TE Vfgh Erkenntnis 1991/3/13 G199/90

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Veröffentlicht am 13.03.1991
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Index

14 Organisationsrecht
14/02 Gerichtsorganisation

Norm

B-VG Art18 Abs1
ASGG §61 Abs1 Z2 idF BGBl 408/1990

Leitsatz

Aufhebung des §61 Abs1 Z2 ASGG idF BGBl 408/1990 wegen Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Prinzip; Verfassungswidrigkeit des Systems vorzeitiger Vollstreckbarkeit von Dienstnehmeransprüchen wegen Nichtberücksichtigung vom Regelfall abweichender Umstände

Spruch

Die Z2 im §61 Abs1 des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes, BGBl. Nr. 104/1985, in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 408/1990 wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 29. Feber 1992 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. A.1. Mit dem in zwei (zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen) Arbeitsrechtssachen gefällten Urteil vom 15. November 1989 stimmte das Kreisgericht Wiener Neustadt der Entlassung des Beklagten (der klagenden Partei der anderen Arbeitsrechtssache) zu, verpflichtete die beklagte Partei (die Klägerin der anderen Arbeitsrechtssache) zur Bezahlung von 292.752,89 S (brutto) sowie 1.912,90 S (netto) - samt Zinsen - und wies das Klagsmehrbegehren ab. Die zugesprochenen Beträge ergaben sich als Differenz vom tatsächlich ausbezahlten zum kollektivvertraglich zustehenden Gehalt sowie an Spesen. Das Oberlandesgericht Wien gab mit Urteil vom 30. Mai 1990 den Berufungen beider Streitteile nicht Folge. Das Verfahren über die von ihnen sodann ergriffenen Revisionen ist noch anhängig.

2. Gegen den bereits am 21. Mai 1990 gefaßten Beschluß des KG Wiener Neustadt, mit welchem dem Beklagten als betreibender Partei Fahrnisexekution zur Hereinbringung der aufgrund des Urteils vom 15. November 1989 vollstreckbaren Forderungen in der oben erwähnten Höhe (samt Anhang) bewilligt worden war, erhob die Klägerin als verpflichtete Partei Rekurs an das OLG Wien. Mit Beschluß vom 12. September 1990 unterbrach das Oberlandesgericht das Rekursverfahren und stellte unter Berufung auf Art89 Abs2 und 140 Abs1 B-VG den vorliegenden Antrag, Abs1 Z2 des - wie folgt lautenden - §61 des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes (ASGG), BGBl. 104/1985, (idF des ArtIX Z1 der Novelle BGBl. 408/1990) als verfassungswidrig aufzuheben:

"§61. (1) Die rechtzeitige Erhebung der Berufung gegen das erste Urteil des Gerichts erster Instanz hemmt nur den Eintritt der Rechtskraft, nicht jedoch den Eintritt der Verbindlichkeit der Feststellung, den der Rechtsgestaltungswirkung oder den der Vollstreckbarkeit in Rechtsstreitigkeiten

1. über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses und daraus abgeleitete Ansprüche auf das rückständige laufende Arbeitsentgelt;

2. über Ansprüche auf das bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses rückständige laufende Arbeitsentgelt;

3. über die Herausgabe der dem Arbeitnehmer bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses auszufolgenden Arbeitspapiere und herauszugebenden Gegenstände;

4. über die Zurückstellung der dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zur Ausübung der Arbeit zur Verfügung gestellten Gegenstände;

5. nach §50 Abs2.

(2) Das im Abs1 genannte Urteil wirkt, auch wenn es inzwischen aufgehoben oder durch ein anderes Urteil ersetzt worden ist, bis zur Beendigung des Verfahrens weiter, soweit die Parteien nichts anderes vereinbaren. Urteile nach Abs1 Z1 oder 2 wirken unbeschadet eines allfälligen Rückzahlungsanspruchs.

(3) Die Abs1 und 2 gelten nicht in besonderen Feststellungsverfahren nach §54 Abs1."

B. Das OLG Wien verweist in seinem Antrag auf die vom KG Wiener Neustadt aufgrund des Urteils vom 15. November 1989 bewilligte Fahrnisexekution sowie das dagegen erhobene Rechtsmittel und erklärt, Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der für seine Entscheidung relevanten Bestimmung des §61 Abs1 Z2 ASGG zu haben.

In Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche auf das bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses rückständige laufende Arbeitsentgelt (§61 Abs1 Z2 ASGG) hemme die rechtzeitige Erhebung der Berufung gegen das erste Urteil des Gerichtes erster Instanz nur den Eintritt der Rechtskraft, nicht jedoch den der Vollstreckbarkeit. Der Gesetzgeber des ASGG habe keine Bestimmung über die Zuerkennung einer aufschiebenden Wirkung einer gegen das erste Urteil des Gerichtes erster Instanz erhobenen Berufung in das Gesetz aufgenommen. Es fehle somit die Möglichkeit, dem Rechtsmittel eine hemmende Wirkung (vgl. §524 ZPO) zuzuerkennen. Die Regelung des §61 ASGG über die sofortige Vollstreckbarkeit lasse sich mit dem rechtsstaatlichen Prinzip nicht in Einklang bringen. Kuderna habe dies in seiner Abhandlung "Die sofortige Vollstreckbarkeit nach §61 ASGG" (DRdA 1988, S. 89 ff) in Anlehnung an das Erk. VfSlg. 11196/1986 ausführlich dargelegt. Auf diese Darstellungen werde verwiesen und hervorgehoben, daß ein effizienter Schutz vor der Durchsetzung eines unberechtigten Begehrens nicht gegeben sei, wenn der Beklagte die ihm mit dem noch nicht rechtskräftigen ersten Urteil des Gerichtes erster Instanz aufgetragenen Leistungen dem Kläger erbringen muß, obwohl über seine Berufung gegen das Urteil (oder die Revision gegen das bestätigende Urteil des Berufungsgerichtes) noch nicht entschieden worden und daher dessen Richtigkeit noch nicht gewährleistet sei. In einem solchen Fall werde der Beklagte generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell unrichtigen (rechtswidrigen) gerichtlichen Entscheidung solange belastet, bis über seine Berufung und gegebenenfalls über seine Revision im Sinne seiner Anträge, also im klagsabweisenden Sinn, entschieden worden ist. Darüber hinaus werde es dem Beklagten, wie die Erfahrung lehre, häufig nicht mehr oder nur mit erheblichem Aufwand an Zeit und Kosten sowie belastet mit den Nachteilen, die mit der fehlenden Verfügungsgewalt über die an den Kläger erbrachte Leistung oder die Pfändung von Fahrnissen verbunden sind, möglich sein, vom Kläger die Leistung aus dem Rechtsgrund des §1435 ABGB zurückzuerhalten oder schadlos gestellt zu werden.

Des weiteren legt das OLG Wien dar, weshalb nach seiner Auffassung §61 ASGG auch dem Gleichheitsgrundsatz widerstreitet.

C. Die Bundesregierung erstattete zum vorliegenden Antrag eine Äußerung, in der sie dessen Abweisung begehrt und - zu den unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Prinzips geltend gemachten Bedenken - folgendes ausführt:

"1. Das antragstellende Gericht sieht eine Parallele zwischen dem §61 ASGG und der Bestimmung des §254 BAO, BGBl. Nr. 194/1961, welche der Verfassungsgerichtshof mit dem oben zitierten Erkenntnis aufgehoben hat. Jene Gründe, welche zur Aufhebung dieser Bestimmung durch den Verfassungsgerichshof geführt hätten, würden auch eine Verfassungswidrigkeit des §61 ASGG dartun.

Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß der Vergleich mit dem Abgabenverfahren, den der Antrag im Auge hat, nicht zielführend ist.

Der Verfassungsgerichtshof hat in dieser Entscheidung nämlich nicht ausgesprochen, daß es schlechthin unzulässig sei, die Vollstreckbarkeit eines Urteils erster Instanz vorzusehen, wenn dieses Urteil durch ein Rechtsmittel noch bekämpft werden könne. Vielmehr erkannte der Gerichtshof, daß in diesen Fällen dem Gesetzgeber eine Güterabwägung zwischen den typischen Interessen der beteiligten Parteien aufgegeben ist, wobei er die Interessen des Rechtschutzsuchenden, den Zweck und Inhalt der Regelung, die Interessen Dritter sowie schließlich das öffentliche Interesse zu berücksichtigen hat. Sachliche triftige Gründe rechtfertigten eine Regelung, die Vollstreckbarkeit einer Entscheidung auch dann vorzusehen, wenn diese noch bekämpfbar sei.

