TE Vwgh Erkenntnis 1992/10/20 90/08/0116

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Veröffentlicht am 20.10.1992
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
60/03 Kollektives Arbeitsrecht;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

ArbVG §79;
ASVG §357;
ASVG §413 Abs1 Z1;
ASVG §49 Abs1;
ASVG §49 Abs3 Z1 litc;
AVG §37;
AVG §38;
AVG §66 Abs2;
AVG §66 Abs4;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Händschke als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Werner, über die Beschwerde der Wiener Gebietskrankenkasse in Wien, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 9. Mai 1990, Zl. MA 14-K66/89, betreffend Beitragsnachverrechnung (mitbeteiligte Partei: K in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 29. September 1988 verpflichtete die beschwerdeführende Gebietskrankenkasse die mitbeteiligte Partei als Dienstgeber im Sinne des § 35 Abs. 1 ASVG für die in der Anlage namentlich genannten Dienstnehmer für die Zeit vom 1. Dezember 1984 bis 31. März 1988 Beiträge und Umlagen in der Gesamthöhe von S 78.016,12 zu entrichten. Nach der Begründung sei bei einer Beitragsprüfung festgestellt worden, daß der Mitbeteiligte an die in der Anlage angeführten Dienstnehmer Entfernungszulagen ausbezahlt habe. Diese Zulagen seien in der Höhe der Tages- und Nächtigungsgebühren für die Bundesbediensteten nach den Finanzamtssätzen anstatt des im § 49 Abs. 3 ASVG und im Kollektivvertrag für das Güterbeförderungsgewerbe Österreichs (in der Folge: Kollektivvertrag) als beitragsfrei deklarierten Betrages als beitragsfreies Entgelt behandelt worden. Der Kollektivvertrag enthalte folgende Bestimmungen:

"C Zulagen

1. Entfernungszulagen:

Als Abgeltung für den erhöhten Lebensaufwand bei Dienstleistungen außerhalb des Standortes des Betriebes wird eine Zulage als Tagesgebühr gewährt. Sie beträgt bei Arbeiten und Fahrten außerhalb des Standortes des Betriebes ohne Rücksicht auf die Entfernung in der ununterbrochenen Dauer von über fünf Stunden

S 71,-- für 1984

S 75,-- für 1985

S 79,-- für 1986

S 85,-- für 1987

S 87,-- für 1988

und über neun Stunden

S 110,-- für 1984

S 116,-- für 1985

S 122,-- für 1986

S 128,-- für 1987

S 131,-- für 1988

pro Mann. Im Falle einer Nächtigung außerhalb des Standortes gebührt ohne Rücksicht auf die Entfernung pro Mann eine Zulage von insgesamt

S 154,-- für 1984

S 163,-- für 1985

S 171,-- für 1986

S 177,-- für 1987

S 181,-- für 1988."

Aufgrund der "einwandfreien Bestimmungen" des Kollektivvertrages bestünde die Beitragsnachverrechnung zu Recht.

Der Mitbeteiligte erhob Einspruch, den er im wesentlichen damit begründete, daß die gewährten Vergütungen aufgrund einer BETRIEBSVEREINBARUNG bezahlt würden. Dabei handle es sich um Tages- und Nächtigungsgelder, die unter der Voraussetzung einer fünf- bzw. neunstündigen Abwesenheit im Rahmen des § 26 EStG gewährt würden.

Die belangte Behörde führte ein ergänzendes Ermittlungsverfahren durch, wobei auch eine mündliche Verhandlung anberaumt wurde. Dabei erklärte am 24. November 1989 eine Bedienstete des vom Beschwerdeführer beauftragten Steuerberaters, daß die Tages- und Nächtigungsgelder nach dem Kollektivvertrag für das Güterbeförderungsgewerbe Österreichs ausbezahlt worden seien. Alle Dienstnehmer des Mitbeteiligten seien im Inland beschäftigt.

