TE Vfgh Erkenntnis 1990/3/1 G314/89, G19/90, G20/90

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Veröffentlicht am 01.03.1990
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Index

L3 Finanzrecht
L3705 Anzeigenabgabe

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz B-VG Art91 B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsgegenstand Wr AnzeigenabgabeG 1983 §9

Leitsatz

Verfassungswidrigkeit der Strafe für Abgabenverkürzungen nach dem Wr. Anzeigenabgabegesetz aufgrund der möglichen Höhe der Geldstrafe bis zum Fünfzigfachen des Verkürzungsbetrages; Überschreitung des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums; Zugehörigkeit einer solchen Strafdrohung zum Kernbereich der Strafgerichtsbarkeit

Spruch

I. §9 des Wiener Anzeigenabgabegesetzes 1983, LGBl. Nr. 22, war verfassungswidrig.

II. §9 des Wiener Anzeigenabgabegesetzes 1983, LGBl. Nr. 22, in der Fassung des Gesetzes LGBl. Nr. 29/1984 wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 1990 in Kraft.

Frühere Gesetzesbestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

III. Der Landeshauptmann von Wien ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Landesgesetzblatt kundzumachen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der unter der Überschrift "Strafen" stehende §11 des AnzeigenabgabeG, LGBl. f. Wien 14/1946, lautete wie folgt:

"(1) Handlungen oder Unterlassungen, wodurch die Abgabe verkürzt oder der Verkürzung ausgesetzt wird, werden als Übertretungen bis zum Fünfzigfachen des Betrages bestraft, um den die Abgabe verkürzt oder der Verkürzung ausgesetzt wurde. Läßt sich das Ausmaß der Abgabeverkürzung oder -gefährdung nicht feststellen, so hat der amtlich bemessene Abgabebetrag (§7, Abs(2), §10) die Grundlage für die Bemessung der Strafe zu bilden. Im Falle der Uneinbringlichkeit tritt an Stelle der Geldstrafe Arrest bis zu drei Monaten.

(2) Die sonstigen Übertretungen der Vorschriften dieses Gesetzes oder der dazu erlassenen Durchführungsvorschriften werden mit Geldstrafen bis zu 2 000 S, im Nichteinbringungsfalle mit Arrest bis zu 14 Tagen geahndet.

(3) Auf das Strafverfahren finden die Vorschriften des Verwaltungsstrafgesetzes Anwendung."

Der wiedergegebene Paragraph erhielt zufolge ArtII Z2 des Gesetzes LGBl. 12/1973 die Bezeichnung §9.

2. Mit der Wiederverlautbarungskundmachung der Wiener Landesregierung vom 15. März 1983, LGBl. 22/1983, wurde das AnzeigenabgabeG als "Wiener Anzeigenabgabegesetz 1983" neu verlautbart; hiebei wurden insbesondere (die im §9 Abs1 bezogenen) §§7 Abs2 und 10 als nicht mehr geltend und §9 Abs3 als gegenstandslos festgestellt. Gemäß der Anlage zur Wiederverlautbarungskundmachung hatte der mit der Überschrift "Strafen" versehene §9 folgenden Wortlaut:

"§9. (1) Handlungen oder Unterlassungen, wodurch die Abgabe verkürzt oder der Verkürzung ausgesetzt wird, werden als Übertretungen bis zum Fünfzigfachen des Betrages bestraft, um den die Abgabe verkürzt oder der Verkürzung ausgesetzt wurde. Läßt sich das Ausmaß der Abgabeverkürzung oder -gefährdung nicht feststellen, so hat der amtlich bemessene Abgabebetrag die Grundlage für die Bemessung der Strafe zu bilden. Im Falle der Uneinbringlichkeit tritt an Stelle der Geldstrafe Arrest bis zu drei Monaten.

(2) Die sonstigen Übertretungen der Vorschriften dieses Gesetzes oder der dazu erlassenen Durchführungsvorschriften werden mit Geldstrafen bis zu 2 000 S, im Nichteinbringungsfalle mit Arrest bis zu 14 Tagen geahndet."

