TE Vwgh Erkenntnis 1992/9/17 92/18/0161

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Veröffentlicht am 17.09.1992
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
40/01 Verwaltungsverfahren;
60/02 Arbeitnehmerschutz;

Norm

ASchG 1972 §21 Abs1;
ASchG 1972 §21 Abs2;
ASchG 1972 §22 Abs1;
ASchG 1972 §22 Abs2;
AVG §45 Abs2;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Jabloner und die Hofräte Dr. Stoll, Dr. Zeizinger, Dr. Sauberer und Dr. Graf als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde der O-GmbH in L, vertreten durch Dr. C, Rechtsanwalt in L, gegen den Bescheid des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 9. März 1992, Zl. 61.021/77-3/91, betreffend sicherheitstechnischer Dienst und betriebsärztliche Betreuung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 11.810,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit zwei getrennten Bescheiden des Arbeitsinspektorates für den

9. Aufsichtsbezirk vom 26. Juli 1991 wurden die Anträge der Beschwerdeführerin vom 5. Dezember 1989 auf Entbindung von der Verpflichtung zur Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes sowie einer betriebsärztlichen Betreuung gemäß § 21 Abs. 2 und § 22 Abs. 2 des Arbeitnehmerschutzgesetzes (im folgenden: ASchG) abgewiesen.

Die dagegen von der Beschwerdeführerin erhobene Berufung wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 9. März 1992 unter Berufung auf § 21 Abs. 2 zweiter Satz und § 22 Abs. 2 zweiter Satz ASchG im Grunde des § 66 Abs. 4 AVG abgewiesen.

In der Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe ihre Anträge vor allem damit begründet, daß es sich beim Großteil der damals 410 Arbeitnehmer um teilzeitbeschäftigte, zum Teil geringfügig beschäftige Zeitungsausträger handle, die im Raum Oberösterreich beschäftigt und keiner besonderen Gefährdung ausgesetzt seien. Die Erstbehörde habe die Abweisung dieser Anträge damit begründet, daß der Betriebsumfang die gesetzliche "Schlüsselzahl" erheblich überschreite und darüber hinaus auch weder die gesundheitliche Gefährdung noch das allgemeine Sicherheitsrisiko der Arbeitnehmer unterdurchschnittlich wären. In der Berufung dagegen habe die Beschwerdeführerin vor allem folgendes geltend gemacht: Nur 20 der 410 Arbeitnehmer seien vollzeitbeschäftigt; bei allen anderen handle es sich um Teilzeitbeschäftige mit 8 bis 15 Wochenstunden. Ein Teil der Arbeitnehmer werde in ihren (neben der Beschäftigung bei der Beschwerdeführerin ausgeübten) Hauptdienstverhältnissen betriebsärztlich betreut. Die Zeitungsausträger arbeiteten weder an Maschinen noch kämen sie mit gesundheitsschädlichen oder gefährlichen Materialien in Berührung. Alle bisher aufgetretenen Unfälle seien Wegunfälle oder Verkehrsunfälle auf öffentlichen Verkehrswegen gewesen, deren Beschaffenheit vom Unternehmen nicht beeinflußt werden könne.

Unter Hinweis auf die Vorschriften des § 21 Abs. 1 erster Satz und des § 22 Abs. 1 erster Satz ASchG führte die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides weiter aus, im gegenständlichen Betrieb der Beschwerdeführerin seien regelmäßig mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt. Der Arbeitnehmerbegriff des § 1 Abs. 5 ASchG umfasse alle Personen, die in Betrieben im Rahmen eines Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnisses tätig seien. Zu einem Betrieb gehörten gemäß § 1 Abs. 2 ASchG auch die außerhalb seines Standortes gelegenen Arbeitsstellen. Der Umfang der Arbeitszeit der Arbeitnehmer sei daher für die Anwendung der Bestimmungen des ASchG ebenso irrelevant wie der Ort, an dem sie ihre Arbeitsleistung erbringen würden. Es seien daher auch die teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer zu berücksichtigen und von einer Arbeitnehmerzahl von 411 auszugehen. Damit bestünden ex lege die Verpflichtungen entsprechend den angeführten gesetzlichen Bestimmungen.

