TE Vfgh Erkenntnis 1989/3/16 G218/88

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Veröffentlicht am 16.03.1989
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Index

10 Verfassungsrecht
10/04 Wahlen

Norm

B-VG Art26 Abs1
B-VG Art26 Abs2
B-VG Art26 Abs5
B-VG Art60 Abs1
WählerevidenzG 1973 §2
StV Wien 1955 Art8 Abs1
ÜG 1920 §14 Abs2
NRWO 1971 §26
NRWO 1971 §27

Leitsatz

Beschränkung des Wahlrechtes zum Nationalrat und zu den Bundespräsidentenwahlen auf Staatsbürger mit ordentlichem Wohnsitz im Inland durch den einfachen Gesetzgeber in Widerspruch zu Art26 Abs1 erster Satz B-VG und Art60 Abs1 B-VG; Aufhebung des §2 WählerevidenzG 1973

Spruch

§2 des Wählerevidenzgesetzes 1973, BGBl. Nr. 601/1973, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 16. März 1990 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim Verfassungsgerichtshof ist ein Verfahren zur Prüfung eines Bescheides der Bezirkswahlbehörde Wien-Umgebung vom 26. November 1987 anhängig, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt:

a) Der in den USA ansässige österreichische Staatsbürger Dr. K P H, der nach eigener Angabe im Inland keinen ordentlichen Wohnsitz hat, erhob mit Schriftsatz vom 29. Oktober 1987 bei der Marktgemeinde Gablitz (politischer Bezirk Wien-Umgebung) Einspruch gegen die dortige Wählerevidenz mit dem Antrag, ihn in dieses Verzeichnis als Wahl- und Stimmberechtigter aufzunehmen.

b) Die Gemeindewahlbehörde der Marktgemeinde Gablitz gab diesem Einspruch mit Bescheid vom 5. November 1987 in Handhabung der §§6 und 7 Abs1 und 2 iVm §2 Abs1 und 2 Wählerevidenzgesetz 1973, BGBl. 601/1973 idF der diese Bestimmungen jedoch nicht betreffenden Novelle BGBl. 427/1985, (WählerevidenzG) keine Folge.

Begründend wurde u.a. ausgeführt:

    ". . . Wie der Einspruchswerber selbst angibt, hat er seinen

ordentlichen Wohnsitz in ... Washington ... USA, besitzt in

Österreich keinen Wohnsitz und ist daher in keiner Wählerevidenz eingetragen. Da die Voraussetzungen nach §2 Abs1 WählerevidenzG das Vorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes in der Gemeinde der Antragstellung haben muß (gemeint wohl: verlangen), dies im gegenständlichen Fall nicht gegeben ist, mußte die Gemeindewahlbehörde ohne Prüfung der anderen Kriterien dem Antrag die Zustimmung versagen."

c) Gegen diesen Bescheid ergriff der Einspruchswerber fristgerecht das Rechtsmittel der Berufung, das mit Bescheid der Bezirkswahlbehörde Wien-Umgebung vom 26. November 1987 abgewiesen wurde.

In der Begründung des Berufungsbescheides heißt es u.a.:

". . . Die Aufnahme in die Wählerevidenz setzt gemäß §2 Abs1 WählerevidenzG unter anderem das Vorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes in der Gemeinde voraus. Ein ordentlicher Wohnsitz einer Person ist nach §2 Abs2 WählerevidenzG an dem Ort begründet, an dem sie sich in der erweislichen und aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, ihn bis auf weiteres zum Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen zu wählen. Hiebei ist es unerheblich, ob die Absicht darauf gerichtet war, für immer an diesem Ort zu bleiben.

Das Vorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes wurde von Dr. H im eigenhändig unterfertigten Wähleranlageblatt am 30. Oktober 1987 ausdrücklich verneint.

Die Gemeindewahlbehörde hat daher unter Berücksichtigung der geltenden Rechtslage zu Recht erkannt, daß die Aufnahme in die Wählerevidenz mangels Vorliegens eines ordentlichen Wohnsitzes zu versagen ist . . ."

d) Gegen diesen Bescheid erhob Dr. H eine auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der eine Rechtsverletzung wegen Anwendung verfassungswidriger Gesetzesbestimmungen (des §2 Abs1 WählerevidenzG und des §27 Abs1 Nationalrats-Wahlordnung 1971, im folgenden: NRWO) sowie die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Teilnahme an der Wahl des Bundespräsidenten und an Wahlen zu allgemeinen Vertretungskörpern sowie auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes begehrt wird.

Der Beschwerdeführer vertritt - sinngemäß zusammengefaßt - die Auffassung, daß der einfachgesetzliche Ausschluß der sogenannten Auslandsösterreicher ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland vom Recht der Teilnahme an Wahlen (etwa zum Nationalrat), wie er im §2 Abs1 WählerevidenzG zum Ausdruck kommt, verfassungswidrig sei. In diesem Zusammenhang wird geltend gemacht, daß diese Regelung unsachlich an das Kriterium des "Wohnsitzes" (in Österreich) anknüpfe und alle Auslandsösterreicher schlechter stelle als Österreicher, die im Inland wohnen (was in Widerspruch zu Art6 Abs3 B-VG, Art7 Abs1 B-VG iVm Art2 StGG sowie Art66 und 67 des Staatsvertrags von Saint-Germain, StGBl. 303/1920, stehe), und daß die Ausschließung vom Wahlrecht überhaupt nur Folge einer gerichtlichen Verurteilung oder Verfügung sein dürfe (Art26 Abs5 B-VG). Außerdem sei §2 Abs1 WählerevidenzG mit Art8 des Staatsvertrags von Wien, BGBl. 152/1955, unvereinbar.

2. Bei Behandlung dieser Beschwerde sind beim Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung des §2 des Wählerevidenzgesetzes 1973, BGBl. 601/1973, entstanden. Der Gerichtshof nahm an, daß die Beschwerde zulässig ist und daß er bei ihrer Behandlung §2 WählerevidenzG, auf dessen Abs1 sich der Bescheid ausdrücklich stützt, ob seines untrennbaren Zusammenhanges willen in seiner Gesamtheit anzuwenden haben dürfte. Der Gerichtshof hat daher beschlossen, von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der genannten Bestimmung einzuleiten.

3. Die in Prüfung gezogene Bestimmung steht in folgendem normativen Zusammenhang:

Gemäß §1 Abs1 WählerevidenzG ist in jeder Gemeinde eine ständige Evidenz der Wahl- und Stimmberechtigten zu führen. Diese Wählerevidenz dient u.a. als Grundlage für die vor einer Wahl des Bundespräsidenten oder des Nationalrates anzulegenden Wählerverzeichnisse. §2 leg.cit. lautet:

"(1) In die Wählerevidenz sind alle Männer und Frauen einzutragen, die die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, vor dem 1. Jänner des Jahres der Eintragung das 19. Lebensjahr vollendet haben, vom Wahlrechte zum Nationalrat nicht ausgeschlossen sind und in der Gemeinde ihren ordentlichen Wohnsitz haben.

(2) Der ordentliche Wohnsitz einer Person ist an dem Orte begründet, an dem sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, ihn bis auf weiteres zum Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen zu wählen. Hiebei ist es unerheblich, ob die Absicht darauf gerichtet war, für immer an diesem Orte zu bleiben.