3. §9 des Wiener AnzeigenabgabeG 1983 erhielt durch die Novelle LGBl. 29/1984 mit Wirksamkeit vom 1. August 1984 nachstehende neue Fassung:

"§9. (1) Handlungen oder Unterlassungen, durch die die Abgabe hinterzogen oder fahrlässig verkürzt wird, sind als Verwaltungsübertretungen mit Geldstrafe bis zum Fünfzigfachen des Verkürzungsbetrages zu bestrafen. Der Versuch ist strafbar. Im Falle der Uneinbringlichkeit tritt an Stelle der Geldstrafe Arrest bis zu drei Monaten.

(2) Die sonstigen Übertretungen der Vorschriften dieses Gesetzes oder der dazu erlassenen Verordnungen werden mit Geldstrafen bis zu 10 000 S, im Nichteinbringungsfalle mit Arrest bis zu 14 Tagen geahndet."

II. Beim Verwaltungsgerichtshof ist (zur Zl. 84/17/0205) das Verfahren über eine Beschwerde gegen einen Berufungsbescheid der Wiener Landesregierung vom 18. Oktober 1984 anhängig, mit dem ein Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom 29. Mai 1984 gemäß §66 Abs2 AVG 1950 behoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde erster Instanz verwiesen wurde. Mit dem Straferkenntnis war ausgesprochen worden, daß der Beschwerdeführer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens als zur Vertretung nach außen Berufener einer bestimmten Gesellschaft mit beschränkter Haftung die Abrechnung über die von dieser Gesellschaft für die Monate November 1980 bis Juli 1983 für die Vornahme oder Verbreitung von Anzeigen aller Art vereinnahmten Entgelte von 263.580 S dem Magistrat bis 17. August 1983 nicht vorgelegt und den sich danach ergebenden Abgabenbetrag bis 17. August 1983 nicht gezahlt, somit hiedurch die Anzeigenabgabe um 26.538 S verkürzt habe. Der Beschwerdeführer habe dadurch eine Verwaltungsübertretung nach §9 Abs1 des Wiener AnzeigenabgabeG 1983, LGBl. Nr. 22, in der derzeit geltenden Fassung, im Zusammenhalt mit §9 VStG begangen. Gemäß §9 Abs1 des Wiener AnzeigenabgabeG 1983 werde gegen den Beschwerdeführer eine Geldstrafe von S 26.000,-(Ersatzarreststrafe in der Dauer von 36 Tagen) verhängt.

Aus Anlaß dieser Beschwerdesache stellt der Verwaltungsgerichtshof (unter A31/89) mit Berufung auf Art140 Abs1 B-VG den (beim Verfassungsgerichtshof unter G314/89 protokollierten) Antrag, §9 in beiden Fassungen vor der Novelle LGBl. 29/1984, nämlich in der des AnzeigenabgabeG, LGBl. f. Wien 14/1946, idF LGBl. 12/1973 sowie in der des Wr. AnzeigenabgabeG 1983, Anlage zur Wiederverlautbarungskundmachung der Wiener Landesregierung LGBl. 22/1983, als verfassungswidrig aufzuheben, in eventu auszusprechen, daß diese Gesetzesstelle verfassungswidrig war. Der Verwaltungsgerichtshof verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß deshalb beide Fassungen ("jene vor und jene nach der Wiederverlautbarung") zur Anwendung kämen, weil die der angelasteten Abgabenverkürzung zugrundegelegten Zeiträume die Monate November 1980 bis Juli 1983 seien.

Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die angefochtene Gesetzesstelle verweist der Verwaltungsgerichtshof auf den wesentlichen Inhalt des vom Verfassungsgerichtshof in seiner Beschwerdesache B744/87 gefaßten Beschlusses, ein (in der Folge mit dem Erk. G6/89 und weitere Zahlen vom 27. September 1989 abgeschlossenes) Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §35 des VergnügungssteuerG für Wien 1963 unter dem Aspekt der sich aus Art91 B-VG ergebenden Grundsätze sowie unter dem des Gleichheitsgebotes einzuleiten.

III. Desweiteren sind beim Verwaltungsgerichtshof (zu den Zlen. 88/17/0033 und 88/17/0138) Verfahren über Beschwerden anhängig, die sich gegen je einen im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Wiener Landesregierung vom 22. Juni 1988 bzw. 5. Mai 1988 richten; Gegenstand des Bescheides ist jeweils die Bestrafung des Beschwerdeführers (der Beschwerdeführerin) unter Berufung auf §9 Abs1 des Wr. AnzeigenabgabeG 1983, LGBl. 22, idF der Novelle LGBl. 29/1984 wegen einer fahrlässigen Verkürzung der Anzeigenabgabe (in Höhe von 190.664 S bzw. in Höhe von 384.693 S) mit einer Geldstrafe (von 100.000 S bzw. 190.000 S) sowie einer Ersatzfreiheitsstrafe. Aus Anlaß dieser Beschwerdesachen stellt der Verwaltungsgerichtshof (unter A1/90 und A2/90) die (beim Verfassungsgerichtshof unter G19/90 und G20/90 eingetragenen) Anträge, §9 des Wr. AnzeigenabgabeG 1983 in der erwähnten Fassung als verfassungswidrig aufzuheben.

Der Verwaltungsgerichtshof hegt aus Anlaß dieser Beschwerdefälle die gleichen verfassungsrechtlichen Bedenken, welche den Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis G6/89 (und weitere Zahlen) vom 27. September 1989 veranlaßt haben, §35 des VergnügungssteuerG für Wien 1963 als verfassungswidrig zu befinden. Diese Bedenken bestünden - wie der antragstellende Gerichtshof im Antrag A2/90 ausführte - umso mehr, als die anzuwendende Vorschrift des §9 des Wr. AnzeigenabgabeG 1983 als zulässige Höchststrafe - auch für den Fall bloß fahrlässiger Abgabenverkürzung - sogar das Fünfzigfache des Verkürzungsbetrages festlege.

IV. Die Wiener Landesregierung erstattete zu den Prüfungsanträgen Äußerungen, in denen sie unter Hinweis auf das zitierte Erkenntnis G6/89 den vom Verwaltungsgerichtshof vorgebrachten Bedenken im Ergebnis nicht entgegentritt; sie hält jedoch - offenbar vom rechtspolitischen Blickpunkt her - eine Aussage des Verfassungsgerichtshofs in den Entscheidungsgründen seines zu fällenden Erkenntnisses für geboten, welches - auf den Verkürzungsbetrag bezogene - "Vielfache" im Rahmen einer Strafvorschrift der vorliegenden Art als verfassungskonform angesehen werden könnte.

V. Die Prüfungsanträge sind - da sämtliche Prozeßvoraussetzungen gegeben sind - zulässig.

1. Was den Antrag A31/89 (G 314/89) anlangt, muß der Verfassungsgerichtshof allerdings auf seine Rechtsprechung zur Wiederverlautbarung von Gesetzen aufmerksam machen (s. VfSlg. 6775/1972 mit weiteren Judikaturhinweisen; VfSlg. 6281a/1970, 6282/1970). Ihr zufolge erhält die wiederverlautbarte Rechtsvorschrift durch einen rechtmäßigen Wiederverlautbarungsakt ihre endgültige Fassung und es wird die frühere bedeutungslos (nur dort, wo der Akt der Wiederverlautbarung als gesetzwidrig aufgehoben wurde, kommt die verdrängte Fassung der Rechtsvorschrift zur Geltung); es liegt eine einzige, im Geltungsbereich nicht veränderte Vorschrift vor, die - weil sie nur mehr in der neuen Fassung in Erscheinung tritt - auch nur in dieser Fassung Gegenstand der Prüfung gemäß Art140 B-VG sein kann. Im Hinblick auf diese auch hier beizubehaltende Judikatur wertet der Verfassungsgerichtshof den vom Verwaltungsgerichtshof unter A31/89 gestellten Antrag dahin, daß ein - in Ansehung des Verwaltungsgeschehens - bloß unterschiedlich formuliertes, der Sache nach aber einheitliches Begehren vorliegt, welches auf Aufhebung des §9 des Wr. AnzeigenabgabeG 1983 idF vor der Novelle LGBl. 29/1984 abzielt.

2. Bezüglich des Umfangs, in dem die angefochtenen Gesetzesstellen als präjudiziell anzusehen sind, bleibt der Verfassungsgerichtshof auf dem in seinem Beschluß G28,29/89 vom 5. Dezember 1989 - mit vergleichender Bezugnahme auf sein §35 des VergnügungssteuerG für Wien 1963 betreffendes Erk. G6/89 (und weitere Zahlen) - eingenommenen Standpunkt, daß die Absätze 1 und 2 des §9 AnzeigenabgabeG - vom jeweiligen in der Beschwerdesache heranzuziehenden Abs1 her gesehen - eine nicht trennbare Einheit bilden. Wenn der Verwaltungsgerichtshof dieser Auffassung nunmehr im Ergebnis folgt, so befindet er sich damit in voller Übereinstimmung mit seinen früheren Anträgen (A 4/89, A5/89, A6/89 und A14/89) in den insoweit völlig gleichgelagerten Prüfungsverfahren zu §35 des VergnügungssteuerG für Wien 1963.

VI. 1. Die Anträge sind auch gerechtfertigt.

Der Verfassungsgerichtshof verweist auf die Entscheidungsgründe seines (u.a. aufgrund des - vom Verwaltungsgerichtshof zitierten Einleitungsbeschlusses in der Beschwerdesache B744/87 gefällten) Erkenntnisses G6/89 (und weitere Zahlen) vom 27. September 1989, mit dem ausgesprochen wurde, daß §35 des VergnügungssteuerG für Wien 1963, LGBl. 11, (idF der Novellen LGBl. 37/1976 und 16/1981) verfassungswidrig war. Die in diesem Erkenntnis in bezug auf die Verfassungswidrigkeit des §35 des VergnügungssteuerG für Wien 1963 (welcher in seinem Abs1 die Verhängung einer Geldstrafe bis zum Dreißigfachen des Verkürzungsbetrages vorsah) angestellten Erwägungen treffen auch für die vom Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bestimmungen des Wr. Anzeigenabgabegesetzes 1983 (in den Fassungen vor und nach der Novelle LGBl. 29/1984) sinngemäß voll zu, und zwar umso mehr, als diese Vorschriften die Bestrafung mit einer Geldstrafe bis sogar zum Fünfzigfachen des Verkürzungsbetrages vorsehen.

Der Verfassungsgerichtshof hält es im gegebenen Zusammenhang weder für erforderlich noch für möglich, auf die von der Wiener Landesregierung gestellte allgemeine Frage nach der verfassungsrechtlich zulässigen Obergrenze einer am Verkürzungsbetrag orientierten Verwaltungsstrafe einzugehen. Ihre Beantwortung würde nämlich die fiktive Vorwegnahme eines Prüfungsverfahrens bezüglich einer Gesetzesvorschrift bedeuten, bei der weder der normative Kontext (etwa Art und Ausmaß der Abgabe) noch die technische Gestaltung der Strafvorschrift (etwa getrennte Strafdrohungen für Vorsatztaten und fahrlässig begangene Abgabenverkürzungen) feststünden. Der Verfassungsgerichtshof kann jedoch darauf hinweisen, daß er in seiner langjährigen Rechtsprechung gegen die einschlägigen, von den Abgabenbehörden zu vollziehenden Bestimmungen des Finanzstrafgesetzes keine verfassungsrechtlichen Bedenken geäußert hat.

2. Die geprüften Gesetzesvorschriften verstoßen sohin sowohl gegen die aus Art91 B-VG abzuleitenden Grundsätze als auch gegen das auch den Gesetzgeber bindende Gleichheitsgebot.

Es war somit auszusprechen, daß der (zufolge der Novelle LGBl. 29/1984 bereits außer Kraft getretene) §9 des Wr. AnzeigenabgabeG 1983, LGBl. 22, (in dieser vor der erwähnten Novelle geltenden Fassung) verfassungswidrig war sowie daß §9 des Wr. AnzeigenabgabeG 1983, LGBl. 22, idF der Novelle LGBl. 29/1984 als verfassungswidrig aufgehoben wird.

Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG.

Der Ausspruch, daß frühere Gesetzesbestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Landeshauptmanns zur unverzüglichen Kundmachung der getroffenen Aussprüche erfließt aus Art140 Abs5 erster und zweiter Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG.

VII. Von einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG abgesehen.

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsgegenstand, Anzeigenabgaben, Wiederverlautbarung, Auslegung eines Antrages

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1990:G314.1989

Dokumentnummer

JFT_10099699_89G00314_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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