Das Abgabenverfahren und das streitige arbeitsrechtliche Gerichtsverfahren sind nach Auffassung der Bundesregierung schon strukturell nicht vergleichbar. Im Abgabenverfahren entscheiden nämlich im wesentlichen dieselben weisungsgebundenen Organe des die Abgaben einhebenden Staates über die Abgabenpflicht, die Höhe der zu leistenden Abgaben sowie die Abgabeneintreibung.

Schon auf Grund dieser Entscheidungsstruktur verlangt das rechtsstaatliche Prinzip, daß der Rechtschutzsuchende im Abgabenverfahren und in damit vergleichbaren Verfahren nicht generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung solange belastet wird, bis sein Rechtschutzgesuch von dem die Abgaben verlangenden, darüber entscheidenden und diese auch einhebenden Organ des Staates endgültig erledigt worden ist.

Eine solche Funktionseinheit eines fordernden und gleichzeitig entscheidenden weisungsgebundenen Organs ist aber im gerichtlichen Verfahren über arbeitsrechtliche Streitigkeiten, also zwischen zwei im Prinzip Gleichgestellten - in der Regel dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer -, nicht gegeben: über deren widerstreitende Standpunkte entscheidet vielmehr ein völlig unbeteiligter, unabhängiger und weisungsfreier Richter und nicht - wie im Abgabenverfahren - ein weisungsgebundenes behördliches Organ. Das Verfahren nach der BAO, in dem ein Bürger einer Behörde gegenübersteht, ist also grundsätzlich von einem Verfahren vor dem Zivilgericht verschieden, das in Rechtsstreitigkeiten zwischen Bürgern angerufen wird.

Mit Rücksicht auf die damit verbundenen, auch im Interesse des Rechtschutzes gelegenen Garantien, welche bei der Entscheidung durch ein Gericht erfüllt sind, sind sohin die dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 11.12.1986, G119/86, zugrundeliegenden Erwägungen auf den gegenständlichen Fall nicht in gleicher Weise übertragbar (siehe hiezu auch die grundlegenden Erwägungen von Fasching, Verfassungskonforme Gerichtsorganisation, Gutachten für den 10. ÖJT I/3, 1988, 28ff).

Im Falle des §254 BAO hatte der Gesetzgeber, wie der Verfassungsgerichtshof im obzitierten Erkennntnis aussprach, eine Interessensabwägung zwischen dem Interesse der Gebietskörperschaften an regelmäßig fließenden Einnahmen gegenüber der Interessensposition des Abgabenschuldners, Einschränkungen auf sich zu nehmen, vorzunehmen. Im vorliegenden Fall ist diese Abwägung aber zwischen den Interessen des Arbeitnehmers, der vom Gericht erster Instanz Arbeitsentgelt zugesprochen erhalten hat, und den Interessen des beklagten Arbeitgebers, im Fall einer aufhebenden Entscheidung des Rechtmittelgerichts kein 'Rückforderungsrisiko' tragen zu müssen, vorzunehmen.

Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß der Gesetzgeber bei der Vornahme dieser Abwägung legitimerweise und verfassungskonform die erstgenannte Position bevorzugt und damit allein noch keine unsachliche Regelung getroffen hat!

2. Dies ergibt sich auch aus der Entstehungsgeschichte des §61

ASGG.

Die in Rede stehende Bestimmung des §61 Abs1 ASGG ist aus dem §86 der RV eines Sozialgerichtsgesetzes (7 BlgNR. XVI. GP) hervorgegangen.