(3) Hat ein Wahl- und Stimmberechtigter in mehreren Gemeinden einen ordentlichen Wohnsitz, so ist er in die Wählerevidenz der Gemeinde einzutragen, in der er am 31. Dezember des Vorjahres tatsächlich gewohnt hat. Nach diesem Umstande bestimmt sich die Eintragung auch dann, wenn jemand, falls eine Gemeinde in Wahlsprengel eingeteilt ist, in mehreren Wahlsprengeln eine Wohnung hat.

(4) Wahl- und Stimmberechtigte, die ihren ordentlichen Wohnsitz in eine andere Gemeinde verlegen, sind, bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen für die Eintragung, in die Wählerevidenz dieser Gemeinde einzutragen. In der Wählerevidenz der Gemeinde, in der sie ihren ordentlichen Wohnsitz aufgegeben haben, sind sie zu streichen. Zu diesem Zwecke hat die Gemeinde, in der die Eintragung in die Wählerevidenz erfolgt, die Gemeinde, in deren Wählerevidenz die Streichung vorzunehmen ist, unter Angabe der früheren Wohnadresse von der neuen Eintragung unverzüglich und nachweislich zu verständigen.

(5) Wahl- und Stimmberechtigte, die zum ordentlichen oder außerordentlichen Präsenzdienst einberufen werden, sind, außer im Falle einer Verlegung ihres ordentlichen Wohnsitzes während der Leistung des Präsenzdienstes, in die Wählerevidenz der Gemeinde einzutragen, in der sie vor dem Zeitpunkt, für den sie einberufen wurden, ihren ordentlichen Wohnsitz hatten. Sind sie in diesem Zeitpunkt schon in einer Wählerevidenz eingetragen, so wird diese Eintragung durch die Einberufung zum Präsenzdienst nicht berührt.

(6) Jeder Wahl- und Stimmberechtigte darf nur einmal in den Wählerevidenzen eingetragen sein."

Die Wählerevidenz bildet gem. §26 NRWO die Grundlage für die Wählerverzeichnisse, die gem. §37 Abs2 und §39 Abs1 NRWO der Wahl zum Nationalrat und nach den genannten Bestimmungen iVm §5 Abs2 Bundespräsidentenwahlgesetz 1971 auch der Wahl des Bundespräsidenten zugrunde zu legen sind.

4. Der Verfassungsgerichtshof ging davon aus, daß durch die in Prüfung gezogene Bestimmung des §2 WählerevidenzG im Effekt das aktive Wahlrecht für die Wahl zum Nationalrat und für die Wahl des Bundespräsidenten u.a. vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes im Bundesgebiet abhängig gemacht wird. Dies dürfte - wie der Gerichtshof in dem dieses Verfahren bestimmenden Einleitungsbeschluß vorläufig annahm - den Bestimmungen der Art26 Abs1 und 60 Abs1 B-VG widersprechen. Im einzelnen führte der Gerichtshof seine Bedenken wie folgt aus:

"Art26 Abs1 B-VG sieht den ordentlichen Wohnsitz als Voraussetzung für das Bestehen des aktiven Wahlrechts nicht ausdrücklich vor. Hingegen wird in Art26 Abs2 B-VG für die Zuteilung der Mandate auf die einzelnen Wahlkreise ausdrücklich auf den ordentlichen Wohnsitz der Bundesbürger verwiesen. Im Gegensatz zur Regelung für das aktive Wahlrecht zum Nationalrat in Art26 Abs1 B-VG ist bei der Normierung des Wahlrechts zum Landtag (Art95 Abs1 B-VG) und in den Gemeinderat (Art117 Abs2 B-VG) die Voraussetzung des Vorhandenseins eines ordentlichen Wohnsitzes im Land bzw. in der Gemeinde ausdrücklich normiert.

Auf Grund dieser Verfassungsrechtslage hält ein Teil der Lehre den Ausschluß der Staatsbürger ohne Wohnsitz im Bundesgebiet vom aktiven Wahlrecht zum Nationalrat, der eine der Folgen der Wohnsitzklausel in §2 WählerevidenzG ist, als mit Art26 Abs1 B-VG nicht für vereinbar, weil einfachgesetzlich eine zusätzliche, nicht in der Verfassung vorgesehene Beschränkung des aktiven Wahlrechts angeordnet wird (vgl. insb. Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts6, Rz 323, sowie Widder,

Die Gesetzgebung, in: Schambeck (Hg), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, 1980, 385f). Hingegen vertreten andere Autoren die Auffassung, daß sich aus dem Zusammenhang zwischen den einzelnen Bestimmungen des Art26 B-VG sowie aus Erwägungen einer historischen Interpretation, die den Zusammenhang zwischen der einfachgesetzlichen Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens des B-VG und der verfassungsgesetzlichen Anordnung beachtet, die Verfassungsmäßigkeit jener gesetzlichen Regelung ergibt, die als eine der Voraussetzungen für das aktive Wahlrecht zum Nationalrat den Wohnsitz im Bundesgebiet normiert (vgl. insb. Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, 1963, 568; M. Nowak, Politische Grundrechte, 1988, 337ff, insb. 340).

Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner früheren Judikatur (vgl. VfSlg. 1362/1930, 1393,1394/1931, 1401/1931) keine Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit jener einfachgesetzlichen Regelungen erwogen, die das aktive Wahlrecht zum Nationalrat vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes im Inland abhängig machen. In seiner Entscheidung VfSlg. 1994/1950, in der freilich der hier im Vordergrund stehende Aspekt des Auslandsösterreicherwahlrechts keine Rolle gespielt hat, hat er einer solchen Regelung ausdrücklich die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit attestiert und - allerdings unter Hinweis auf Art26 Abs2 B-VG - gemeint, der ordentliche Wohnsitz bilde 'nach den im B-VG enthaltenen Grundsätzen' eine der Voraussetzungen für das aktive Wahlrecht.

Der Gerichtshof sieht sich unter dem Gesichtspunkt des vorliegenden Beschwerdefalles allerdings veranlaßt, die damit aufgeworfene Frage neuerlich zu prüfen, und hegt aus folgenden Erwägungen Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Bestimmung:

a) In historischer Sicht ist festzuhalten, daß bei Abgrenzung des Kreises der aktiv Wahlberechtigten Wohnsitzklauseln in Verbindung mit Seßhaftigkeitsklauseln zunächst als 'Instrument zum Ausschluß unterprivilegierter Klassen benützt' wurden (Nowak, 338); entsprechende Klauseln waren ausdrücklich in den Verfassungstexten enthalten (Nowak, 338f). Erst die Wahlordnung zur konstituierenden Nationalversammlung 1918 eliminierte das Erfordernis der Seßhaftigkeit, behielt aber die Wahlrechtsvoraussetzung des Wohnsitzes bei (Nowak, 339).

Angesichts der Tatsache, daß die Frage, ob das Wahlrecht von Seßhaftigkeitsklauseln und Wohnsitzklauseln abhängig gemacht werden sollte, zum Zeitpunkt der Entstehung des B-VG aktuell diskutiert wurde, dürfte es von Bedeutung sein, daß das B-VG zwar in den Art95 Abs1 und 117 Abs2 das aktive Wahlrecht für die Wahlen zum Landtag und in den Gemeinderat vom Vorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes abhängig macht, nicht aber in Art26 Abs1 B-VG das Vorhandensein eines Wohnsitzes im Bundesgebiet als Wahlrechtsvoraussetzung nennt. So führen auch Kelsen-Froehlich-Merkl (Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, 1922, 94) aus, mit der Bestimmung, daß die Wahl des Nationalrates durch das Bundesvolk erfolgt, sei die Bundesbürgerschaft zur Bedingung des aktiven Wahlrechts gemacht, da unter Bundesvolk "die Gesamtheit der Bundesbürger" zu verstehen sei.

