TE Vfgh Erkenntnis 2021/6/17 E3728/2020

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Veröffentlicht am 17.06.2021
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Index

10/11 Vereins- und Versammlungsrecht

Norm

EMRK Art11
VersammlungsG §6
VfGG §7 Abs1
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Versammlungsfreiheit durch Untersagung mehrerer Versammlungen zum Thema "autofreier Hauptplatz" in Linz mangels Abwägung des Interesses an der Abhaltung der Versammlung gegenüber den Interessen Dritter

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Mit Eingabe vom 20. Juli 2020 zeigte der Beschwerdeführer der Landespolizeidirektion Oberösterreich mehrere Versammlungen zum Thema "autofreier Hauptplatz" in Linz an, und zwar für den 27. und 28. Juli 2020 von jeweils 16 Uhr bis 20.30 Uhr, und für den 29. und 30. Juli 2020 jeweils von 16 Uhr bis 19 Uhr, an allen vier Tagen in der Theatergasse, Höhe Bushaltestelle Theatergasse bzw Höhe Landhauspark direkt gegenüber dem Landestheater auf der Fahrbahn, sowie für den 31. Juli 2020 von 15 Uhr bis 16.30 Uhr am Hauptplatz vor dem Alten Rathaus auf der Fahrbahn.

Am 23. Juli 2020 fand eine Besprechung der Landespolizeidirektion Oberösterreich mit dem Beschwerdeführer statt, in der ua vereinbart wurde, alle Fahrzeuge durchzulassen, die unter die Verordnung des Magistrates Linz zum Probebetrieb eines autofreien Hauptplatzes fielen (Taxis, Radfahrer, Busse, gewerblicher Lieferverkehr, Ladetätigkeiten, Anrainer, Apothekennotdienst, Hotelgäste, Zufahrt zu den Behindertenparkplätzen).

Die für den 27. und 28. Juli 2020 angezeigten Versammlungen fanden unter Beobachtung durch Beamte der Landespolizeidirektion Oberösterreich, die den Beschwerdeführer während der Kundgebungen wiederholt darauf hinwiesen, dass aus ihrer Sicht der Sinn und Zweck erreicht sei, und zur Zurückziehung der weiteren angezeigten Versammlungen zu bewegen suchten, der Anzeige entsprechend statt; an ihnen nahmen am 27. Juli 2020 zirka 30 Personen und am 28. Juli 2020 zunächst vier bis sechs, später zehn bis 15 Personen teil.

Durch die am 27. und 28. Juli 2020 – mit geringer Teilnehmeranzahl – durchgeführten Versammlungen entstanden im Linzer Stadtgebiet keine wesentlichen Verkehrsbeeinträchtigungen.

2. Mit Bescheid vom 29. Juli 2020 untersagte die Landespolizeidirektion Oberösterreich die für den 29., 30. und 31. Juli 2020 angezeigten Versammlungen und schloss die aufschiebende Wirkung einer allfälligen Beschwerde wegen Gefahr im Verzug aus.

Dies im Wesentlichen mit dem Argument, dass durch die angezeigten Versammlungen der Blockadezweck deutlich werde und sich nicht mehr mit dem Versammlungszweck decke, sondern durch "die mehrfache Wiederholung" eine unzulässige Blockade darstelle. Das Verhalten stelle eine "reine Provokation durch Aktivisten" dar, das Versammlungsrecht werde in unzulässiger Weise missbraucht. Eine Untersagung sei zum Schutz der Rechte anderer gemäß Art11 Abs2 EMRK erforderlich.

3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich mit angefochtenem Erkenntnis vom 11. September 2020 ab. Begründend führte das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich wörtlich ua Folgendes aus:

