TE Vfgh Erkenntnis 1992/6/22 G3/92

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Veröffentlicht am 22.06.1992
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Index

32 Steuerrecht
32/01 Finanzverfahren, allgemeines Abgabenrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
BAO §207 Abs2
BAO §304

Leitsatz

Gleichheitswidrigkeit des Ausschlusses der Wiederaufnahme eines Verfahrens auf Antrag einer Partei nach Eintritt der Verjährung gemäß §304 BAO

Spruch

§304 der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 1992 in Kraft.

Frühere Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

Die Bundesabgabenordnung, BGBl. 194/1961, läßt die Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens auf Antrag einer Partei nur in bestimmten, in §303 Abs1 aufgezählten Fällen zu. Der Antrag ist nach §303 Abs2 binnen einer Frist von drei Monaten von dem Zeitpunkt an einzubringen, in dem der Antragsteller nachweislich von dem Wiederaufnahmsgrund Kenntnis erlangt hat. Sodann bestimmt §304 BAO:

"Nach Eintritt der Verjährung ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens ausgeschlossen, sofern ihr nicht ein vor diesem Zeitpunkt eingebrachter Antrag gemäß §303 Abs1 zugrunde liegt."

Die Verjährungsfrist beträgt nach §207 Abs2 BAO je nach Art der Abgabe ein Jahr, drei Jahre oder fünf Jahre, bei hinterzogenen Abgaben zehn Jahre. Mit Ablauf des Jahres, in dem eine zur Geltendmachung des Abgabenanspruches oder zur Feststellung des Abgabepflichtigen von der Abgabenbehörde unternommene, nach außen erkennbare Amtshandlung gesetzt - insbesondere auch: der Bescheid erlassen - wurde, beginnt die Verjährung nach §209 Abs1 BAO neu zu laufen.

1. Unter Hinweis auf §304 BAO wird mit dem beim Verfassungsgerichtshof zu B1342/90 angefochtenen Berufungsbescheid ein Antrag der Beschwerdeführerin vom 30. Juli 1990 auf Wiederaufnahme eines mit Bescheid vom 5. November 1982 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zur Veranlagung der Einkommensteuer für 1981 zurückgewiesen, worin sie behauptete, es habe sich wegen Nichtzustandekommens des in Aussicht genommenen Geschäftes nach Erlassung des Bescheides herausgestellt, daß der Veräußerungsgewinn niedriger sei als angenommen. Die durch den Einkommensteuerbescheid bis zum Ende des Jahres 1982 unterbrochen gewesene Verjährungsfrist von fünf Jahren für die Einkommensteuer habe mit Ablauf des Jahres 1987 geendet. Damit sei das Recht, eine Abgabe festzusetzen, erloschen, sodaß selbst bei Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes, ja sogar im Falle der materiellen Unrichtigkeit der Abgabenfestsetzung keine Änderung finanzbehördlicher Akte mehr erfolgen könne.

Der gegen diesen Bescheid wegen Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Unversehrtheit des Eigentums und ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter sowie Rechtsverletzung wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes erhobenen Beschwerde begegnet die belangte Behörde mit dem Einwand, die Beschwerdeführerin habe nichts vorgebracht, was überhaupt eine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen würde, sodaß es dahingestellt bleiben könne, ob die Begrenzung der Möglichkeit der Wiederaufnahme mit dem Eintritt der Verjährung verfassungsmäßig sei.

2. Aus Anlaß dieses Beschwerdeverfahrens hat der Verfassungsgerichtshof von Amts wegen die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §304 BAO beschlossen. Da die belangte Behörde sich im angefochtenen Bescheid nicht auf eine Würdigung der vorgebrachten Wiederaufnahmsgründe eingelassen, sondern die Befassung mit dem Antrag unter Hinweis auf die eingetretene Verjährung von vornherein abgelehnt hat, ist er vorläufig davon ausgegangen, daß er bei Entscheidung über die Beschwerde §304 BAO anzuwenden hätte. Gegen diese Bestimmung sind aber - ohne Rücksicht auf die Frage, ob sich dieser Umstand auf den Beschwerdefall im Ergebnis auswirkt - Bedenken wegen Verletzung des Gleichheitssatzes entstanden.

Zu ihrer Rechtfertigung führe - wie der Prüfungsbeschluß darlegt - Stoll, Bundesabgabenordnung, Handbuch, 1980, 730 nämlich folgendes ins Treffen:

"§304 erster Halbsatz ist deswegen sinnvoll, weil - bestünde keine (zur 'subjektiven' Frist des §303 Abs2 hinzutretende) zeitliche Begrenzung dieser Art für die Wiederaufnahme - nach verfügter bzw. angeordneter Wiederaufnahme im anschließenden Verfahren betreffend die Sachbescheide, die Abgabenfestsetzungen zum Gegenstand haben, die Verjährung jedenfalls wirksam wäre. Wenn aber eine Erlassung der Sachbescheide nicht mehr möglich ist, soll der Rechtsbestand von vornherein unangetastet bleiben."