Die Tatsache, daß die Wohnsitzklauseln politisch umstritten waren, und die weitere Tatsache, daß in anderen Wahlrechtsbestimmungen des B-VG Wohnsitzklauseln aufgenommen wurden, scheint es zweifelhaft zu machen, anzunehmen, daß der Verfassungsgesetzgeber das Vorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes im Bundesgebiet als selbstverständliche Wahlrechtsvoraussetzung quasi vorausgesetzt und anerkannt hat. Dem Verfassungsgerichtshof scheinen die angeführten Argumente eher ein Indiz dafür zu sein, daß der Verfassungsgesetzgeber das Nationalratswahlrecht nicht vom Vorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes im Bundesgebiet abhängig machen wollte. Er stimmt daher insofern den auch in der Literatur von Walter-Mayer und Widder in den zitierten Arbeiten vorgebrachten Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der das aktive Wahlrecht zum Nationalrat auf Bundesbürger mit ordentlichem Wohnsitz im Inland einschränkenden einfachgesetzlichen Regelungen vorläufig zu, zumal die dadurch bewirkte Reduzierung des als 'Bundesvolk' zur Nationalratswahl berufenen Personenkreises gewichtig sein dürfte.

Gleiche Erwägungen scheinen - da Art60 Abs1 B-VG analog dem Art26 Abs1 B-VG anordnet, daß der Bundespräsident vom Bundesvolk gewählt wird, und damit das Wahlrecht zur Bundespräsidentenwahl ebenfalls nicht an die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes im Bundesgebiet knüpft - auch hinsichtlich des aktiven Wahlrechts zum Bundespräsidenten anzustellen zu sein.

b) Eine Bedachtnahme auf Art66 Abs1 Staatsvertrag von Saint-Germain, StGBl. 303/1920, (diese Bestimmung steht gem. Art149 B-VG im Rang von Bundesverfassungsrecht) unterstreicht diese Bedenken. Denn diese Bestimmung normiert u.a., daß alle österreichischen Staatsangehörigen dieselben politischen Rechte genießen sollen. Damit dürften - wie der Gerichtshof vorläufig annimmt - nicht nur die in Österreich wohnhaften Staatsbürger normativ betroffen sein, sondern tatsächlich alle Staatsbürger; dies scheint sich schon daraus zu ergeben, daß die benachbarten Regelungen des Staatsvertrags von Saint-Germain (Art64 und 65) von der Staatsangehörigkeit handeln und daß Art63 dieses Staatsvertrags bestimmte Rechte allen "Einwohnern Österreichs" einräumt, der Staatsvertrag von Saint-Germain also sehr wohl zwischen 'Einwohnern' und 'Staatsbürgern' unterscheidet.

In diesem Sinne normiert auch Art8 Staatsvertrag von Wien, BGBl. 152/1955, (gem. ArtII Z3 des BVG BGBl. 59/1964 im Rang von Bundesverfassungsrecht), daß Österreich 'allen Staatsbürgern ein freies, gleiches und allgemeines Wahlrecht' verbürgt.

c) Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner oben zitierten früheren Judikatur angenommen, daß die Durchführung eines geordneten Wahlverfahrens eine genaue Wählerevidenz der in den einzelnen Wahlkreisen wahlberechtigten Wähler voraussetzt, und hat angenommen, daß als Anknüpfungspunkt für die Führung der Wählerevidenz der ordentliche Wohnsitz in Betracht komme. Er hat damit die einfachgesetzliche Regelung, die das aktive Wahlrecht auch vom Vorliegen eines ordentlichen Wohnsitzes in einer Gemeinde abhängig macht, als aus wahltechnischen Gründen gerechtfertigt akzeptiert.

Die Prämisse für diese Aussage, daß nur ein Anknüpfen an den Begriff des ordentlichen Wohnsitzes eine ordnungsgemäße Wählerevidenz sicherstelle und die sachgerechte Zuordnung der Wähler zu den einzelnen Wahlkreisen ermögliche, wurde in der älteren Judikatur nicht in Frage gestellt. Der Verfassungsgerichtshof hegt jedoch - insbesondere angesichts einer rechtsvergleichenden Untersuchung des European Committee on Legal Cooperation (Europaratsdokument vom 6. 1. 1984, CDCJ (83) 64) über das Wahlrecht von Staatsbürgern eines Mitgliedstaates mit ausländischem Wohnsitz - Zweifel, ob diese Prämisse tatsächlich zutrifft. Es scheint nämlich der rechtsvergleichende Blick in andere Rechtsordnungen zu zeigen, daß es Wege gibt, ein ordnungsgemäßes Wahlverfahren einzurichten, ohne daß die Staatsbürger ohne Wohnsitz im Inland vom Wahlrecht ausgeschlossen werden, und zwar - wie verschiedene ausländische Beispiele zeigen - auch dann, wenn das Wahlrecht auf dem Prinzip der Stimmabgabe und Mandatszuteilung in Wahlkreisen aufgebaut ist. Auch ist auf die - freilich in anderem Zusammenhang verwendete - Technik hinzuweisen, mit deren Hilfe in den §§67-69 JN ein Gerichtsstand für Personen ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland begründet wird. Weiters scheint es die Verfassungsrechtslage nicht zu verbieten, sowohl für Zwecke der Zuordnung von Staatsbürgern als auch für die Zuordnung abgegebener Stimmen zu Wahlkreisen bei entsprechend gewähltem sachlichen Anknüpfungspunkt einfachgesetzlich das Vorliegen eines Wohnsitzes zu fingieren.

Sollten sich diese vorläufigen Annahmen des Verfassungsgerichtshofes als zutreffend herausstellen, so dürfte damit der von ihm in seiner älteren Judikatur angenommene (einzige) Rechtfertigungsgrund für den - in Art26 Abs1 B-VG nicht ausdrücklich vorgesehenen - Ausschluß von Staatsbürgern ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland vom aktiven Wahlrecht zum Nationalrat wegfallen. Sollte sich im Gesetzesprüfungsverfahren ergeben, daß nicht für alle österreichischen Staatsbürger ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland ein sachlicher Anknüpfungspunkt (wie zB der letzte ordentliche Wohnsitz, der bloße Aufenthalt, der Wohnsitz des Dienstgebers, die Beteiligung an der letzten Volkszählung o.ä.) für einen für Zwecke der Nationalratswahl fingierten Wohnsitz in einem Wahlkreis gefunden werden kann (etwa indem eine Harmonisierung zwischen der Zahl der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis und der für die Ermittlung der Mandatszahl in einem Wahlkreis heranzuziehenden Bürgerzahl nicht gelingt), so hätte der Gerichtshof - eventualiter - folgendes Bedenken: Es scheint, daß diesfalls der durch die in Prüfung gezogene Regelung bewirkte umfassende Ausschluß der Staatsbürger ohne inländischen Wohnsitz einen um vieles zu großen Personenkreis vom Wahlrecht, das im Prinzip als allgemeines Wahlrecht des gesamten Bundesvolkes vorgesehen ist, ausschließt, nämlich auch solche Personen, für die eine sachgerechte Zuordnung zu einem Wahlkreis an sich in Betracht käme.

Für den Ausschluß der Staatsbürger ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland vom Wahlrecht bei der Bundespräsidentenwahl scheint - da hier eine Zuordnung zu einzelnen Wahlkreisen überhaupt nicht in Betracht kommt - der genannte Rechtfertigungsgrund überhaupt nicht durchzuschlagen."