Der Beitragsprüfer der beschwerdeführenden Kasse gab am 5. Dezember 1989 im wesentlichen an, daß im gegenständlichen Kollektivvertrag nur Entfernungszulagen geregelt seien. Regelungen hinsichtlich der Tages- und Nächtigungsgelder befänden sich nur in den "Erläuterungen" des Kollektivvertrages. Diese seien nach Ansicht der Kasse keineswegs Bestandteil des Kollektivvertrages.

Die belangte Behörde ersuchte daraufhin das Bundeseinigungsamt beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales um gutächtliche Äußerung, ob auch die in den "Erläuterungen" erwähnten Tages- und Nächtigungsgebühren im Inland den Rang eines Kollektivvertrages besäßen.

Mit Schriftsatz vom 22. Februar 1990 teilte das Bundeseinigungsamt der belangten Behörde mit, daß es folgende Rechtsansicht vertrete:

"1.

Für Inlandsreisen gebührt auf Grund des Kollektivvertrages vom 7. Jänner 1980, Ke 6/1980, in der Fassung des Kollektivvertrages vom 25. November 1982, Ke 391/1982, für die Zeit vom 1. Dezember 1984 bis 31. März 1988 gemäß Pkt. C der Entlohnungsordnung eine Entfernungszulage.

2.

Pkt. XVII der Erläuterungen ist kein Bestandteil des Kollektivvertages und legt daher keine kollektivvertragliche Mindestentlohnung bzw. keine Mindestentschädigung fest."

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Bescheid der beschwerdeführenden Gebietskrankenkasse gemäß § 66 Abs. 2 AVG behoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die Gebietskrankenkasse zurückverwiesen. Nach der Begründung handle es sich nach dem Gutachten des Bundeseinigungsamtes bei Punkt XVII der "Erläuterungen" zum Kollektivvertrag für das Güterbeförderungsgewerbe nicht um eine kollektivvertragliche Bestimmung im Sinne des § 49 Abs. 3 Z. 1 lit. b ASVG. Die mitbeteiligte Partei habe aber nunmehr die Gewährung der Vergütungen auf eine Betriebsvereinbarung und damit auf den Tatbestand des § 49 Abs. 3 Z. 1 lit. c ASVG zurückgeführt. Da nach der Aktenlage jedoch nur unzureichende Erhebungen darüber getroffen worden seien, ob die gegenständlich ausbezahlten Tages- und Nächtigungsgebühren tatsächlich auf einer vorhandenen Betriebsvereinbarung beruhten, sehe die belangte Behörde keine Möglichkeit, sich mit dem Einspruch der Sache nach auseinanderzusetzen, weshalb sich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Klärung der Sachlage als unumgänglich erweise.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes erhobene Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und ebenso wie der Mitbeteiligte eine Gegenschrift erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die beschwerdeführende Partei erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid dadurch in ihren Rechten verletzt, daß die belangte Behörde in der Sache nicht meritorisch entschieden habe. Sie verweist dabei im wesentlichen auf den Umstand, daß der Mitbeteiligte erst in seinem Einspruch das Vorhandensein einer Betriebsvereinbarung behauptet habe. Zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes habe die belangte Behörde selbst zwei mündliche Verhandlungen durchgeführt und eine Anfrage an das Bundeseinigungsamt beim Bundesminister für Arbeit und Soziales gerichtet. Die Behebung des Bescheide der Gebietskrankenkasse und die Zurückverweisung der Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG erweise sich daher bereits aus diesem Grunde als nicht gerechtfertigt.

Diesem Vorbringen kommt im Ergebnis Berechtigung zu.

Gemäß § 66 Abs. 1 AVG hat die Berufungsbehörde notwendige Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens durch die Behörde erster Instanz durchführen zu lassen oder selbst vorzunehmen.

Die Abs. 2 und 3 des § 66 AVG lauten:

"(2) Ist der der Berufungsbehörde vorliegende Sachverhalt so mangelhaft, daß die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, so kann die Berufungsbehörde den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde erster Instanz verweisen.

(3) Die Berufungsbehörde kann jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiemit ein Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist."

