrates nennt zwar Beispiele für wissenschaftliche Untersuchungen, die "insbesondere" in Betracht kommen sollen ("auf dem Gebiet des Straßenbaus, der Verkehrstechnik und der Verkehrspsychologie"), doch läßt sich auch aus diesen Beispielen keine wie immer geartete Begrenzung ableiten. Daß sie nicht abschließend gemeint sind, bedarf keiner weiteren Begründung; als allen drei Fällen gemeinsames Merkmal könnte höchstens der unmittelbare Bezug der Untersuchung zu Fragen in Betracht kommen, die für die Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs von Bedeutung sind, doch verbietet sich eine Einschränkung auf Zwecke dieser Art schon deshalb, weil im Hinblick auf die in der Öffentlichkeit schon lange erörterten - umstrittenen mittelbaren Einflüsse des Verkehrs auf die Umwelt ("Waldsterben") nicht angenommen werden kann, daß der Umweltschutz als Ziel einer solchen Maßnahme außer Betracht bleiben sollte. Es wäre weltfremd zu unterstellen, daß gerade jene Maßnahmen nicht im Blickfeld des Gesetzgebers gelegen sein sollten, die dann als erste unter Berufung auf die in Prüfung stehende Wortfolge in Angriff genommen worden sind.

Der Zweck der novellierten Bestimmung geht also über Untersuchungen zur Vermeidung bestimmter Gefahren für den Straßenverkehr hinaus. Es bliebe danach als Grenze die Selbstverständlichkeit, daß die Untersuchung irgend etwas mit dem Straßenverkehr zu tun haben muß, dieser Verkehr also nicht nur irgend einer (beliebigen) wissenschaftlichen Untersuchung im Weg stehen darf.

b) An diesem Befund können auch allgemeine Überlegungen nichts ändern. So läuft die Meinung der Bundesregierung darauf hinaus, aus dem Gesamtzweck des Gesetzes eine Begrenzung abzuleiten, die sich mit dem Inhalt des Kompetenztatbestandes Straßenverkehr deckt (". . . in kompetenzkonformer Weise", ". . . Regelung des Straßenverkehrs"). In der Tat könnte die Notwendigkeit, Normen im Zweifel verfassungskonform auszulegen, einen solchen Rückgriff auf die zugrundeliegende Kompetenz an sich rechtfertigen. Doch hält der Gerichtshof eine dermaßen weitgehende Ermächtigung zu Eingriffen der in Rede stehenden Art bereits für zu unbestimmt. Die zunehmende Notwendigkeit, Interessen des Verkehrs gegen andere Interessen - insbesondere der Wirtschaft und der Umwelt - abzuwägen, würde nämlich allen Untersuchungen, deren Ergebnisse irgendwelche Auswirkungen auf die Regelung des Straßenverkehrs haben könnten (und eine Geschwindigkeitsbeschränkung nahelegen), Tür und Tor öffnen.

Entscheidend fällt dabei ins Gewicht, daß Vorschriften darüber, in welchem Rahmen und für welche Zwecke nun solche Untersuchungen tatsächlich durchgeführt oder gefördert werden sollen, auch sonst nirgends vorhanden sind, weil Akte dieser Art in das Vorfeld der Gesetzgebung und Vollziehung fallen und hoheitliche Eingriffe für sie typischerweise nicht in Betracht kommen. Sie entziehen sich deshalb der gesetzlichen Vorherbestimmung gewöhnlich ganz. Was und wann zur Gewinnung besserer Einsichten für rechtspolitische Vorhaben untersucht werden soll, ist keiner vom Gesetzgeber erlassenen Norm zu entnehmen. Das Fehlen solcher Normen macht sich aber dann bemerkbar, wenn ausnahmsweise hoheitliche Eingriffe vorgesehen sind. Das ist hier der Fall; es kann sogar zu sehr einschneidenden Maßnahmen mit beträchtlichen Auswirkungen und wie die in Prüfung stehende V zeigt - auch von längerer Dauer kommen.

Die der Verwaltungsbehörde mit der 6. Nov. zur Straßenverkehrsordnung eingeräumte Möglichkeit, Geschwindigkeitsbeschränkungen für alle denkbaren Untersuchungen zu erlassen, die für rechtspolitische Vorhaben im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr von Bedeutung sein können, schließt es aus, das behördliche Handeln auf seine Übereinstimmung mit einer Entscheidung des Gesetzgebers zu überprüfen, und beschränkt die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts - ganz wie bei Akten der Gesetzgebung - auf ein Urteil über die Sachlichkeit der Maßnahme. Der VfGH kommt daher zur Auffassung, daß der Gesetzgeber Vorhaben dieser Tragweite entweder selbst bestimmen oder doch im Gesetz in ihren wesentlichen Zügen derart umschreiben oder auf andere Weise eingrenzen muß, daß die Behörde nicht Art und Ausmaß des Versuches zulasten der Teilnehmer am Straßenverkehr frei bestimmen kann. Die Verantwortung darf nicht in solchem Maße der Verwaltung überlassen bleiben (im gleichen Sinn zB VfSlg. 5175/1965 und 9261/1981 zu Fragen der Haftpflicht-Versicherungsbedingungen).

Die in Prüfung gezogene Wortfolge in §20 Abs3 StVO ist daher schon wegen Verstoßes gegen Art18 B-VG aufzuheben.

IV. Die Verfassungswidrigkeit der tragenden Gesetzesbestimmung hat die Gesetzwidrigkeit der für die Anlaßbeschwerdeverfahren maßgeblichen V zur Folge. Sie entbehrt der erforderlichen gesetzlichen Deckung.

Da sie nicht mehr in Kraft steht, ist nur mehr festzustellen, daß sie gesetzwidrig war.

V. Die Aussprüche über das Inkrafttreten der Aufhebung des Gesetzes und die Kundmachungspflicht des Bundeskanzlers stützen sich auf Abs5, der Ausspruch über die Wirksamkeit früherer gesetzlicher Bestimmungen auf Abs6 des Art140 B-VG, der Ausspruch über die Kundmachungspflicht des Bundesministers für öffentliche Wirtschaft und Verkehr auf Abs5 des Art139 B-VG. Die Fristsetzung erschien zweckmäßig, um nicht laufende (oder doch schon eingeleitete) Vorhaben zu gefährden, die eine verfassungsrechtlich einwandfreie gesetzliche Deckung erhalten könnten.

Schlagworte

Auslegung, Straßenpolizei, Auslegung verfassungskonforme, Rechtspolitik, VfGH / Prüfungsmaßstab

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:G90.1987

Dokumentnummer

JFT_10128987_87G00090_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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