5. Die Bundesregierung hat von der Erstattung einer Äußerung im Gesetzesprüfungsverfahren Abstand genommen.

6. Im Hinblick auf die besondere Wichtigkeit der im Prüfungsbeschluß aufgeworfenen Fragen und die bei den Organwaltern der Länder vorhandene Erfahrung bei der Handhabung der Wahlrechtsvorschriften hat der Verfassungsgerichtshof den Landesregierungen freigestellt, Äußerungen zum Gegenstand zu erstatten. Von dieser Möglichkeit haben die Burgenländische Landesregierung, die Kärntner Landesregierung, die Niederösterreichische Landesregierung, die Oberösterreichische

Landesregierung, die Salzburger Landesregierung, die Tiroler

Landesregierung, die Vorarlberger Landesregierung und die Wiener Landesregierung Gebrauch gemacht.

Während die Niederösterreichische, die Oberösterreichische, die Salzburger, die Tiroler und die Vorarlberger Landesregierung die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes im Ergebnis teilen, treten die Burgenländische, die Kärntner und die Wiener Landesregierung diesen Bedenken entgegen und halten die in Prüfung gezogene Bestimmung für verfassungsgemäß.

a) Die Burgenländische Landesregierung bezweifelt das Vorliegen der Prozeßvoraussetzungen für das vom Verfassungsgerichtshof eingeleitete Prüfungsverfahren und meint:

"Erst durch die Aufnahme in die Wählerverzeichnisse, die für jede Wahl neu aufzustellen sind (vgl. z.B. §§26 ff der Nationalratswahlordnung 1971, BGBl. Nr. 391/1970 i.d.g.F.) und nach einem allenfalls durchzuführenden Einspruchsverfahren wird das Wahlrecht des einzelnen Staatsbürgers betroffen. Zur Teilnahme an der Nationalratswahl sind nämlich nach §39 NRWO 1971 nur jene Wahlberechtigten berechtigt, deren Namen im abgeschlossenen Wählerverzeichnis enthalten sind, während alle übrigen grundsätzlich Wahlberechtigten von einer Teilnahme an der jeweiligen Wahl ausgeschlossen sind.

Sollte es zutreffen, daß Art26 B-VG eine Einschränkung des Wahlrechtes auf jene Staatsbürger, die ihren ordentlichen Wohnsitz im Bundesgebiet haben, nicht vorsieht, so könnten nach ha. Ansicht nicht der §2 des Wählerevidenzgesetzes, sondern die entsprechenden Bestimmungen der einzelnen Wahlordnungen (z.B. §39 NRWO 1971) verfassungswidrig sein. Eine allfällige Verfassungswidrigkeit dieser Regelungen könnte jedoch nur aus Anlaß einer Wahl angefochten werden, weil erst nach Durchführung des Einspruchsverfahrens feststeht, ob eine Aufnahme in das Wählerverzeichnis und damit das Recht zur Teilnahme an der Wahl verweigert wird."

In der Sache führt die Burgenländische Landesregierung insbesondere aus:

"Es stellt sich jedoch die Frage, ob es für den Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1920 auf Grund der seinerzeit bestehenden Rechtslage nicht unzweifelhaft war, daß der ordentliche Wohnsitz im Bundesgebiet eine der Voraussetzungen für das Wahlrecht bildete und er aus diesem Grund von einer ausdrücklichen Normierung im B-VG abgesehen hat.

Wie bereits der Verfassungsgerichtshof ausführt, ist der Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1920 bestrebt gewesen, die Wohnsitzklausel in Verbindung mit der Seßhaftigkeitsklausel abzuschaffen, weil diese als 'Instrument zum Ausschluß unterprivilegierter Klassen benutzt' wurde. Die Wahlordnung zur konstituierenden Nationalversammlung, StGBl. Nr. 115/1918, hat diesem Grundsatz jedoch nur hinsichtlich der Seßhaftigkeit Rechnung getragen und das aktive Wahlrecht weiterhin an die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes geknüpft.

Nach §17 leg.cit. konnte nämlich nur wählen, wer von der Ortswahlbehörde in das Wählerverzeichnis aufgenommen wurde, wobei die Straßen und Hausnummern zu berücksichtigen waren.

Des weiteren ergibt sich aus den §§2 und 4 leg.cit. und dem Anhang zur Vollzugsanweisung des Deutschösterreichischen Staatsrates vom 21. Dezember 1918, betreffend die Verzeichnung der Wahlberechtigten zur Wahl der konstituierenden Nationalversammlung, StGBl. Nr. 128/1918, daß ein Wohnsitz im Staatsgebiet Voraussetzung für die Wahlberechtigung war (vgl. auch 62 der Beilagen der provisorischen Nationalversammlung, S. 23).

Bemerkenswert ist auch, daß mit §1 des Gesetzes vom 9. Jänner 1919, StGBl. Nr. 15/1919, §11 der Wahlordnung insofern ergänzt wurde, als auch deutschen Reichsangehörigen das Wahlrecht zugestanden wurde, wenn sie am Tag der Wahlausschreibung ihren ordentlichen Wohnsitz in einer Gemeinde Deutschösterreichs hatten (vgl. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, S. 109 f, und Merkl, Die Verfassung der Republik Deutschösterreich, 1919, S. 176, FN 2). Daraus ist ebenfalls erkennbar, daß der ordentliche Wohnsitz im Bundesgebiet für die Frage der Begründung des Wahlrechts stets von Bedeutung war.

Auch das Gesetz über die Wahlordnung zur Nationalversammlung vom 20. Juli 1920, StGBl. Nr. 316/1920, hat hinsichtlich des ordentlichen Wohnsitzes keine neue Rechtslage geschaffen, sondern die Regelungen des StGBl. Nr. 115/1918 übernommen.

Der Bundesverfassungsgesetzgeber des Jahres 1920 hat also bei der Normierung des Art26 B-VG die einfachgesetzlichen Bestimmungen der Wahlordnung zur konstituierenden Nationalversammlung aus dem Jahr 1918 vorgefunden und sich an dieser orientiert.

Diese Wahlordnung ist auch gemäß §20 Abs2 des Übergangsgesetzes 1920 für die Wahl des ersten Nationalrates in Kraft gestanden.

Die Frage, ob das Wahlrecht von Seßhaftigkeits- und Wohnsitzklauseln abhängig gemacht werden sollte, war zwar zum Zeitpunkt der Erlassung der Wahlordnung zur konstituierenden Nationalversammlung Gegenstand grundsätzlicher Diskussionen. Zum Zeitpunkt der Erlassung des B-VG im Jahre 1920 dürfte diese Diskussion jedoch bereits beendet gewesen sein, weil in den Materialien keine Beiträge in diese Richtung aufscheinen.

Nach ho. Ansicht ist der historische Verfassungsgesetzgeber davon ausgegangen, daß die Bindung des Wahlrechtes an den ordentlichen Wohnsitz nicht mehr in der Bundesverfassung selbst festgelegt werden muß und hat diese Bindung auf Grund der einfachgesetzlichen Situation als mitgedacht vorausgesetzt."

Als Indiz dafür qualifiziert die Burgenländische Landesregierung auch das sog. Homogenitätsprinzip des Art95 B-VG, die Diskussion über die Wahlpflicht sowie die Tatsache, daß auch spätere Akte der Wahlrechtsgesetzgebung die Bindung des Wahlrechts an den ordentlichen Wohnsitz nicht in Frage gestellt hätten.