Unter Bezugnahme auf das hg. Erkenntnis vom 8. Oktober 1987, Zl. 86/08/0112, legte die belangte Behörde in der Folge dar, weshalb sie die Voraussetzungen für die Anwendung des § 21 Abs. 2 zweiter Satz und des § 22 Abs. 2 zweiter Satz ASchG als nicht gegeben erachte. In diesem Zusammenhang führte sie weiters aus, es sei nicht zu prüfen gewesen, ob besondere Gefährdungen der Arbeitnehmer gegeben seien. Die Verpflichtung zur Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes und einer betriebsärztlichen Betreuung knüpfe nicht an eine besondere oder erhöhte Gefährdung der Arbeitnehmer an. Gemäß § 1 ASchG beziehe sich der Anwendungsbereich dieses Gesetzes auf die berufliche Tätigkeit der Arbeitnehmer in Betrieben aller Art. Daraus gehe hervor, daß der Gesetzgeber von einer sehr breiten und umfassenden Durchschnittsbetrachtung ausgehe, d.h. von einer durchschnittlichen Gefährdung in einem durchschnittlichen Betrieb. Es reichten daher bereits durchschnittliche Gefährdungen aus, um in einem Betrieb mit mehr als

250 Arbeitnehmern die Verpflichtung zur Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes und einer betriebsärztlichen Betreuung zu begründen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Dieser hat erwogen:

Weshalb die belangte Behörde durch die Abweisung der Berufung gegen die beiden erwähnten erstinstanzlichen Bescheide nicht "in der Sache" entschieden und damit gegen die Vorschrift des § 66 Abs. 4 AVG verstoßen haben sollte, ist für den Gerichtshof nicht erkennbar. Der Hinweis in der Beschwerde etwa auf das hg. Erkenntnis vom 29. November 1971, Slg. Nr. 8123/A, geht - weil einen völlig anderen Sachverhalt betreffend - fehl.

Die Bestimmungen des § 21 Abs. 1 und Abs. 2 sowie des § 22 Abs. 1 und Abs. 2 ASchG - soweit im Beschwerdefall von Belang - lauten:

"§ 21 (1) In jedem Betrieb, in dem regelmäßig mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt sind, ist vom Arbeitgeber ein dem Umfang des Betriebes, der Zahl der Beschäftigten sowie dem Ausmaß und Grad der allgemeinen Gefährdung entsprechender sicherheitstechnischer Dienst einzurichten. In Unternehmen, die mehrere Betriebe im Sinne dieses Bundesgesetzes umfassen oder die mehrere räumlich getrennte Arbeitsstellen aufweisen, in denen zwar jeweils weniger als 250, insgesamt jedoch mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt werden, ist, wenn für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung besteht, ein entsprechender sicherheitstechnischer Dienst einzurichten ...

(2) Bei Betrieben, in denen auf Grund ihrer Eigenart für die Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung besteht, hat das Arbeitsinspektorat bei einer geringeren Zahl von Arbeitnehmern dem Arbeitgeber durch Bescheid aufzutragen, innerhalb einer angemessenen Frist, die nicht mehr als sechs Monate betragen darf, einen entsprechenden sicherheitstechnischen Dienst einzurichten. Das Arbeitsinspektorat kann auf Antrag des Arbeitgebers, wenn es die betrieblichen Verhältnisse unter Berücksichtigung des Ausmaßes und des Grades der Gefährdung der Arbeitnehmer sowie unter Berücksichtigung des Umfanges des Betriebes geboten erscheinen lassen, wie in Banken, Versicherungsanstalten oder anderen Bürobetrieben, durch Bescheid zulassen, daß erst bei einer höheren Zahl als 250 Arbeitnehmer ein sicherheitstechnischer Dienst einzurichten ist.

§ 22 (1) In jedem Betrieb, in dem regelmäßig mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt sind, ist vom Arbeitgeber eine dem Umfang des Betriebes, der Zahl der Beschäftigen sowie dem Ausmaß und Grad der Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer entsprechende betriebsärztliche Betreuung einzurichten. Dies gilt auch für Unternehmungen, die mehrere Betriebe im Sinne dieses Bundesgesetzes umfassen oder die mehrere getrennte Arbeitsstellen aufweisen, in denen zwar jeweils weniger als 250, insgesamt jedoch mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt werden, wenn für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung besteht...

(2) Bei Betrieben, in denen auf Grund ihrer Eigenart für die Arbeitnehmer besondere Gefahren für die Gesundheit bestehen, hat das Arbeitsinspektorat bei einer geringeren Zahl von Arbeitnehmern dem Arbeitgeber durch Bescheid aufzutragen, innerhalb einer angemessenen Frist, die nicht mehr als sechs Monate betragen darf, eine entsprechende betriebsärztliche Betreuung einzurichten. Das Arbeitsinspektorat kann auf Antrag des Arbeitgebers, wenn es die betrieblichen Verhältnisse unter Berücksichtigung des Ausmaßes und des Grades der Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer sowie unter Berücksichtigung des Umfanges des Betriebes geboten erscheinen lassen, durch Bescheid zulassen, daß erst bei einer höheren Zahl als 250 Arbeitnehmer eine betriebsärztliche Betreuung einzurichten ist oder daß in Betrieben, in denen regelmäßig mehr als 750 Arbeitnehmer beschäftigt sind, die betriebsärztliche Betreuung nicht durch einen betriebseigenen Arzt erfolgt."

Aus der dargestellten Begründung des angefochtenen Bescheides geht hervor, daß die belangte Behörde davon ausging, die Beschwerdeführerin sei auf Grund des § 21 Abs. 1 erster Satz und des § 22 Abs. 1 erster Satz ASchG "ex lege" zur Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes und einer betriebsärztlichen Betreuung verpflichtet. Die belangte Behörde hat in diesem Zusammenhang offenbar die oben angeführten Bestimmungen des § 21 Abs. 1 zweiter Satz und des § 22 Abs. 1 zweiter Satz ASchG als für im Beschwerdefall nicht anwendbar erachtet, welche die erwähnten Verpflichtungen bei mehreren Betrieben oder mehreren getrennten "Arbeitsstellen" eines Unternehmens davon abhängig machen, daß jeweils für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung besteht.

Im Hinblick auf den dem vorliegenden Beschwerdefall zugrundeliegenden Sachverhalt vermag der Verwaltungsgerichtshof dieser Rechtsansicht der belangten Behörde allerdings nicht beizupflichten:

Wohl scheint die Anwendbarkeit der beiden erwähnten Bestimmungen des § 21 Abs. 1 und § 22 Abs. 1, jeweils zweiter Satz, ASchG bei dem dem vorliegenden Beschwerdefall zugrundeliegenden Sachverhalt auf den ersten Blick nicht gegeben, weil weder vom Vorliegen mehrerer "Betriebe" noch mehrerer getrennter "Arbeitsstellen" gesprochen werden kann. Insbesondere ist zum Begriff der "Arbeitsstelle" (vgl. in diesem Zusammenhang die hg. Erkenntnisse vom 3. April 1986, Zl. 86/08/0035, und vom 30. Mai 1989, Zl. 88/08/0184, § 1 Z. 5 AAV sowie die Hinweise bei Geppert, Arbeitsinspektion und Arbeitnehmerschutzrecht, S. 49 f und 164, und bei Felix-Merkl, Arbeitnehmerschutzgesetz, 5. Aufl., S. 34) hervorzuheben, daß eine solche dann nicht vorliegt, wenn der Arbeitnehmer - wie offenbar hier die in Rede stehenden Zeitungsausträger - nur ganz kurz an einem bestimmten Ort tätig ist.

Damit könnte die Rechtsansicht vertreten werden, daß in einem Fall wie dem vorliegenden eben allein die Bestimmungen des jeweils ERSTEN Satzes des § 21 Abs. 1 und § 22 Abs. 1 ASchG zur Anwendung gelangen und damit die Verpflichtung zur Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes und einer betriebsärztlichen Betreuung gegeben sei.

Der Verwaltungsgerichtshof vermag sich allerdings dieser Rechtsansicht im Hinblick auf die Systematik und den Sinngehalt der angeführten Rechtsvorschriften nicht anzuschließen, würde dies doch zu dem - sinnwidrigen - Ergebnis führen, daß die erwähnte Verpflichtung bei Vorliegen von mehreren getrennten Arbeitsstellen nur dann bestünde, wenn für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung vorliegt, jedoch diese Verpflichtung unabhängig von einer solchen Gefährdung gegeben wäre, wenn nicht einmal von "Arbeitsstellen" im Sinne des oben Gesagten ausgegangen werden kann. Vielmehr ist der Gerichtshof der Ansicht, daß im letztangeführten Fall die beiden erwähnten ZWEITEN Sätze des § 21 Abs. 1 und des § 22 Abs. 1 ASchG zur Anwendung gelangen. In beiden Fällen wäre es allerdings für die von der belangten Behörde als gegeben erachtete Verpflichtung zur Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes und einer betriebsärztlichen Betreuung erforderlich, daß für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung besteht. Feststellungen in dieser Hinsicht hat die belangte Behörde allerdings in Verkennung der Rechtslage unterlassen.

Gelangt die belangte Behörde zu dem Ergebnis, daß für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung besteht, dann kommt allerdings eine Befreiung nach § 21 Abs. 2 und § 22 Abs. 2, jeweils zweiter Satz, ASchG nicht in Betracht (vgl. das hg. Erkenntnis vom 8. Oktober 1987, Zl. 86/08/0112). Ergeben aber die Ermittlungen, daß keine besondere Gefährdung im Sinne des jeweils zweiten Satzes des § 21 Abs. 1 und § 22 Abs. 1 ASchG besteht, dann gehen die Anträge der Beschwerdeführerin ins Leere und wären daher mangels Vorliegen einer entsprechenden Verpflichtung zur Einrichtung eines sicherheitstechnischen Dienstes sowie einer betriebsärztlichen Betreuung zurückzuweisen.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben, ohne daß in das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991.

Das Mehrbegehren betreffend Ersatz von Stempelgebühren war abzuweisen, da die Beschwerde nur in zweifacher Ausfertigung einzubringen war.

Schlagworte

Beweiswürdigung Sachverhalt angenommener geklärter

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1992:1992180161.X00

Im RIS seit

11.07.2001
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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