In den Erläuterungen heißt es hiezu u.a.:

    'Wie schon ... näher dargelegt, vertragen

Arbeitsrechtsstreitigkeiten keinen langen Schwebezustand, keinen

Zustand der Unklarheit darüber, welcher Rechtsstandpunkt richtig

ist. Das gilt ... etwa auch für die vorläufige Zahlung eines

rückständigen Monatslohnes, weil der Arbeitnehmer davon seinen

Lebensunterhalt bestreiten muß ... Bisher hat sich bei den in die

Zuständigkeit des Einigungsamtes fallenden Angelegenheiten eine Klärung dadurch ergeben, daß gegen dessen Entscheidung kein ordentliches Rechtsmittel zulässig war; ...

Die (Z3 lita des Abs2) soll dem Arbeitnehmer den bereits verdienten - zur Bestreitung seiner Lebensführung notwendigen - aber vom Arbeitgeber zurückgehaltenen Lohn des letzten Monats sichern, den der Arbeitnehmer normalerweise im nächsten Monat zum Leben braucht ... Voraussetzung hiefür ist freilich, daß der Arbeitnehmer seinen Lohnanspruch bescheinigt. Wie auch sonst, ist die geleistete Lohnzahlung rückabzuwickeln, wenn sich aus der Entscheidung in der Hauptsache ergibt, daß kein Lohnzahlungsanspruch bestanden hat.'

Im Bericht des Justizausschusses zur RV eines Sozialgerichtsgesetzes (527 BlgNR. XVI. GP) heißt es zum §61 ASGG u. a.:

'Der Ausschuß ist der Meinung, daß das im §86 der Regierungsvorlage vorgesehene Modell einer besonderen einstweiligen Verfügung sehr kompliziert ist, das Hauptverfahren unter Umständen verzögert und im Ergebnis nicht den gewünschten Erfolg bringt. Der Ausschuß schlägt daher anstelle dieses Modells eine Regelung vor, nach der das erstinstanzliche Urteil die Rechtslage für die Dauer des gesamten Rechtsmittelverfahrens bis zur Rechtskraft festlegt.

Im einzelnen sieht diese Regelung folgendes vor:

1. In den im Gesetz (Abs1) ausdrücklich und abschließend angeführten Rechtsstreitigkeiten ist das Ersturteil, auch wenn dagegen Berufung erhoben wird, vollstreckbar.

2. Bei den hier angeführten Fällen handelt es sich vor allem um Rechtsstreitigkeiten über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses, also etwa über die Rechtswirksamkeit einer Kündigung oder Entlassung, und daraus abgeleitete Ansprüche über das rückständige laufende Arbeitsentgelt (Z1), über Ansprüche auf rückständiges laufendes Arbeitsentgelt überdies auch dann, wenn über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses kein Streit besteht, dieses vielmehr unstrittig beendet wird (Z2). Unter den Begriff 'laufendes Arbeitsentgelt' fallen z.B. nicht Ansprüche auf Abfertigung.'

Ergänzend sei hiezu noch ausgeführt, daß in dem in der Regierungsvorlage vorgeschlagenen Verfahren über einen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung der geltend gemachte Anspruch nur zu bescheinigen war; dagegen ist er im Falle der Entscheidung durch ein Urteil zu beweisen; damit ist eine ungleich höhere Richtigkeitsgarantie verbunden.

Das war mit ein Grund dafür, warum man im Rahmen der parlamentarischen Beratungen das Modell einer besonderen einstweiligen Verfügung (§86 der RV) durch das Modell des §61 ASGG ersetzt hat; die dadurch gewährleistete besondere Richtigkeitsgarantie hat es auch erlaubt, die Beschränkung auf einen Monatslohn fallen zu lassen.

3. Entscheidend für die unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Prinzips vom Verfassungsgerichtshof in seinem Erkennntis vom 11.12.1986, G119/86, geforderte Güterabwägung ist auch, daß die Arbeitskraft des Arbeitnehmers, jedenfalls bei Anlegung einer Durchschnittsbetrachtung, seine alleinige Erwerbsquelle, und das daraus gezogene 'laufende Arbeitsentgelt' seine einzige Lebensgrundlage ist. Fasching (op.cit. 32) sieht in 'dieser Interessenlage eine so potentielle Existenzbeeinträchtigung des Arbeitnehmers, daß im Regelfall sogar noch vor dem Rechtsstreit oder während desselben eine einstweilige Verfügung zur Sicherung dieser Ansprüche bewilligt werden müßte'. Es ist daher durchaus sachlich gerechtfertigt und angemessen, wenn der Gesetzgeber dieses Einkommen während des zwischen den Urteilen der Gerichte erster und zweiter Instanz liegenden Schwebezustandes besonders schützt. Im Vergleich dazu, kann bei Anlegung einer Durchschnittsbetrachtung wohl nicht angenommen werden, daß das Interesse des Arbeitgebers daran, während dieser Zeit das dem Arbeitnehmer zugesprochene Arbeitsentgelt nicht zu bezahlen, in ähnlich gravierender Weise seine Existenzgrundlage berührt.