Weiters heißt es in der Stellungnahme der Burgenländischen Landesregierung:

"Zum Staatsvertrag von St. Germain

Hinsichtlich der Bestimmungen des Staatsvertrages von St. Germain ist zunächst zu bemerken, daß dessen V. Abschnitt des III. Teils gem. Art149 B-VG nur insofern als Verfassungsgesetz übergeleitet wurde, als er der durch das B-VG selbst bedingten Änderung entspricht.

Aus diesem Grund vermag der Art66 des Staatsvertrages, auch wenn er über den Art26 B-VG hinausginge, den Art26 B-VG nicht abzuändern.

Darüberhinaus ist auch zu bemerken, daß dem V. Abschnitt des Staatsvertrages die Überschrift 'Schutz der Minderheiten' vorangestellt ist und auch Art66 Abs1 allen österreichischen Staatsbürgern ohne Unterschied der Rasse, der Sprache oder der Religion die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte garantiert.

Diese Bestimmung ist also primär auf den Minderheitenschutz gerichtet und nicht als eine das allgemeine Wahlrecht garantierende Verfassungsnorm zu verstehen. Ansonsten wäre es auch unverständlich, warum Art66 kein Frauenwahlrecht garantiert.

Auch der Art8 des Staatsvertrages von Wien, BGBl. Nr. 152/1955, kann nach ha. Ansicht nicht für eine Interpretation des Art26 B-VG herangezogen werden, weil - wie die Materialien zeigen - anläßlich der Genehmigung des Staatsvertrages davon ausgegangen wurde, daß das bereits im B-VG normierte allgemeine, gleiche und freie Wahlrecht auch international garantiert werden sollte.

Zum Verhältnis des Art26 Abs1 zu Art95 Abs1 und 117 Abs2 B-VG

. . .

Nach ho. Ansicht kann aus der Tatsache, daß in den Art95 Abs1 und 117 Abs2 B-VG der ordentliche Wohnsitz als Voraussetzung für das aktive Wahlrecht normiert ist, nicht der Umkehrschluß gezogen werden, daß nach Art26 B-VG kein Bezug zum ordentlichen Wohnsitz hergestellt werden darf.

Diese beiden Regelungen sind vielmehr, wie die nachfolgende Untersuchung und die Materialien zeigen, eine spezielle Regelung für den Bereich der Landtags- und Gemeinderatswahlen. Bereits in den Verhandlungen des Unterausschusses des Verfassungsausschusses wurde das Problem angeschnitten, ob nicht als eine der Voraussetzungen für das Landtagswahlrecht der Wohnsitz im jeweiligen Land normiert werden sollte. Der Vorsitzende des Ausschusses, Dr. Bauer, hat darauf erwidert, daß dies nicht nötig sei, weil ja 'die Bedingungen des Wahlrechtes nicht enger gezogen werden dürfen als zum Nationalrat' (Walter, Die Entstehung des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 in der Konstituierenden Nationalversammlung, 1984, S. 197). Es ist daraus erkennbar, daß der Verfassungsgesetzgeber auf Grund der zum Zeitpunkt der Erlassung des B-VG bestehenden einfachgesetzlichen Rechtslage für Nationalratswahlen die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes im Bundesgebiet mitgedacht hat.

Es war daher in Abgrenzung zu diesem allgemeinen Verständnis erforderlich, für Landtagswahlen und Gemeinderatswahlen einen speziellen Wohnsitz, nämlich im jeweiligen Land oder Gemeindegebiet, zu normieren. Ansonsten wären nämlich nach dem Verständnis des Verfassungsgesetzgebers sämtliche Staatsbürger, die im Bundesgebiet ihren ordentlichen Wohnsitz haben, zu jeder Landtagswahl und Gemeinderatswahl wahlberechtigt.

Die Aufnahme des ordentlichen Wohnsitzes als Voraussetzung für das Landtags- und Gemeinderatswahlrecht in den Art95 und 117 B-VG ist deshalb kein Argument dafür, daß Art26 B-VG nicht an den ordentlichen Wohnsitz anknüpft.

Im Gegenteil, diese spezielle Regelung spricht vielmehr dafür, daß der Bundesverfassungsgesetzgeber im Jahr 1920 als eine der Voraussetzungen für das Nationalratswahlrecht den ordentlichen Wohnsitz im Bundesgebiet - ohne dies ausdrücklich zu normieren, weil auf Grund der einfachgesetzlichen Lage zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich - mitgedacht hat. Für die Landtags- und Gemeinderatswahlen war es erforderlich, diese Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes zu konkretisieren und näher zu umschreiben, weshalb hier eine ausdrückliche Regelung zu erfolgen hatte.

Zum Verhältnis der einzelnen Bestimmungen des Art26 B-VG

Auch aus der Zusammenschau der einzelnen Bestimmungen des Art26 selbst ergibt sich, daß die Bundesverfassung als eine der Voraussetzungen des Wahlrechtes den ordentlichen Wohnsitz zwar nicht ausdrücklich normiert, aber doch voraussetzt.

So wird im zweiten Satz des Absatzes 1 die Landesgesetzgebung ermächtigt, für die Nationalratswahl die Wahlpflicht anzuordnen. Bei einer Nichtberücksichtigung des ordentlichen Wohnsitzes im einem Land wäre eine Sanktionsmöglichkeit gegenüber dem Wahlpflichtigen, der die Wahl nicht ausübt, von vornherein ausgeschlossen. Es kann dem Verfassungsgesetzgeber jedoch nicht unterstellt werden, daß er von vornherein auf die Durchsetzbarkeit der Wahlpflicht bei einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Wahlpflichtigen verzichten wollte. Bemerkenswert ist auch die Bestimmung des Art26 Abs7, durch die auch verfassungsgesetzlich die Anlegung von Wählerverzeichnissen normiert wird. Daß der Verfassungsgesetzgeber 1929 von anderen Voraussetzungen für die Eintragung in das Wählerverzeichnis ausgegangen wäre, als den bereits in der Wahlordnung zum Nationalrat vorgelegenen, kann nicht angenommen werden, weil dies sicherlich in den Materialien ihren Niederschlag gefunden hätte.

Zur Anknüpfung an andere Kriterien als die des ordentlichen Wohnsitzes

Der Verfassungsgerichtshof vermeint nunmehr entgegen der bisherigen Judikatur, daß nicht unbedingt ein Anknüpfen an den Begriff des ordentlichen Wohnsitzes die Führung einer ordnungsgemäßen Wählerevidenz sicherstellt, sondern, daß - wie dies in anderen Ländern der Fall ist - auch andere Wege beschritten werden können, um eine ordnungsgemäße Wählerevidenz zu führen.

Als sachliche Anknüpfungspunkte werden dabei der letzte ordentliche Wohnsitz, der Aufenthalt, der Wohnsitz des Dienstgebers usw. beispielsweise angeführt.

Bei einem Abgehen vom ordentlichen Wohnsitz als Voraussetzung für die Aufnahme in die Wählerevidenz wird jedoch zu bedenken gegeben, daß für andere Anknüpfungspunkte in der Bundesverfassung keinerlei Grundlage gefunden werden kann. Für die Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes sprechen zumindest die historische Auslegung und andere oben dargelegte Gesichtspunkte. Für eine Anknüpfung an andere Kriterien, die beispielsweise aufgezählt sind, kann keine verfassungsrechtliche Deckung gefunden werden, sodaß zu befürchten ist, daß jede andere Konstruktion verfassungsrechtlich bedenklicher ist als die derzeitige Anknüpfung.