"Im Rahmen der gebotenen Prognoseentscheidung ist davon auszugehen, dass die mehrtägige und mehrstündige Blockade der Zufahrt bzw Durchfahrt zum und über den Linzer Hauptplatz die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs stark spürbar beeinträchtigt haben würde. Dies gilt sowohl für den intendierten Versammlungsort im Bereich der Theatergasse als auch für die Kundgebung am Hauptplatz selbst. Die Beeinträchtigung ist – der belangten Behörde folgend – hier vor allem in der unverhältnismäßig langen Dauer zu sehen, deren Ausmaß eine beinahe einwöchige Sperre der Zu- und Durchfahrt zu verkehrsintensiven Tageszeiten provoziert haben würde. Für den moderaten Zugang der belangten Behörde spricht der Umstand, dass an zwei Tagen die Versammlung, die im Übrigen auf nur geringes Interesse bei Aktivisten (weit weniger als die angemeldeten 30 Personen) stieß, dafür aber die offensichtlich intendierte Verkehrsblockade zur Entfaltung brachte, durchgeführt werden konnte. Dass es den Veranstaltern weniger um das verfassungsmäßig gewährleistete Grundrecht der Meinungsäußerung und der Versammlungsfreiheit ging, als um die effektive Verkehrsbehinderung, zeigt sich daran, dass die Abhaltung der Versammlung auf öffentlichen Flächen, die im absoluten Nahebereich gelegen, zwar der Publizität zugänglich gewesen wären, wie etwa der Landhauspark oder auch der Fußgängern vorbehaltene Teil des Hauptplatzes, als Versammlungsorte abge[…]lehnt wurden, obwohl diese mehr als ausreichend gewesen wären, um die doch eher spärliche (erwartete) Teilnehmerzahl aufzunehmen. Es ging hier weniger um eine Meinungsäußerung, in Form des Wunsches nach einem autofreien Hauptplatz, sondern um die Defactoerzwingung dieser Meinung entgegen den herrschenden verkehrsrechtlichen Bedingungen.

Diesbezüglich erscheint der Eingriff in die Meinungsfreiheit im Sinn des Art11 Abs2 EMRK grundsätzlich als zwingend erforderlich.

Weiters ist in Art11 Abs2 der Schutz der Interessen Dritter verankert. Die dauerhafte Blockade von innerstädtischen Verkehrsverbindungen ist fraglos dazu geeignet, um in Rechte und Interessen Dritter einzugreifen, nämlich der Verkehrsteilnehmer, die zur zeitintensiven Benutzung von Ausweichrouten gezwungen werden; nicht zuletzt bedeutet dies auch eine unverhältnismäßige Umweltbelastung. Auch aus diesem Grund ist – im Hinblick auf die intendierte Dauer und Häufigkeit der Kundgebungen ein behördlicher Eingriff im Sinn des Art11 Abs2 als grundsätzlich zulässig zu erachten.

Eine Untersagung muss jedoch auch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung Stand halten.

[…] Zum einen geht es im Rahmen dieser Interessensabwägung um das Interesse seine Meinung nach einem autofreien Hauptplatz zu äußern; zum anderen muss wiederholt darauf hingewiesen werden, dass die Meinungsäußerung per se, angesichts der Häufigkeit und Dauer der Kundgebungen, in den Hintergrund tritt, da klar ersichtlich die Zeit und Örtlichkeit so gewählt waren, dass das Ziel des autofreien Hauptplatzes durch die Versammlungen selbst schon realisiert und erzwungen werden sollte. Dies aber lässt nicht nur erhebliche Zweifel am Charakter der 'Versammlungen' als solche im Sinn des Art11 Abs1 EMRK liegend aufsteigen, sondern stärkt auch die Bedeutung der oben angeführten Interessen am Schutz der öffentlichen Ordnung.

Im Erkenntnis VfSlg 19.852/2014 hatte der Verfassungsgerichtshof auf eine Verletzung der Versammlungsfreiheit durch Untersagung der Versammlung 'Autofreier Tag 2011' auf der Wiener Ringstraße erkannt und die Prognose über die zu erwartenden Verkehrsbeeinträchtigungen für die Untersagung als nicht ausreichend erachtet.

Im Unterschied zum dort zu beurteilenden Sachverhalt handelt es sich gegenständlich nicht um eine konzentrierte Meinungsäußerung im Rahmen einer Versammlung, sondern um eine zeitlich völlig unverhältnismäßige Durchsetzung de facto eines verkehrspolitischen Ziels.

Nicht die Versammlungen per se oder deren Ziel, sondern die Wahl deren zeitlichen Ausmaßes und Örtlichkeit sind im Ergebnis dafür ausschlaggebend, dass im Rahmen der Interessensabwägung keine Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs erkannt werden kann. Eine Modifikation des Antrags von Seiten der Behörden war rechtlich nicht zulässig. [E]ine Abänderung durch den Bf wurde von ihm abgelehnt.

[…] Im Ergebnis überwiegen die im Art11 Abs2 EMRK genannten Interessen das Interesse an der mehrtägigen Abhaltung der angezeigten Versammlungen i[n] Form einer Blockade der Zu- und Durchfahrt zum und über den Hauptplatz der Landeshauptstadt Linz.

Ein gegenüber der Untersagung gelinderes Mittel zum Schutz der genannten Rechtsgüter kam – wie oben dargestellt – nicht in Betracht, zumal der Bf nicht bereit war, entsprechenden Vorschl[ä]gen näherzutreten."

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Versammlungsfreiheit, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich und die Landespolizeidirektion Oberösterreich haben die Gerichts- bzw Verwaltungsakten vorgelegt und jeweils von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

1. Art11 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), BGBl 210/1958, idF BGBl III 30/1998 lautet:

"Artikel 11 – Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

(1) Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen, einschließlich des Rechts, zum Schutze ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten.

(2) Die Ausübung dieser Rechte darf keinen anderen Einschränkungen unterworfen werden als den vom Gesetz vorgesehenen, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Dieser Artikel verbietet nicht, daß die Ausübung dieser Rechte durch Mitglieder der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung gesetzlichen Einschränkungen unterworfen wird."

2. §6 des Versammlungsgesetzes 1953, BGBl 98, idF BGBl I 63/2017 lautet wie folgt:

"§6. (1) Versammlungen, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft oder deren Abhaltung die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet, sind von der Behörde zu untersagen.

(2) Eine Versammlung, die der politischen Tätigkeit von Drittstaatsangehörigen dient und den anerkannten internationalen Rechtgrundsätzen und Gepflogenheiten oder den völkerrechtlichen Verpflichtungen, den demokratischen Grundwerten oder außenpolitischen Interessen der Republik Österreich zuwiderläuft, kann untersagt werden.

"

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Ein Eingriff in das durch Art11 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende Entscheidung ohne Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art11 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet wurde; ein solcher Fall liegt vor, wenn die Entscheidung mit einem so schweren Fehler belastet ist, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise ein verfassungswidriger, insbesondere ein dem Art11 Abs1 EMRK widersprechender und durch Art11 Abs2 EMRK nicht gedeckter Inhalt unterstellt wurde (vgl zB VfSlg 19.961/2015, 19.962/2015).

§6 Versammlungsgesetz 1953 sieht vor, dass Versammlungen, deren Zweck den Strafgesetzen zuwiderläuft oder deren Abhaltung die öffentliche Sicherheit oder das öffentliche Wohl gefährdet, von der Behörde zu untersagen sind. Für die Auflösung der Versammlung selbst und mehr noch für eine auf §6 Versammlungsgesetz 1953 gestützte Untersagung im Vorfeld des Stattfindens einer Versammlung ist (ebenso wie bei der Frage, ob eine Versammlung iSd Art11 EMRK vorliegt) eine strengere Kontrolle geboten. Diese Maßnahmen beeinträchtigen die Freiheit der Versammlung in besonders gravierender Weise und berühren den Kernbereich des Grundrechts. Sie sind daher nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der in Art11 Abs2 EMRK genannten Ziele zwingend notwendig sind, sodass die Untersagung einer Versammlung stets nur ultima ratio sein kann (vgl zB VfSlg 19.961/2015, 19.962/2015).

3. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat die Entscheidung, mit der die angezeigten Versammlungen untersagt wurden, auf §6 Versammlungsgesetz 1953 gestützt. Diese Bestimmung ist angesichts des materiellen Gesetzesvorbehalts in Art11 Abs2 EMRK im Einklang mit dieser im Verfassungsrang stehenden Bestimmung zu interpretieren.

Dabei hatte das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich bei seiner Entscheidung die Interessen der Veranstalter an der Abhaltung der Versammlungen in der geplanten Form gegen die in Art11 Abs2 EMRK aufgezählten Interessen am Unterbleiben der Versammlungen abzuwägen. Diese Entscheidung ist eine Prognoseentscheidung, die das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich auf Grundlage der von ihm festzustellenden, objektiv erfassbaren Umstände in sorgfältiger Abwägung zwischen dem Schutz der Versammlungsfreiheit und den von der Behörde wahrzunehmenden öffentlichen Interessen zu treffen hat (vgl VfSlg 19.852/2014, 19.962/2015).

4. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich nicht gerecht:

4.1. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich geht im Rahmen der gebotenen Prognoseentscheidung zunächst davon aus, dass "die mehrtägige und mehrstündige Blockade der Zufahrt bzw Durchfahrt zum und über den Linzer Hauptplatz die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs stark spürbar beeinträchtigt haben würde".

Vorauszuschicken ist, denn davon scheint das erkennende Landesverwaltungsgericht Oberösterreich implizit auszugehen, dass zeitlich aufeinanderfolgende Versammlungen, die jeweils für den gleichen Versammlungsort angezeigt werden und im Ergebnis am Versammlungsort für diese Zeiträume eine Blockade entfalten, ungeachtet dessen auch am Maßstab des verfassungsrechtlich gewährleisteten Versammlungsrechts zu beurteilen sind (vgl VfSlg 20.275/2018; VfGH 9.3.2021, V433/2020). Insofern ist es im Zuge der Beurteilung zwar bei einer Gesamtbetrachtung naheliegend, die "Gesamtaktion" zu betrachten, jedoch ist bei der Beurteilung der Anzeige dennoch die jeweilige Versammlung, also hier jene vom 29., 30. und 31. Juli 2020, gesondert zu beurteilen.

Wenn nun das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich eingangs unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 28. September 1989 zu B577/89 (VfSlg 12.155/1989) im Rahmen der Prognoseentscheidung zum Ergebnis kommt, dass eine "mehrtägige und mehrstündige Blockade der Zufahrt bzw Durchfahrt zum und über den Linzer Hauptplatz die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs stark spürbar beeinträchtigt haben würde", ist vorerst festzuhalten, dass diese Behauptung gerade nicht mit dem vom Landesverwaltungsgericht Oberösterreich selbst festgestellten Sachverhalt vereinbar ist:

Ausweislich der Feststellungen des Untersagungsbescheides, von denen das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich ausdrücklich ausgeht, ist es im Linzer Stadtgebiet durch die zuvor durchgeführten Versammlungen gerade zu keinen wesentlichen Verkehrsbeeinträchtigungen gekommen. Auch wurde mit den Veranstaltern der Versammlungen die Vereinbarung getroffen, die Durchfahrt und Zufahrt bestimmter Fahrzeuge (s.o. Rz  2) zu ermöglichen.

Dass im Ergebnis für den Zeitraum der Versammlungen (16 Uhr bis 19 Uhr bzw 15 Uhr bis 16.30 Uhr) der Durchzugsverkehr eine andere Route wählen würde müssen, rechtfertigt für sich alleine betrachtet eben gerade nicht automatisch die Untersagung einer Versammlung, gilt es doch stets, das Interesse an der Abhaltung der Versammlung gegenüber Interessen Dritter abzuwägen.

Wie der Verfassungsgerichtshof zuletzt in seiner Entscheidung zu E4552/2019 vom 8. Oktober 2020 – im Übrigen unter Hinweis auf VfSlg 12.155/1989 sowie 19.962/2015 – festgestellt hat, ist eine Untersagung dann geboten, wenn durch die Abhaltung der Versammlung eine "zu befürchtende unvermeidbare, weiträumige, lange währende, extreme Störung des Straßenverkehrs gravierende Belästigungen und auch sicherheitsgefährdende Beeinträchtigungen zahlreicher unbeteiligter Personen erwarten ließe." Dass das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich diesen Maßstab auch nur annähernd seiner Prüfung zugrunde gelegt und zusätzlich geprüft hat, ob die Versammlungsbehörde in der Lage gewesen wäre, etwaige entstehende Verkehrsbehinderungen im Vorfeld durch geeignete Maßnahmen im noch erträglichen Maß einzudämmen (vgl bereits VfSlg 7229/1973) und ob die Reduzierung der Dauer der Versammlungen nicht ohnehin schon hinreichend war, ist der Entscheidung nicht zu entnehmen.

4.2. Die Behauptung, dass Verkehrsteilnehmer zur zeitintensiven Benützung von Ausweichrouten gezwungen gewesen wären und dies unverhältnismäßige Umweltbelastungen bedeutet hätte, bleibt mit Blick auf das zugrunde liegende Aktenmaterial spekulativ und würde es – selbst wenn sie zuträfe – nicht erlauben, von einer Abwägung der Interessen abzusehen.

4.3. Indem das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich auf die Möglichkeit der Abhaltung der Versammlungen auf nahe gelegenen, weniger verkehrsintensiven öffentlichen Flächen verweist, verkennt es zudem die symbolische Bedeutung des Versammlungsortes im vorliegenden Fall (vgl auch VfGH 8.10.2020, E4552/2019 mit Verweis auf EGMR, 22.5.2018, Fall United Civil Aviation Trade Union und Csorba, Appl 27.585/13).

5. Der Beschwerdeführer wurde daher durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt; auf die – verfehlte – Auffassung der Versammlungsbehörde im vorliegenden Fall, dass ihr die Entscheidung obliege, ob der Versammlungszweck bereits erreicht wurde, kam es dabei nicht an.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Versammlungsrecht, Verkehrserschwernisse

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3728.2020

Zuletzt aktualisiert am

28.03.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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