Hiezu kommt noch, daß in den Fällen der Z1 und 2 des Abs1 des §61 ASGG das dem Arbeitnehmer vom Gericht erster Instanz zugesprochene Arbeitsentgelt sich auf bereits erbrachte Arbeitsleistungen gründet, also nur das 'rückständige laufende Arbeitsentgelt' betrifft; in diesen Fällen ist - bei Anlegung einer Durchschnittsbetrachtung - die Zahl jener Fälle wohl sehr gering einzuschätzen, in welchen das Urteil des Gerichtes erster Instanz derart revidiert wird, daß die Forderungen des Arbeitnehmers zur Gänze rückabzuwickeln sein werden.

Zudem liegt auch in einem solchen Fall die 'dauernde' Vorwegnahme einer Entscheidung für die Bereiche der Z1 und 2 des §61 Abs1 ASGG nicht vor, weil nach dem Abs2 des §61 ASGG der Arbeitnehmer verpflichtet ist, ein ihm vom erstgerichtlichen Urteil zu Unrecht zugesprochenes laufendes Arbeitsentgelt zurückzuzahlen. Der Umstand, daß es in den erfahrungsgemäß seltenen Fällen von unrichtigen erstgerichtlichen Urteilen vereinzelt zu Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Rückzahlungsanspruches des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer kommen kann, ändert an der Rechtsstaatlichkeit der Regelung schon deshalb nichts, weil es sich dabei - unter Heranziehung einer allgemeinen Betrachtungsweise - nur um eine Facette des generellen Problems der Durchsetzbarkeit uneinbringlicher Rückforderungsansprüche handelt.

Hiezu kommt noch, daß ein gutgläubiger Verbrauch durch den Arbeitnehmer im Hinblick auf die Streitanhängigkeit des Anspruches nach herrschender Auffassung nicht angenommen werden kann (Konecny, Wirkungen erstinstanzlicher Urteile in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten gemäß §61 ASGG, ZAS 1986, 155, 164; Schrank, Wichtige Anwendungsfragen zur vorläufigen Wirksamkeit erstinstanzlicher Urteile nach §61 ASGG, RdW 1987, 86, 92). Die Rückforderung des auf Grund eines in erster Instanz zu Unrecht zugesprochenen Anspruchs ist daher rechtlich gesichert.

Die Sicherung des Rückzahlungsanspruches auch in faktischer Hinsicht ergibt sich daraus, daß der Arbeitnehmer zur Sicherung seiner Lebensgrundlage in der Regel notwendigerweise gehalten ist, auch künftig einen Arbeitslohn zu verdienen, und er sich auf Grund des §294a EO einer Lohn- bzw. Gehaltsexekution kaum zu entziehen vermag.

4. Der Gesetzgeber hätte auch eine Bestimmung vorsehen können, wonach, unter Berücksichtigung der Interessen des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers einer Berufung gegen eine erstgerichtliche Entscheidung ausnahmsweise aufschiebende Wirkung zuerkannt werden könnte. Er hätte hiebei nichts an der grundsätzlichen Regelung ändern müssen, daß Berufungen in der Regel keine aufschiebende Wirkung haben. Eine solche Regelung würde nach Auffassung der Bundesregierung jedenfalls im Einklang mit dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 11.12.1986, G119/86 stehen. Die Bundesregierung ist aber auch der Auffassung, daß eine solche Ausnahmebestimmung gar nicht zum Tragen käme. Dies deshalb, weil es bei Anlegung einer Durchschnittsbetrachtung geradezu typisch ist, daß das - der Höhe nach in der Regel feststehende - laufende Arbeitsentgelt die Lebensgrundlage des Arbeitnehmers (und allenfalls auch das seiner Familie) bildet, sodaß die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Berufung des Arbeitgebers den Arbeitnehmer praktisch immer unverhältnismäßig stärker träfe, als das den Arbeitgeber treffende Risiko, ein schließlich zu Unrecht bezahltes Arbeitsentgelt nicht zurückzuerhalten. So würde eine Regelung, die etwa nach dem Muster des §412 Abs2 ASVG formuliert wäre, in einer derart geringen Anzahl von Fällen zur Anwendung kommen, daß diese nur mehr als 'Härtefälle' zu qualifizieren wären.