Darüberhinaus wird bei einem Abgehen von der Voraussetzung des ordentlichen Wohnsitzes ein Spannungsverhältnis zu Art26 Abs2 und dem der Bundesverfassung innewohnenden Gleichheitsgebot entstehen.

Nach Art26 Abs2 ist nämlich die Zahl der Abgeordneten auf die einzelnen Wahlkreise im Verhältnis der Bürgerzahl der Wahlkreise, das ist der Zahl der Bundesbürger, zu verteilen, die nach dem Ergebnis der letzten Volkszählung in den Wahlkreisen ihren ordentlichen Wohnsitz hatten.

Bei einer Zuweisung der Staatsbürger, die keinen Wohnsitz im Bundesgebiet haben, an einen Wahlkreis würde das der Bundesverfassung innewohnende Repräsentationsprinzip verzerrt.

Dies deshalb, weil den Wahlberechtigten eines Wahlkreises auch Staatsbürger angehören, die ihren ordentlichen Wohnsitz nicht innerhalb des Wahlkreises haben. Damit stünde aber die Anzahl der im Wahlkreis zu wählenden Abgeordneten nicht mehr in dem von der Bundesverfassung vorgegebenen Verhältnis zu den Wahlberechtigten."

b) Die Kärntner Landesregierung vertritt in einer zunächst abgegebenen Äußerung die Ansicht, die Wählerevidenz stelle "nur bedingt eine Grundlage für die bei Nationalratswahlen anzuwendenden Wählerverzeichnisse dar" und meint dazu:

"Sie ist eigentlich nur eine im Rahmen der Einspruchs- und Berufungsverfahren noch in jeder Hinsicht Änderungen unterliegende Arbeitsgrundlage für die mit der Erstellung der Wählerverzeichnisse betrauten Gemeinden. . . .

Sollten die im Unterbrechungsbeschluß in der Sache vorgebrachten Bedenken bezüglich des Ausschlusses von österreichischen Staatsbürgern ohne ordentlichen Wohnsitz im Inland auf Grund der Terminologie des Art26 Abs1 B-VG letztlich tatsächlich zutreffen, so können sich diese Bedenken nur gegen §27 der Nationalratswahlordnung richten, die die Eintragung in das Wählerverzeichnis für Nationalratswahlen vom ordentlichen Wohnsitz in einer Gemeinde im Inland zum Zeitpunkt des Stichtages abhängig macht, nicht jedoch gegen §2 des Wählerevidenzgesetzes."

In der Sache wird ausgeführt:

"Im Unterbrechungsbeschluß wird im wesentlichen die Meinung vertreten, daß der Verfassungsgesetzgeber bewußt für die Umschreibung der bei Nationalratswahlen und bei Bundespräsidentenwahlen wahlberechtigten Personen den Begriff 'Bundesvolk' gewählt habe und mit dieser Terminologie absichtlich eine von den Regelungen für die Landtags- und Gemeinderatswahlen abweichende Rechtslage schaffen wollte, die das Wahlrecht nicht vom ordentlichen Wohnsitz im Bundesgebiet abhängig macht. Der Wortlaut der Bestimmungen scheint auf den ersten Blick diese Rechtsmeinung zu bestätigen, wenn auch festzuhalten ist, daß die dabei zur Anwendung gelangende Interpretationsmethode eher der problematischen Form einer 'e-contrario-Argumentation' zuzuordnen ist. Es muß dabei wirklich auch die Frage gestellt werden, mit welcher Begründung das Wahlrecht zu den Landtagen oder zum Gemeinderat vom ordentlichen Wohnsitz im Wahlgebiet abhängig gemacht werden soll und gleichzeitig eine solche Anforderung für das Wahlrecht zum Nationalrat und bei den Bundespräsidentenwahlen nicht verlangt werden sollte. Nur dann, wenn der Verfassungsgesetzgeber das Wahlrecht bei Nationalratswahlen und Bundespräsidentenwahlen ausdrücklich jedem österreichischen Staatsbürger (Bundesbürger) zuerkennen würde, müßte davon ausgegangen werden, daß vom Verfassungsgesetzgeber bewußt eine so weitreichende Abgrenzung des Wahlberechtigtenkreises vorgesehen wurde. Der Umstand jedoch, daß der Verfassungsgesetzgeber das Wahlrecht bei Nationalrats- und Bundespräsidentenwahlen nicht von der Staatsbürgerschaft (Bundesbürgerschaft) abhängig macht, sondern dies dem 'Bundesvolk' vorbehält, läßt mit einigem Recht die durch mehr als einem halben Jahrhundert als weitestgehend unbestrittene Annahme gerechtfertigt erscheinen, daß der Verfassungsgesetzgeber dabei ausschließlich die im Bundesgebiet ansässigen Staatsbürger (Bundesbürger) mit dem Wahlrecht ausstatten wollte.

Auf die aus der gegenteiligen Auffassung resultierenden Probleme für die einfachgesetzliche Regelung der Zuordnung von Stimmen, die sich im Bundesgebiet örtlich nicht zuordnen lassen, wird wohl auch im Unterbrechungsbeschluß hingewiesen. Wenn dabei auch die Problematik für die Interpretation des Verfassungsinhaltes als nicht entscheidend qualifiziert wird und diese Probleme überdies als lösbar erachtet werden, so darf dabei trotzdem nicht übersehen werden, daß die dabei in Betracht kommenden Gesichtspunkte für die Anknüpfung (§§67 - 69 JN, fingierter Wohnsitz) den mit dem Wahlrecht als wesentlichen Inhalt demokratischer Willensbildung verfolgten Zweck nicht mehr gerecht zu werden vermögen.

Bei der gegenständlichen Problematik nicht außer Acht gelassen werden darf aber auch der Umstand, daß mit dem Wahlrecht, wie es die österreichische Bundesverfassung vorsieht, nicht nur staatsbürgerliche Rechte, sondern auch staatsbürgerliche Pflichten verbunden sind. So ist für mehrere Bundesländer auch für die Wahlen zum Nationalrat oder für Bundespräsidentenwahlen landesgesetzlich die Wahlpflicht verankert. Diese staatsbürgerliche Verpflichtung ist auch verfassungsrechtlich vorgezeichnet. Für Wahlberechtigte ohne ordentlichen Wohnsitz im Bundesgebiet kann jedoch die Erfüllung einer verfassungsrechtlich vorgesehenen Wahlpflicht nicht mit jener inhaltlichen Bedeutung verlangt werden, als für im Bundesgebiet ansässige Wahlberechtigte. Dies gilt vor allem für im Ausland lebende österreichische Staatsbürger, die nie im Bundesgebiet ansässig waren."

In einer weiteren Äußerung setzt sich die Kärntner Landesregierung insbesondere mit der historischen Entwicklung auseinander und führt dazu folgendes aus:

"Für die Interpretation der Bundesverfassung und für die inhaltliche Verständnisermittlung der Verfassungsbegriffe wird - insbesondere vom Verfassungsgerichtshof - primär die historische Interpretationsmethode, das Abstellen auf die vom historischen Verfassungsgesetzgeber vorgegebene einfachgesetzliche Rechtslage, herangezogen. Eine Anwendung dieser auch als 'Versteinerungstheorie' bezeichneten Auslegungsmethode im Gegenstand rechtfertigt die gegen die Einschränkung des aktiven Wahlrechtes auf Personen mit ordentlichem Wohnsitz im Bundesgebiet vorgebrachten Bedenken nicht. Eine Untersuchung der vom Bundesverfassungsgesetzgeber vorgefundenen Rechtslage (einschließlich der den Schöpfern der Bundesverfassung bekannten einschlägigen Gesetze des Deutschen Reiches und der Tschechoslowakei), der Verfassungsentwürfe sowie der weiteren Entwicklung der Verfassungsgesetzgebung aber auch der einfachen Bundesgesetzgebung zeigt, daß dem Bundesverfassungsgesetzgeber stets eine Verknüpfung des aktiven Wahlrechtes für die Nationalratswahlen (und seit 1929 für die Bundespräsidentenwahl) mit einem ordentlichen Wohnsitz im Bundesgebiet vor Augen gestanden und daher als mitgedachte Bedingung für das Stimmrecht bei den Wahlen, für die das Wählerevidenzgesetz 1973 die Grundlage bildet, anzusehen ist.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit soll die Entwicklung der Wahlgesetzgebung in einzelne Phasen gegliedert dargestellt werden.

a) Die vom historischen Verfassungsgesetzgeber im Jahre 1920 vorgefundenen Rechtsvorschriften:

ArtII des Gesetzes vom 18. Dezember 1918, Staatsgesetzblatt Nr. 114/1918, über die Einberufung der konstituierenden Nationalversammlung bestimmte, daß 'zur konstituierenden Nationalversammlung . . . im geschlossenen Staatsgebiete 250 und in den Einflußgebieten 5 Abgeordnete auf Grund des gleichen Wahlrechtes aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechtes, die vor dem 1. Jänner 1919 das 20. Lebensjahr überschritten haben, nach dem System der Verhältniswahl gemäß der mit dem Gesetze vom 18. Dezember 1918, Staatsgesetzblatt Nr. 115/1918, erlassenen Wahlordnung gewählt' werden. Diese Betimmung ist als Ausdruck der damals für möglich erachteten Allgemeinheit und Gleichheit des Wahlrechtes zu verstehen (vergl. die Erläuterungen zur Regierungsvorlage betreffend §§ 11 ff, 62 der Beilagen der provisorischen Nationalversammlung S. 22; vergl. auch Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Republik Deutsch-Österreich, II, 1919, S. 41 ff sowie Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, 1923, S. 109 f).

Diesen Grundsätzen wurde durch die Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung, Staatsgesetzblatt Nr. 115/1918, in den Bestimmungen über 'Wahlrecht und Wählbarkeit' (§§11 ff) Rechnung getragen. Gleichwohl ergab sich aus §17 leg.cit., daß nur wählen konnte, wer von der Ortswahlbehörde im Wählerverzeichnis erfaßt worden war. Dieses Verzeichnis war nach Straßen und Hausnummern anzulegen (§14 leg.cit.). Daraus - sowie aus §2 und 4 und dem Anhang der Vollzugsanweisung des Deutsch Österreichischen Staatsrates vom 21. Dezember 1918, betreffend die Verzeichnung der Wahlberechtigten zur Wahl der konstituierenden Nationalversammlung, Staatsgesetzblatt Nr. 128/1928, - ergibt sich, daß ein Wohnsitz im Staatsgebiet Voraussetzung für die Wahlberechtigung war (vergl. auch die Erläuterungen zur Regierungsvorlage, 62 der Beilagen der provisorischen Nationalversammlung, S. 23). Das wird auch durch den Umstand bestätigt, daß mit §1 des Gesetzes vom 9. Jänner 1919, Staatsgesetzblatt Nr. 15/1919, §11 der Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung durch eine Bestimmung ergänzt wurde, nach der unter der Bedingung der Gegenseitigkeit auch jene deutschen Reichsangehörigen wahlberechtigt waren, die am Tage der Verlautbarung der Wahlauschreibung ihren ordentlichen Wohnsitz in einer Gemeinde Deutsch-Österreichs hatten (vergl. auch dazu Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, S. 109 f und Merkl, Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich, 1919, S. 176, Fußnote 2).

Für die Wahl in die Nationalversammlung (Nationalrat) 1920 war das 'Gesetz über die Wahlordnung zur Nationalversammlung vom 20. Juli 1920' ausschlaggebend, inhaltlich nur eine Novelle zur Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung (Staatsgesetzblatt Nr. 316/1920), mit Vollzugsanweisung der Staatsregierung vom 21. Juli 1920, Staatsgesetzblatt Nr. 351, neu verlautbart. Inhaltlich trat durch die Novelle für das hier in Rede stehende Problem keine Änderung ein, es blieb somit bei der Anknüpfung an den ordentlichen Wohnsitz (§§14 und 17 leg.cit. sowie §28 in Verbindung mit Anhang I der Vollzugsanweisung der Staatsregierung über die Durchführung der Wahl in die Nationalversammlung, Staatsgesetzblatt Nr. 352/1920; vergl. dazu grundsätzlich Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich IV, S. 133 ff; Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, S. 157 f; Merkl, Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich, S. 176 ff). Die Gegenseitigkeitsklausel gegenüber dem Deutschen Reich war freilich im Gefolge des Staatsvertrages von St. Germain entfallen.

Daß der Gesetzgeber sowohl 1918 als auch 1920 immer nur ein Wahlrecht für Staatsbürger, die im Staatsgebiet einen ordentlichen Wohnsitz hatten, im Sinne hatte, ergibt sich nicht zuletzt aus der jeweiligen Diskussion über die Aufnahme einer Wahlpflicht in die Wahlordnungen. Die im Parlament gestellten Anträge enthielten stets Entschuldigungsgründe nur für Personen, die in Österreich einen ordentlichen Wohnsitz hatten (vergl. den Antrag des Abgeordneten Hummer in der 10. Sitzung der provisorischen Nationalversammlung für Deutsch-Österreich am 18. Dezember 1918, Sten.Prot. S. 334 sowie den Antrag des Abgeordneten Dr. Schürff in der 96. Sitzung der konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich am 20. Juli 1920, Sten.Prot. S. 3129). Auch dies ist ein Indiz für das Selbstverständnis des Gesetzgebers 1920.

Ebenso deutlich wird aus den Gesetzesmaterialien zur Wahlordnung für die Nationalversammlung (1924 der Beilagen, konstituierende Nationalversammlung, S. 11 sowie 946 der Beilagen konstituierende Nationalversammlung, S. 1) und aus Debattenbeiträgen (vergl. die Abgeordneten Dr. Adler und Dr. Schürff in der 96. Sitzung der konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich am 20. Juli 1920, Sten.Prot. S. 3122 bzw. 3129), daß der Nationalversammlung die Rechtslage zumindest im Deutschen Reich und in der Tschechoslowakei genau bekannt war. In beiden Staaten war das Wahlrecht durch die Wahlgesetzgebung auf Staatsbürger beschränkt, die im Staatsgebiet ihren ordentlichen Wohnsitz hatten, obwohl weder Art20 bis 22 der Weimarer Verfassung noch §§9 und 14 der Tschechoslowakischen Verfassungsurkunde eine ausdrückliche Wohnsitzklausel enthielten. Es muß wohl angenommen werden, daß das in beiden Staaten verwirklichte Wahlrecht auch dem historischen Verfassungsgesetzgeber als Leitlinie vor Augen gestanden war und für das Verständnis von einem modernen allgemeinen und gleichen Wahlrecht prägend war.

