TE Vfgh Erkenntnis 1986/11/28 B523/86

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Veröffentlicht am 28.11.1986
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Index

44 Zivildienst
44/01 Zivildienst

Norm

ZivildienstG §2 Abs1
ZivildienstG §6 Abs2

Leitsatz

ZDG; für die Glaubwürdigkeit der Gewissensgründe ist es belanglos, ob der Antragsteller zur Introvertiertheit neigt oder seine Haltung zur Anwendung von Waffengewalt in aller Öffentlichkeit zur Schau trägt; Verletzung im durch §2 Abs1 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung

Spruch

Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Mit Bescheid der Zivildienstkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDK), Senat 5, vom 13. Dezember 1984, Z 137.217/1-ZDK/5/84, wurde der von O H - unter Bezugnahme auf §2 Abs1 Zivildienstgesetz, BGBl. 187/1974 (ZDG) - gestellte Antrag auf Befreiung von der Wehrpflicht - nach nichtöffentlicher mündlicher Verhandlung - gemäß §2 Abs1 iVm. §6 Abs1 ZDG abgewiesen.

1.1.2. Der dagegen von O H erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der Zivildienstoberkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDOK), Senat 4, vom 28. Feber 1986, Z 137.217/2-ZDOK/4/86, gleichfalls nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß §66 Abs4 AVG 1950 nicht Folge gegeben.

1.2.1. Gegen diesen Bescheid der ZDOK richtet sich die vorliegende, auf Art144 (Abs1) B-VG gestützte Beschwerde des O H an den VfGH; der Bf. beruft sich darin auf die Verfassungsbestimmung des §2 Abs1 ZDG und begehrt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.

1.2.2. Die ZDOK als bel. Beh. legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, worin der Sache nach für eine Abweisung der Beschwerde eingetreten wurde.

2. Über die - zulässige - Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Die Verfassungsbestimmung des §2 Abs1 ZDG besagt, daß Wehrpflichtige iS des Wehrgesetzes 1978, BGBl. 150, auf ihren Antrag (und zwar nach Maßgabe des §5 Abs1 und 3 ZDG, der das Antragsrecht - in hier allerdings unerheblicher Weise - beschränkt) von der Wehrpflicht zu befreien sind, wenn sie es - von Fällen der persönlichen Notwehr oder Nothilfe abgesehen - aus schwerwiegenden, glaubhaften Gewissensgründen ablehnen, Waffengewalt gegen andere Menschen anzuwenden und daher bei Leistung des Wehrdienstes in schwere Gewissensnot geraten würden; sie sind zivildienstpflichtig. Der VfGH vertritt in seiner mit VfSlg. 8033/1977 eingeleiteten ständigen Rechtsprechung die Auffassung, daß diese Vorschrift das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung beinhaltet (s. auch VfSlg. 9391/1982, 9785/1983, 9839/1983, 9840/1983, 9842/1983, 9971/1984, 9985/1984, 10021/1984).

2.1.2. Dieses Grundrecht wird nach der ständigen Judikatur des VfGH nicht bloß dadurch verletzt, daß die Behörde die im §2 Abs1 ZDG umschriebenen materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Wehrpflichtbefreiung unrichtig beurteilt; eine solche Verletzung ist - da sich der Schutzumfang des Grundrechtes auf die für den Nachweis der Voraussetzungen maßgebende Vorgangsweise der Glaubhaftmachung (Bescheinigung) miterstreckt - auch dann gegeben, wenn der Behörde wesentliche Verstöße in diesem verfahrensrechtlichen Bereich unterlaufen oder wenn sie dem Antragsteller überhaupt die Möglichkeit nimmt, das Zutreffen der materiellen (Befreiungs-)Bedingungen glaubhaft zu machen (vgl. zB VfSlg. 8787/1980, 9362/1982, 9785/1983, 9946/1984, 9970/1984, 9989/1984, 9990/1984, 10021/1984, 10053/1984, 10056/1984), woran sich auch durch die ZDG-Nov. BGBl. 496/1980 nichts änderte (vgl. zB VfSlg. 9549/1982, 9573/1982, 9785/1983, 9839/1983, 9840/1983, 9842/1983, 9985/1984).

2.2.1. In der Begründung des angefochtenen Bescheides heißt es ua.:

"... Soweit im gesamten Vorbringen des Antragstellers die Darlegung schwerwiegender Gewissensgründe iS des Gesetzes erblickt werden kann, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Berufungswerber zum Ausdruck brachte, infolge seiner - allgemeinen und vorbehaltlosen - Ablehnung der Anwendung von Waffengewalt in schwere Gewissensnot zu geraten, wenn er Wehrdienst leisten müsse. ...

Eine Berücksichtigung der Argumentation des Berufungswerbers erschiene nur unter der Voraussetzung vertretbar, daß das behauptete Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit zu einer grundlegenden Weltanschauung mit einem gleichzeitig starken emotionellen Engagement geführt hätte; solches konnte aber aus den Beweisergebnissen nicht ersehen werden. ..."

2.2.2. Es geht nun nicht an, die Lösung der Frage nach der Glaubwürdigkeit der hier behaupteten - nach Meinung der ZDOK an sich tauglichen - Gewissensgründe davon abhängig zu machen, ob diese Gründe zu einer "grundlegenden Weltanschauung" mit gleichzeitigem "starken emotionellen Engagement" führten. Die ZDOK stellt nämlich auf solche Weise eine (zwingende) materiellrechtliche Befreiungsbedingung auf, die im §2 ZDG keine wie immer geartete Stütze findet: Auch wer sich zu keiner "grundlegenden Weltanschauung" bekennt oder eine derartige Anschauung ohne starkes "emotionelles Engagement" vertritt, kann die Anwendung von Waffengewalt gegen andere aus schwerwiegenden Gewissensgründen ablehnen, wie sie §2 Abs1 ZDG verlangt. Doch auch prozeßrechtlich gesehen ist die Rechtsmeinung der ZDOK grob fehlerhaft. Der VfGH brachte nämlich bereits wiederholt zum Ausdruck, daß auch Personen, die keine Neigung besitzen, ihre Auffassungen öffentlichkeitsbezogen zu bekennen, die materiellen Voraussetzungen des §2 Abs1 ZDG erfüllen können (vgl. VfSlg. 9243/1981, 9356/1982 u.a.m.), eine Rechtsmeinung, die auch auf den vorliegenden Rechtsfall zu übertragen ist: Für die Glaubwürdigkeit der Gewissensgründe ist es vollkommen belanglos, ob der Antragsteller zur Introvertiertheit neigt oder seine Haltung zur Anwendung von Waffengewalt in aller Öffentlichkeit emotionalbetont zur Schau trägt.

2.3. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die bel. Beh. den Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung verletzte, sodaß der angefochtene Bescheid aufzuheben war.

Bei diesem Ergebnis erübrigte es sich, auf das Beschwerdevorbringen selbst noch weiter einzugehen.

Schlagworte

Zivildienst

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:B523.1986

Dokumentnummer

JFT_10138872_86B00523_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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