Ein auf § 66 Abs. 2 AVG gegründeter letztinstanzlicher Bescheid ist ein verfahrensrechtlicher Bescheid, der durch Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof bekämpft werden kann. Eine Verletzung von Rechten des Beschwerdeführers durch einen solchen aufhebenden Bescheid kann u.a. darin gelegen sein, daß die Berufungsbehörde von dieser Regelung mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen zu unrecht Gebrauch gemacht und keine Sachentscheidung erlassen hat (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes etwa das Erkenntnis vom 3. Dezember 1987, Zl. 87/07/0072, und die dort zitierte Vorjudikatur). Die staatlichen Behörden, die als Einspruchsbehörden nach dem ASVG tätig werden, haben u.a. auch § 66 Abs. 2 AVG zu handhaben (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 4. Juli 1985, Zl. 84/08/0092, und vom 29. Jänner 1987, Zl. 86/08/0243).

Die Mangelhaftigkeit des Verfahrens berechtigt die Berufungsbehörde gemäß § 66 Abs. 2 AVG nur dann zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides, wenn sich der Mangel nicht anders als mit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung beheben läßt. In allen anderen Fällen hat die Berufungsbehörde immer in der Sache selbst zu entscheiden und die dafür notwendigen Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens unter Heranziehung der Behörde erster Instanz oder selbst vorzunehmen, und zwar auch dann, wenn von der Vorinstanz kein Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde (vgl. das Erkenntnis vom 13. Jänner 1988, Zl. 87/03/0011). Einen zurückverweisenden Bescheid im Sinne des § 66 Abs. 2 leg. cit. muß entnommen werden können, welche Mängel bei der Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes im Verfahren vor der Unterbehörde unterlaufen und im Wege der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung zu beheben sind. Das bloße Auftauchen von Vorfragen als solches ist von § 66 Abs. 2 AVG tatbestandsmäßig nicht erfaßt und berechtigt die Berufungsbehörde daher für sich alleine nicht zur Zurückverweisung im Sinne dieser Gesetzesstelle (vgl. das Erkenntnis vom 12. Juni 1981, Zl. 3395/80).

Vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtslage ist nicht ersichtlich, daß die Frage, ob die gegenständlich ausbezahlten Tages- und Nächtigungsgebühren tatsächlich auf einer vorhandenen Betriebsvereinbarung (iS der §§ 79 ff des Arbeitsverfassungsgesetzes) beruhen oder ob dies nicht der Fall ist (wie in der Beschwerde behauptet wird), nur durch die Vornahme einer mündlichen Verhandlung (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 23. Mai 1985, Zl. 84/08/0085) geklärt werden kann. Das Vorhandensein einer Betriebsvereinbarung kann auch durch Vorlage entsprechender Dokumente nachgewiesen werden.

Im fortgesetzten Verfahren wird im übrigen zu berücksichtigen sein, daß § 49 Abs. 3 Z. 1 ASVG im beschwerdegegenständlichen Zeitraum (Dezember 1984 bis März 1988) unterschiedliche Fassungen aufweist.

Aus den dargelegten Erwägungen belastete die belangte Behörde ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes, weshalb dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.

Nur der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, daß die beschwerdeführende Gebietskrankenkasse dem Mitbeteiligten in ihrem Bescheid auch die Nachentrichtung von Wohnbauförderungsbeiträgen vorgeschrieben hat. Nach dem Erkenntnis vom 5. März 1991, Zl. 89/08/0147, fehlt jedoch der Gebietskrankenkasse die Zuständigkeit zu einer entsprechenden Bescheiderlassung.

Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordung BGBl. Nr. 104/1991.

Schlagworte

Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung VerfahrensmangelInhalt der Berufungsentscheidung Voraussetzungen der meritorischen Erledigung Zurückweisung (siehe auch §63 Abs1, 3 und 5 AVG)SondervereinbarungSachverhalt Sachverhaltsfeststellung RechtsmittelverfahrenHeilung von Verfahrensmängeln der Vorinstanz im Berufungsverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1992:1990080116.X00

Im RIS seit

20.10.1992

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2013
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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