Der Gesetzgeber hat daher zu Recht die ihm vom rechtsstaatlichen Prinzip gebotene Güterabwägung bereits im Gesetz vorgenommen, wobei es gerade im Sinne der Rechtssicherheit liegt und der Vermeidung einer bloßen Verfahrensverzögerung dient, wenn kein gesondertes Verfahren über die Frage der Zuerkennung einer aufschiebenden Wirkung vorzunehmen ist.

5. Zusammenfassend ergibt sich somit mit Rücksicht auf den typischen Charakter des laufenden Arbeitsentgelts als Lebensgrundlage für den Arbeitnehmer und allenfalls für seine Familie, weiters im Hinblick auf die mit einem Urteil eines unabhängigen Gerichts verbundene Richtigkeitsgarantie, sowie schließlich mit Rücksicht auf die Rückzahlungsverpflichtung des Arbeitnehmers nach dem §61 Abs2 ASGG im Falle der Aufhebung des ersten erstgerichtlichen Urteils, daß die Z1 und 2 des §61 Abs1 ASGG sachlich gerechtfertigt und aus triftigen Gründen geboten sind. Sohin widersprechen sie auch nicht dem rechtsstaatlichen Prinzip. Dasselbe gilt auch für die Regelung des §61 Abs1 Z5 ASGG im Hinblick auf den besonderen Charakter betriebsverfassungsrechtlicher Streitigkeiten."

II. Der Antrag des OLG Wien ist, da sämtliche Prozeßvoraussetzungen gegeben sind, zulässig; er ist auch gerechtfertigt.

1. Der Verfassungsgerichtshof hält an seiner im Erk. VfSlg. 11196/1986 ausgesprochenen, von der Bundesregierung im grundsätzlichen nicht in Zweifel gezogenen Auffassung fest, daß es unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Prinzips nicht angeht, den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung solange zu belasten, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur seine Position, sondern auch Zweck und Inhalt der Regelung, ferner die Interessen Dritter sowie schließlich das öffentliche Interesse. Der Gesetzgeber hat - wie der Verfassungsgerichtshof im bezogenen Erkenntnis weiters darlegte - unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen, wobei aber dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfs der Vorrang zukommt und dessen Einschränkung nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig ist. Auf welche Weise dieser Ausgleich vom Gesetzgeber vorgenommen wird, läßt sich - wie der Gerichtshof aus den vorstehenden Ausführungen folgerte - nicht allgemein sagen.

Mit Rücksicht darauf, daß der Verfassungsgerichtshof seine eben wiedergegebenen Erwägungen aus Anlaß der verfassungsrechtlichen Beurteilung des §254 BAO (im damaligen normativen Zusammenhang) anstellte, nimmt die Bundesregierung an, daß diese Erwägungen wegen des strukturellen Unterschieds zwischen einem Abgabenverfahren und einem streitigen arbeitsrechtlichen Gerichtsverfahren auf dieses nicht "übertragbar" seien. Diese Ansicht beruht jedoch auf einer unzutreffenden Prämisse. Die in Rede stehende Aussage des Erk. VfSlg. 11196/1986 ist unmittelbar aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen abgeleitet und betrifft daher den Rechtsschutz in allen Arten behördlicher Verfahren. Der Verfassungsgerichtshof vermag der Bundesregierung nur mit der Modifikation beizutreten, daß sich eine gleichsam schematische Übertragung jener Schlußfolgerungen auf das gerichtliche Verfahren in Arbeitsrechtssachen verbietet, welche der Verfassungsgerichtshof aus seinen allgemeinen, grundsätzlichen Erwägungen in Ansehung der Besonderheiten des Abgabenverfahrens für den §254 BAO gezogen hat. Es hat vielmehr eine eigenständige Wertung bezüglich der Vollstreckbarkeit in erster Instanz erstrittener Dienstnehmeransprüche im Sinne der Z2 im §61 Abs1 ASGG unter Zugrundelegung der im Erk. VfSlg. 11196/1986 herausgestellten Kriterien stattzufinden, deren Ergebnis - wie zur Vermeidung von Mißverständnissen bemerkt sei - in keiner Richtung für die Beurteilung der übrigen Ziffern im §61 Abs1 leg.cit., insbesondere der Z1, maßgebend ist. Bei der vorzunehmenden Wertung fallen einerseits die Schutzwürdigkeit der sozialen Lage des (früheren) Dienstnehmers, die Funktion des Arbeitsentgelts zur Existenzsicherung des Dienstnehmers und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen sowie der Umstand ins Gewicht, daß der (frühere) Dienstnehmer nach einer vorzeitigen Vollstreckung gegebenenfalls (nämlich bei endgültigem Unterliegen im Rechtsstreit) mit einer erheblichen Rückzahlungsverpflichtung belastet sein kann. Dem stehen andererseits die vorzeitige Leistungspflicht des (früheren) Dienstgebers sowie sein Risiko gegenüber, die vorzeitige Leistung im Fall des endgültigen Obsiegens in der Arbeitsrechtssache nicht zurückzuerhalten. Von Bedeutung ist im gegebenen Zusammenhang allerdings auch, daß die der Vollstreckung zugrundeliegende Entscheidung von einem Gericht, also einer voraussetzungsgemäß über den Interessen der Streitparteien stehenden, weisungsfreien Behörde getroffen wird. Faßt man diese Umstände zusammen und wägt sie gegeneinander ab, so ergibt sich, daß zwar gegen die vorzeitige Vollstreckbarkeit eines nicht rechtskräftigen Urteils an sich keine Bedenken bestehen; die zusammengefaßten Momente können aber die geschaffene Rechtslage in deren konkreter Ausformung nicht rechtfertigen, weil sie bloß auf den Regelfall der besonders schützenswerten Lage des Dienstnehmers passen, nicht aber auf hievon abweichende, jedoch keineswegs als selten zu vernachlässigende Ausnahmsfälle. In dieser Beziehung sei beispielsweise angeführt, daß der Dienstnehmer (- dessen allgemeine soziale Situation überhaupt zu berücksichtigen ist -) bereits ein neues Dienstverhältnis begründet hat, welches seinen Lebensunterhalt auf dem bisherigen Standard sichert, daß das gleiche Ergebnis durch eine Pensionsleistung nach Übertritt in den Ruhestand bewirkt wird oder daß der zugesprochene Betrag aus dem früheren Dienstverhältnis (auch) aus der Sicht des Dienstnehmers geringfügig ist.

Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs erlauben derartige vom Regelfall abweichende Fallgestaltungen nicht die Schaffung eines Systems vorzeitiger Vollstreckbarkeit, das die Berücksichtigung und Abwägung vom Regelfall abweichender Umstände zum Nachteil eines faktisch effizienten Rechtsschutzes vorbehaltlos ausschließt.

III. §61 Abs1 Z2 ASGG war aus den dargelegten Gründen als verfassungswidrig aufzuheben, sodaß es entbehrlich erschien, auf die weiteren, unter dem Aspekt des Gleichheitsgebotes geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken des Oberlandesgerichtes Wien einzugehen.

Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG.

Der Ausspruch, daß frühere Gesetzesbestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG.

IV. Diese Entscheidung wurde gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne vorangegangene mündliche Verhandlung getroffen.

Schlagworte

Grundprinzipien der Verfassung, Rechtsstaatsprinzip, Rechtsschutz, Arbeitsverfassung, Arbeits- u Sozialgerichtsbarkeit, Vollstreckbarkeit (Dienstnehmeransprüche)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:G199.1990

Dokumentnummer

JFT_10089687_90G00199_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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