b) Das Bundes-Verfassungsgesetz 1920

Gemäß Art26 Abs1 des Bundes-Verfassungsgesetzes, BGBl. Nr. 1/1920, war der Nationalrat vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Wahlrechtes der Männer und Frauen, die vor dem 1. Jänner d.J. der Wahl das 20. Lebensjahr überschritten hatten, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zu wählen. Abs2, der im wesentlichen der heutigen Fassung glich, ordnete an, daß die Zahl der Abgeordneten auf die Wahlberechtigten eines Wahlkreises (Wahlkörper) im Verhältnis der Bürgerzahl der Wahlkreise, das ist der Zahl der Bundesbürger, die nach dem Ergebnis der letzten Volkszählung in den Wahlkreisen ihren ordentlichen Wohnsitz hatten, zu verteilen war. Alles weitere war der Bundesgesetzgebung vorbehalten, wobei freilich die Ausschließung vom Wahlrecht und von der Wählbarkeit nur die Folge einer gerichtlichen Verurteilung oder Verfügung sein durfte. Für den ersten Nationalrat blieb allerdings gemäß §20 Abs2 des Übergangsgesetzes 1920 die Wahlordnung für die Nationalversammlung in Kraft.

Was die Bedenken anlangt, die sich auf den Formulierungsunterschied zwischen Art26 Abs1 einerseits und Art95 Abs1 sowie Art119 Abs2 des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 andererseits stützen, da in den letztgenannten Bestimmungen sehr wohl eine Wohnsitzklausel enthalten ist (ebenso in §34 Abs3 des Übergangsgesetzes 1920 für die Wahl der Bezirksvertretungen), so läßt sich zeigen, daß der historische Verfassungsgesetzgeber eine Beschränkung des Wahlrechtes auf Wohnsitzbürger auch für Nationalratswahlen mitgedacht hat, ohne darin einen 'echten Wahlausschließungsgrund' zu erblicken.

Die Bemerkung zu Art26 des Bundes-Verfassungsgesetzes in Kelsen-Froehlich-Merkl, Die Verfassungsgesetze der Republik Österreich V, 1922, S. 94, unter 'Bundesvolk' sei die Gesamtheit der Bundesbürger zu verstehen, ist dadurch relativiert, daß im selben Kommentar zu Art95 leg.cit. ausdrücklich auf das für die einzelnen Wahlordnungen geltende sogenannte 'Homogenitätsprinzip' hingewiesen wird. Nichts spricht dafür, die Wohnsitzklausel des Art95 Abs1 leg.cit. als Ausnahme von diesem Prinzip zu deuten. Dagegen spricht auch die Entstehungsgeschichte des Art95 des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920. Im Unterausschuß des Verfassungsausschusses wurde zunächst die Frage aufgeworfen, ob der Wohnsitz im Lande nicht als Voraussetzung für das Landtagswahlrecht angeführt werden sollte, worauf der Vorsitzende (Abgeordneter Dr. Bauer) antwortete, daß dies nicht nötig sei, weil ja 'die Bedingungen des Wahlrechtes nicht enger gezogen werden dürfen, als zum Nationalrat' (zitiert bei Walter, Die Entstehung des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 in der Konstituierenden Nationalversammlung, 1984, S. 197). Daß die Wohnsitzklausel schließlich doch aufgenommen worden ist, berechtigt nicht zur Annahme, daß sich das Selbstverständnis des Verfassungsgesetzgebers, wie es in der Bemerkung des Abgeordneten Dr. Bauer zum Ausdruck kommt, geändert hätte, da dies, wie Nowak, Politische Grundrechte, 1988, S. 340, festhält, sicher in den Beratungen zum Ausdruck gekommen wäre. Die Formulierung dieser beiden Artikel dürfte eher aus sprachlichen Gründen den ordentlichen Wohnsitz erwähnen, weil sonst alle Staatsbürger zu allen Landtagen (Gemeinderäten) wahlberechtigt wären. Die Geschichte des Bundes-Verfassungsgesetzes spricht jedoch darüberhinaus ganz allgemein für die Annahme, daß der historische Verfassungsgesetzgeber die Verknüpfung des Wahlrechtes mit einem ordentlichen Wohnsitz im Bundesgebiet, wie er es in den bisherigen republikanischen Wahlordnungen vorgefunden hat, durch die Wortwahl in Art26 Abs1 B-VG nicht aufgeben wollte. Es trifft zu, daß zwar, insbesondere auf Seite der Sozialdemokratie - Seßhaftigkeitsklauseln äußerst umstritten waren, nicht aber die in den meisten Nachbarstaaten Österreichs üblichen Wohnsitzklauseln. Wie Nowak, aaO, S. 340 betont, wurde 1918 zwar die Seßhaftigkeitsklausel mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechtes als Verfassungsprinzip fallengelassen, das Erfordernis des Wohnsitzes gemäß §66 JN für den Stichtag der Wahlauschreibung jedoch beibehalten, um alle Wahlberechtigten ordnungsgemäß erfassen zu können. Für den Willen des historischen Verfassungsgesetzgebers, von dieser zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bundesverfassung geltenden und, wie noch zu zeigen sein wird, dem europäischen Standard durchaus entsprechenden Rechtslage abzugehen, findet sich kein Beleg. Die einzelnen Entwürfe für die Bundesverfassung (vergl. Ermacora, Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht, 1920, 1967) enthalten ebenso wie die Vorentwürfe Kelsens (vergl.

    Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die Österreichische

    Bundesverfassung, 1981, S. 144 f und 216 f; Ermacora, Die

    Österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen, 1982, S. 177

    f und S. 322 f) weder für die 'Bundeswahlen' noch für die

    Landtagswahlen eine Wohnsitzklausel. Einen weiteren Hinweis auf

    das Verständnis des historischen Verfassungsgesetzgebers bietet

    der sogenannte 'Renner-Mayr-Entwurf', der in Art39 zwar keine

    Wohnsitzklausel, wohl aber eine Bestimmung über eine ständige

    Bürgerliste, mithin eine 'Wählerevidenz' enthält. In den

    Erläuterungen zu Art39 dieses Entwurfes ist davon die Rede,

    daß 'nunmehr . . . nach englischem Vorbild gemeindeweise alle

    Staatsbürger in einer ständigen und allgemeinen Bürgerliste

    geführt werden . . ." sollen (vergl. den Abdruck des Entwurfes

bei Ermacora, Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht, 1920, 1967, S. 133 ff, insbesondere S. 261). Wenn auch 1920 eine ständige Wählerevidenz noch nicht ausdrücklich in der Verfassung vorgesehen war (dies geschah erst 1929), so zeigt doch die Erwähnung des englischen Systems der Wählerverzeichnisse die Anknüpfung an den ordentlichen Wohnsitz.

Daraus ergibt sich zusammenfassend, daß das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 - ungeachtet der unterschiedlichen Wortwahl in Art26 Abs1 und Art95 Abs1 (bzw. Art119 Abs2 sowie auch §34 des Übergangsgesetzes 1920) - vom Erfordernis des ordentlichen Wohnsitzes im Bundesgebiet als Voraussetzung für das Wahlrecht nicht abgegangen ist. Auf die Frage, inwieweit die Rezeption des Art66 des Staatsvertrages von St. Germain durch Art149 Abs1 des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 etwas an dieser Beurteilung ändert, wird noch eingegangen.

c) Die Nationalratswahlordnung 1923:

Als einfaches Bundesgesetz ist die erste Wahlordnung für den Nationalrat vom 11. Juli 1923, BGBl. Nr. 367, nich

Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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