Der Gerichtshof nahm vorläufig an, daß §304 BAO allein von dieser Überlegung getragen wird. Eine absolute Wiederaufnahmefrist nach Art des §534 Abs3 ZPO dürfe schon deshalb nicht vorliegen, weil die Verjährungsfrist nach §207 BAO je nach der Art der Abgabe und dem Festsetzungsgrund von einem bis zu zehn Jahren differierten und jedenfalls eine einjährige, wohl aber auch eine drei- oder fünfjährige Frist für die Geltendmachung etlicher Wiederaufnahmsgründe (§303 Abs1) wie z.B. die Herbeiführung eines Bescheides durch eine gerichtlich strafbare Tat (lita) oder die abweichende Vorfragenentscheidung durch die hiefür zuständige Behörde (litc) ohne den Gesichtspunkt der Unmöglichkeit einer Abgabenfestsetzung nach Ablauf der Verjährungsfrist unerklärlich sei.

Es scheine aber, daß dieses Anliegen in §304 BAO zu einer überschießenden Reaktion geführt habe. Der Gefahr des Verlustes des Abgabenanspruchs durch eine nach Ablauf der Verjährungsfrist zu bewilligende Wiederaufnahme des Verfahrens könne auch durch eine Vorschrift begegnet werden, die es der Behörde erlaubt, die Abgabe im wiederaufgenommenen Verfahren neuerlich bis zur selben Höhe festzusetzen, in der sie vor der Wiederaufnahme festgesetzt war. So begnüge sich etwa §209a BAO mit der Feststellung, daß einer Abgabenfestsetzung, die in einer Berufungsentscheidung zu erfolgen hat, der Eintritt der Verjährung nicht entgegenstehe. Die gewiß wünschenswerte Begrenzung der Notwendigkeit einer Aufbewahrung von Akten des Abgabenverfahrens scheine nach den Erfahrungen des Gerichtshofes eine derart rigorose Beschränkung der Möglichkeit der Wiederaufnahme auf Antrag einer Partei in zeitlicher Hinsicht nicht zu rechtfertigen. Der für die amtswegige Wiederaufnahme durch die Abgabenbehörde praktisch wichtigste Fall sei durch die selbst bei sonst einjähriger Verjährungsfrist geltende zehnjährige Frist für hinterzogene Abgaben im Ergebnis berücksichtigt. Es scheine dem Verfassungsgerichtshof daher unsachlich, wenn die Wiederaufnahme auf Antrag einer Partei demgegenüber ohne Rücksicht auf den Wiederaufnahmsgrund immer mit der ein-, drei- oder fünfjährigen Verjährungsfrist begrenzt sei.

3. Die Bundesregierung hat von der Erstattung einer Äußerung in der Sache abgesehen; sie stellt den Antrag, für das Außerkrafttreten eine Frist von einem Jahr zu bestimmen.

II. Das Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig.

Es ist nichts hervorgekommen, was an der Zulässigkeit der Beschwerde im Anlaßfall und der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen sind gegeben.

III. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes sind auch begründet. §304 BAO verstößt gegen den Gleichheitssatz.

Das Verfahren hat die im Prüfungsbeschluß dargelegten Bedenken nicht zerstreut:

Aufgabe der in Prüfung gezogenen Bestimmung ist einzig und allein zu verhindern, daß nach Bewilligung einer Wiederaufnahme des Verfahrens eine Abgabe wegen Verjährung des Anspruchs nicht mehr festgesetzt werden kann. Über dieses - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende - Ziel schießt die Regelung jedoch hinaus. Anstatt der Behörde bloß die neuerliche Festsetzung der Abgabe bis zum ursprünglichen Ausmaß zu ermöglichen, schließt sie nämlich die Wiederaufnahme des Verfahrens auf Antrag der Partei schon nach Ablauf von einem, drei oder fünf Jahren nach Erlassung des Bescheides überhaupt aus. Für eine derartige Einschränkung des Rechtes, Wiederaufnahme des Verfahrens zu begehren, findet sich keine sachliche Begründung.

Die in Prüfung gezogene Bestimmung ist folglich als verfassungswidrig aufzuheben.

Ob sich aus jener Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach trotz Bemessungsverjährung eine Herabsetzung der vorläufig festgesetzten Abgabenschuld in einem endgültigen Bescheid möglich sei (VwGH Zl. 83/17/0163 vom 16. November 1984), auch ableiten läßt, daß die Bemessungsverjährung einer Herabsetzung der Abgabenschuld ganz allgemein nicht entgegensteht, sodaß nach Aufhebung des §304 BAO eine Regelung nach dem Muster des §209a Abs1 BAO entbehrlich ist (Ch.Bibus in ihrem Hinweis auf das Prüfungsverfahren im RdW 1992, 125 f), kann dahingestellt bleiben. Die Fristsetzung (Art140 Abs5 B-VG) soll dem Gesetzgeber jedenfalls eine Klärung der Rechtslage durch Neuregelung ermöglichen.

Eine Erweiterung der Befugnisse der Behörde zulasten des Abgabepflichtigen hat die Aufhebung des §304 BAO angesichts der Verjährung keinesfalls zur Folge.

Die Kundmachungsverpflichtung stützt sich auf Art140 Abs5 B-VG, der Ausschluß des Inkrafttretens früherer Vorschriften auf Art140 Abs6 B-VG. Da von einer mündlichen Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten war, hat der Gerichtshof von einer mündlichen Verhandlung abgesehen.

Schlagworte

Finanzverfahren, Wiederaufnahme, Verjährung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1992:G3.1992

Dokumentnummer

JFT_10079378_92G00003_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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