TE Vfgh Erkenntnis 1987/12/10 B246/87

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.12.1987
beobachten
merken

Index

44 Zivildienst;
44/01 Zivildienst

Norm

ZDG §2 Abs1

Leitsatz

Die Beschaffenheit des Bewußtseinsbildungsprozesses, der letztlich zu der Ablehnung von Waffenrecht Gewissensgründen führte, kommt es nicht an, auch nicht darauf, ob die Gewissensentscheidung bei Beachtung der Argumente der "Gegenseite" vielleicht anders ausgefallen wäre; Glaubhaftmachung der schwerwiegenden Gewissensgründe auch ohne starkes "emotionelles Engagement" möglich; unzulängliche Bescheidbegründung; Verletzung im durch §2 Abs1 ZDG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung

Spruch

Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf. zu Handen des Beschwerdevertreters die mit 11.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Mit Bescheid der Zivildienstkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDK), Senat 7, vom 10. Juli 1986, Z142.396/1-ZDK/7/86, wurde der von H C N - unter Bezugnahme auf §2 Abs1 Zivildienstgesetz, BGBl. 187/1974 (nunmehr wiederverlautbart mit BGBl. 679/1986 als Zivildienstgesetz 1986 ZDG, idF BGBl. 336/1987) - gestellte Antrag auf Befreiung von der Wehrpflicht - nach mündlicher Verhandlung - gemäß §2 Abs1 iVm §6 Abs1 leg.cit. abgewiesen.

1.1.2. Der dagegen von H N erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der Zivildienstoberkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDOK), Senat 3, vom 11. Dezember 1986, Z142.396/2-ZDOK/3/86, gleichfalls nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß §66 Abs4 AVG 1950 nicht Folge gegeben.

1.2.1. Gegen diesen Bescheid der ZDOK richtet sich die vorliegende, auf Art144 (Abs1) B-VG gestützte Beschwerde des H N an den VfGH; der Bf. beruft sich darin auf die Verfassungsbestimmung des §2 Abs1 ZDG und begehrt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.

1.2.2. Die ZDOK als bel. Beh. legte die Verwaltungsakten vor und verzichtete auf die Erstattung einer Gegenschrift.

2. Über die - zulässige - Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Die Verfassungsbestimmung des §2 Abs1 ZDG besagt, daß Wehrpflichtige iS des Wehrgesetzes 1978, BGBl. 150, auf ihren Antrag (und zwar nach Maßgabe des §5 Abs1 und 3 ZDG, der das Antragsrecht - in hier allerdings unerheblicher Weise beschränkt) von der Wehrpflicht zu befreien sind, wenn sie es von Fällen der persönlichen Notwehr oder Nothilfe abgesehen - aus schwerwiegenden, glaubhaften Gewissensgründen ablehnen, Waffengewalt gegen andere Menschen anzuwenden und daher bei Leistung des Wehrdienstes in schwere Gewissensnot geraten würden; sie sind zivildienstpflichtig. Der VfGH vertritt in seiner mit VfSlg. 8033/1977 eingeleiteten ständigen Rechtsprechung die Auffassung, daß diese Vorschrift das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung beinhaltet (s. auch VfSlg. 9391/1982, 9785/1983, 9839/1983, 9840/1983, 9842/1983, 9971/1984, 9985/1984, 10021/1984).

2.1.2. Dieses Grundrecht wird nach der ständigen Judikatur des VfGH nicht bloß dadurch verletzt, daß die Behörde die im §2 Abs1 ZDG umschriebenen materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Wehrpflichtbefreiung unrichtig beurteilt; eine solche Verletzung ist - da sich der Schutzumfang des Grundrechtes auf die für den Nachweis der Voraussetzungen maßgebende Vorgangsweise der Glaubhaftmachung (Bescheinigung) miterstreckt - auch dann gegeben, wenn der Behörde wesentliche Verstöße in diesem verfahrensrechtlichen Bereich unterlaufen oder wenn sie dem Antragsteller überhaupt die Möglichkeit nimmt, das Zutreffen der materiellen (Befreiungs-)Bedingungen glaubhaft zu machen (vgl. zB VfSlg. 8787/1980, 9362/1982, 9785/1983, 9946/1984, 9970/1984, 9989/1984, 9990/1984, 10021/1984, 10053/1984, 10056/1984, 10422/1985).

2.2.1. Zunächst läßt schon die von der ZDOK einleitend gewählte Umschreibung der hier rechtserheblich erachteten Einlassung des Wehrdienstpflichtigen (: "Soweit in den Darlegungen des Berufungswerbers die Behauptung schwerwiegender Gewissensgründe iS des Gesetzes (§2 Abs1 ZDG) erblickt werden kann . . ." - S 5 des Berufungsbescheides) nach der Beschaffenheit und Lage dieses Falles überhaupt nicht erkennen, in welchen konkreten Behauptungen denn ein an sich objektiv tauglicher Gewissensgrund erblickt wird, dessen Glaubhaftigkeit im Kommissionsverfahren zu überprüfen und festzustellen ist (vgl. bereits VfGH 13.12.1986 B673/85). In Verbindung damit gewinnt hier besondere Bedeutung, daß die bel. Beh. dem Berufungswerber - in Wiedergabe eines in der Verhandlung entstandenen "Eindrucks" - (nach den konkreten Umständen und Besonderheiten hauptsächlich und schwergewichtig (anders zB in VfSlg. 10666/1985, 10674/1985)) zum Vorwurf macht, er habe sich "mit der einschlägigen Thematik (gemeint: der militärischen Landesverteidigung) bisher nur relativ einseitig - ohne Berücksichtigung der Gegenpositionen wenig realitätsbezogen bzw. unkritisch . . . befaßt". In der Beschwerdeschrift wird dieser Auffassung durchaus zutreffend entgegengehalten, es sei nicht Aufgabe eines Zivildienstwerbers, der Kommission ein komplexes System alternativer Verteidigungsformen aufzuzeigen, das die bewaffnete Landesverteidigung zu ersetzen vermag und jeder Hinterfragung standhält. Die erste Befreiungsvoraussetzung des §2 Abs1 ZDG stellt nach Wortlaut und Sinngehalt in der Tat nur darauf ab, ob der die Wehrdienstbefreiung anstrebende Wehrpflichtige die Anwendung von Waffengewalt (gegen andere) wirklich aus "schwerwiegenden, glaubhaften Gewissensgründen" ablehnt: Entscheidend ist also einzig und allein die Frage, ob die Ablehnung auf derartigen Gründen beruht; auf die Beschaffenheit des - vorausgegangenen - Bewußtseinsbildungsprozesses, der letztlich zu solchen Gewissensgründen führte, kommt es nicht an, so auch nicht darauf, ob die Gewissensentscheidung bei Beachtung der Argumente der "Gegenseite" vielleicht anders ausgefallen wäre (s. VfGH 28.11.1986 B297/86). Daran ändert auch nichts, daß die ZDOK die Gewissensbildung des Bf. ersichtlich wegen der gerügten geringen Befassung mit Problemen der Landesverteidigung als "nicht abgeschlossen" abtut. Denn kraft geltenden Verfassungsrechts hätte sie sich auf die Prüfung der Glaubwürdigkeit der ihrer Meinung nach geltend gemachten, wenngleich im Bescheid selbst unkonkretisiert gelassenen tauglichen Gewissensgründe beschränken müssen, statt verfassungsgesetzlich nicht verlangte spezielle Anforderungen an die Art und Weise des Zustandekommens der behaupteten Gewissenslage zu stellen. Hinzu tritt, daß die ZDOK in der Begründung ihres Bescheides (als die ablehnende Entscheidung deutlich mittragenden Aspekt) - wenngleich eher beweiswürdigend betont, der Berufungswerber habe "ohne spürbare innere Anteilnahme" argumentiert (Seiten 5 und 6), obwohl auch ein Wehrpflichtiger, der seine Anschauungen ohne starkes "emotionelles Engagement" vertritt, die Anwendung von Waffengewalt aus schwerwiegenden Gewissensgründen verweigern kann, wie es §2 Abs1 ZDG erfordert (VfGH 28.11.1986 B523/86).

2.2.2. Insgesamt bietet sich so das Bild eines nicht bloß an materiellen Rechtsfehlern leidenden, sondern auch derart unzulänglich begründeten Bescheides, daß die Mangelhaftigkeit bereits in die Verfassungssphäre übergreift.

2.2.3. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die bel. Beh. den Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung verletzte, sodaß der angefochtene Bescheid aufzuheben war.

Bei diesem Ergebnis erübrigte es sich, auf das Beschwerdevorbringen selbst noch weiter einzugehen.

3.1. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953; vom zugesprochenen Kostenbetrag entfallen 1.000 S auf die Umsatzsteuer.

3.2. Diese Entscheidung konnte der Verfassungsgerichtshof gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne Verhandlung in einer der Norm des §7 Abs2 litd VerfGG 1953 genügenden Zusammensetzung treffen.

Schlagworte

Zivildienst

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:B246.1987

Dokumentnummer

JFT_10128790_87B00246_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten