TE Vfgh Erkenntnis 2022/11/29 E1761/2022

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.11.2022
beobachten
merken

Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973Bundesgesetzblatt Nr 390 aus 1973,) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein Staatsangehöriger von Benin und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Er stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet am 18. Juli 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen befragt, brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst familiäre Streitigkeiten mit seinem Onkel, einem Voodoo-Priester, vor. Der Vater des Beschwerdeführers habe sich geweigert, auch Voodoo zu praktizieren, weshalb es zu Streitigkeiten mit seinem Onkel gekommen sei. Einen Monat später sei der Vater des Beschwerdeführers in der Dusche gestürzt und schließlich verstorben. Als der Beschwerdeführer seinen Onkel zur Rede stellen habe wollen, sei es zu einem Streit zwischen dem Beschwerdeführer und dem ältesten Sohn seines Onkels gekommen, bei dem der Sohn infolge einer Verletzung auf dem Hinterkopf gestorben sei.

2. Mit Bescheid vom 11. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Benin zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen festgelegt.

3. Mit Erkenntnis vom 8. Juni 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen den Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht führte begründend aus, der Beschwerdeführer sei nicht in der Lage gewesen, glaubhafte Fluchtgründe vorzubringen. Das Bundesverwaltungsgericht verweist dazu im Wesentlichen auf die im Erkenntnis auszugsweise zitierte Beweiswürdigung der belangten Behörde und hält ergänzend fest, die Ausführungen in der Erstbefragung widersprächen jenen in der Einvernahme. Zudem handle es sich lediglich um einen privaten Konflikt und es könne der Beschwerdeführer in einem anderen Landesteil Sicherheit erlangen. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten seien nicht gegeben.

Von der Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung durch den nunmehr zuständigen Richter habe Abstand genommen werden können, weil das Bundesverwaltungsgericht bereits zwei Verhandlungen durchgeführt habe und dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 23. Mai 2022 nochmals Parteiengehör eingeräumt worden sei.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Weder das Bundesverwaltungsgericht noch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl haben die Gerichts- bzw Verwaltungsakten vorgelegt.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973Bundesgesetzblatt 390 aus 1973,, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vglvergleiche zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973Bundesgesetzblatt 390 aus 1973,, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Derartige, in die Verfassungssphäre reichende Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 30. Dezember 2020 eine mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer vom Leiter der Gerichtsabteilung I409 zu seinen Fluchtgründen befragt wurde und unter anderem angab, dass er in Österreich gesundheitliche Probleme bekommen habe. Er sei im Vorjahr im Krankenhaus gewesen, wo Diabetes festgestellt worden sei. Seither müsse er seinen Blutzucker messen und sich unterschiedliche Medikamente spritzen. Zu seinen privaten Interessen am Verbleib in Österreich befragt, brachte der Beschwerdeführer ua vor, er habe hier Freunde, habe drei Jahre als Hausmeister in einem Asylheim gearbeitet und verkaufe Zeitungen.

Am 13. Jänner 2022 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine weitere mündliche Verhandlung statt, in der der Beschwerdeführer von selbigem Richter, nunmehr Leiter der Gerichtsabteilung L530, zu seinem gesundheitlichen Zustand befragt wurde. Der Beschwerdeführer legte medizinische Befunde vor und führte aus, dass er auf Grund seiner Diabeteserkrankung in medizinischer Behandlung sei, im Spital Injektionen erhalten habe und regelmäßig drei konkret bezeichnete Medikamente einnehmen müsse.

Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. März 2022 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L530 abgenommen und in der Folge dem Leiter der Gerichtsabteilung W123 zugewiesen. Mit Schreiben vom 23. Mai 2022 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer, Fragen zu seinem Gesundheitszustand sowie zu seinem Privat- und Familienleben binnen zwei Wochen ab Zustellung zu beantworten. Dem ist der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 2. Juni 2022 nachgekommen. Am 8. Juni 2022 wurde das angefochtene Erkenntnis – ohne Durchführung einer neuerlichen mündlichen Verhandlung durch den nunmehr zuständigen Richter – erlassen.

3.2. Gemäß §25 Abs7 VwGVG kann das Erkenntnis nur von denjenigen Mitgliedern des Verwaltungsgerichtes gefällt werden, die an der Verhandlung teilgenommen haben. Ändert sich die Zusammensetzung des Senates oder wurde die Rechtssache einem anderen Richter zugewiesen, ist die Verhandlung zu wiederholen. Bei Fällung des Erkenntnisses ist nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in dieser Verhandlung vorgekommen ist.

3.3. Es ist schlechterdings nicht nachvollziehbar, weshalb das Bundesverwaltungsgericht diese klar formulierte Bestimmung trotz ihres eindeutigen Wortlautes ohne jegliche Begründung völlig außer Acht gelassen und in grober Verkennung der Rechtslage ausgeführt hat, eine mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Richter habe auf Grund der bereits vor der Neuzuweisung der Rechtssache durchgeführten Verhandlungen unterbleiben können (zur Missachtung der insoweit vergleichbaren Bestimmungen des §10 Abs1 AsylGHG vglvergleiche VfSlg 19.153/2010; und des §67f Abs1 AVG vglvergleiche VfGH 22.9.2014, B1244/2013). Auch die durch das Bundesverwaltungsgericht eingeräumte zweiwöchige Frist zur Übermittlung einer schriftlichen Stellungnahme vermag das Erfordernis der Wiederholung der mündlichen Verhandlung durch den erkennenden Richter schon angesichts des klaren Wortlautes des §25 Abs7 VwGVG – sowie des im vorliegenden Fall nicht als geklärt anzusehenden entscheidungswesentlichen Sachverhaltes – nicht zu ersetzen. Das Bundesverwaltungsgericht hat somit willkürlich gehandelt.

3.4. Weiters ist die Begründung des Bundesverwaltungsgerichtes in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht nachvollziehbar:

3.4.1. Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Der Verfassungsgerichtshof hat mehrfach darauf hingewiesen, dass es ein Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt darstellt, wenn Länderberichte zu einer bestimmten (aktuellen) Frage keine Sachverhaltsdarstellung enthalten und keine zusätzlichen Ermittlungen angestellt werden (vglvergleiche VfGH 13.12.2017, E 2497/2016 ua; 24.9.2018, E1034/2018 ua; 12.6.2019, E1371/2019; 3.10.2019, E 1215/2019; 8.6.2021, E4570/2020 ua).

3.4.2. Das Bundesverwaltungsgericht stellte in Bezug auf den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers fest, bei diesem sei Diabetes mellitus Typ 1 diagnostiziert und eine medikamentöse Behandlung vorgeschrieben worden. In seiner rechtlichen Beurteilung geht das Bundesverwaltungsgericht sodann in einer sehr knapp gehaltenen Begründung davon aus, der Beschwerdeführer leide an keiner besonders schweren Erkrankung und es sei die Gesundheitsversorgung in Benin grundsätzlich gewährleistet. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer auch in seinem Herkunftsstaat Zugang zu erforderlichen Medikamenten haben werde.

3.4.3. In den dem Erkenntnis zugrunde gelegten Länderinformationen finden sich zwar sehr allgemeine Ausführungen zur medizinischen Versorgung im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers. Diesen ist allerdings zu entnehmen, dass die medizinische Versorgung bei weitem nicht europäischen Standards entspreche und die medizinische Notfallversorgung – auch in größeren Städten – nicht sichergestellt sei. Gerade im ländlichen Raum seien Ärzte oder Krankenhäuser oft überhaupt nicht erreichbar oder zu teuer. Ein großes Problem seien Medikamente, deren Haltbarkeitsdatum schon längst abgelaufen sei oder die schlichtweg gefälscht worden seien.

Einzelfallbezogene Feststellungen zu Behandlungsmöglichkeiten von Diabetes mellitus Typ 1 und zur Verfügbarkeit der vom Beschwerdeführer benötigten medizinischen Behandlung in Benin trifft das Bundesverwaltungsgericht nicht. Auch aus den vom Bundesverwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung ergänzend herangezogenen, wiederum sehr allgemein gehaltenen Informationen zur medizinischen Infrastruktur und Grundversorgung in Benin (Quellen: Wikipedia, GIZ), lässt sich im Hinblick auf die festgestellte Erkrankung des Beschwerdeführers nichts gewinnen. Zudem enthält das Erkenntnis weder Ausführungen zum aktuellen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers noch zu der vom Beschwerdeführer konkret benötigten medizinischen Behandlung (Insulinbehandlung, medikamentöse Behandlung). Darüber hinaus fehlen Feststellungen zu COVID-19 und zur diesbezüglichen Situation im Herkunftsstaat zur Gänze. Vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer auf Grund seiner Diabetes-Erkrankung einer COVID-19-Risikogruppe angehören könnte (vglvergleiche §2 Abs1 Z8 lita, litc COVID-19-Risikogruppe-Verordnung, BGBl II 203/2020Bundesgesetzblatt Teil 2, 203 aus 2020,), wäre eine nähere Auseinandersetzung auch mit diesem Umstand gefordert gewesen (vglvergleiche VfGH 8.6.2021, E4570/2020 ua; 13.6.2022, E1739/2021 ua). Das Bundesverwaltungsgericht erwähnt die COVID-19-Pandemie in seiner Entscheidung jedoch mit keinem Wort.

3.4.4. Da das Bundesverwaltungsgericht es sohin unterlassen hat, sich ausreichend und nachvollziehbar mit der Erkrankung des Beschwerdeführers und der aktuellen medizinischen Versorgungslage im Hinblick auf die Verfügbarkeit der erforderlichen medizinischen Behandlung in Benin, einschließlich der möglichen Gefahr eines schweren Krankheitsverlaufes im Falle einer Infektion mit COVID-19 und den diesbezüglichen Behandlungsmöglichkeiten, auseinanderzusetzen, hat es sein Erkenntnis, soweit es sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie auf die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Benin unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, auch aus diesem Grund mit Willkür behaftet (vglvergleiche VfGH 8.6.2021, E4570/2020 ua; 13.6.2022, E1739/2021 ua; 29.9.2022, E903/2022).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973Bundesgesetzblatt 390 aus 1973,) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E1761.2022

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten