TE Vfgh Erkenntnis 2022/9/20 E4559/2021

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Veröffentlicht am 20.09.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §10, §55
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2
  1. AsylG 2005 § 10 heute
  2. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.11.2017 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 84/2017
  3. AsylG 2005 § 10 gültig ab 01.11.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 145/2017
  4. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.01.2014 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 68/2013
  5. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 87/2012
  6. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.07.2011 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 38/2011
  7. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.01.2010 bis 30.06.2011 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 122/2009
  8. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.04.2009 bis 31.12.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 29/2009
  9. AsylG 2005 § 10 gültig von 09.11.2007 bis 31.03.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 75/2007
  10. AsylG 2005 § 10 gültig von 01.01.2006 bis 08.11.2007
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels und Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend einen Staatsangehörigen des Irak; mangelnde Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Beschwerdeführers und seiner Betreuungsleistungen für die Entwicklung seines Kindes

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er ist seit 10. November 2018 mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet, die bereits zwei Kinder hat. Deren gemeinsame Tochter kam am 4. Jänner 2020 zur Welt.

2. Der Beschwerdeführer stellte am 31. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 26. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung in den Irak zulässig ist, und setzte eine zweiwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise.

Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 22. Jänner 2018 als unbegründet ab. Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §55 AsylG 2005 wurde mangels Zuständigkeit zurückgewiesen.

Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. Juni 2018 zurückgewiesen.

3. Am 18. September 2018 stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 14. Februar 2020 wies das BFA diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurück und erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Das BFA erließ keine Rückkehrentscheidung, da der Beschwerdeführer mit einer österreichischen Staatsbürgerin, die im Bundesgebiet wohne, verheiratet sei, weshalb davon auszugehen sei, dass dem Beschwerdeführer ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zukomme.

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung mit Erkenntnis vom 3. März 2020.

4. In der Folge stellte der Beschwerdeführer mit Hinweis auf seine Ehe und die Geburt seiner Tochter im Juni 2020 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §55 AsylG 2005. Seine Ehefrau, mit der er in einem gemeinsamen Haushalt lebe, benötige insbesondere Hilfe im Haushalt und bei der Erziehung des gemeinsamen Kindes. In seiner Einvernahme durch das BFA am 25. August 2020 führte der Beschwerdeführer unter anderem aus, dass er seine Frau zu Beginn des Jahres 2017 kennengelernt habe, sie den Kontakt gepflegt hätten und nun verheiratet seien. Seine Integration sei sehr gut, er habe neben seiner Frau, die bereits selbst Kinder habe, und dem gemeinsamen Kind einige Freunde. Er habe einen Deutschkurs (Niveau B1) besucht und älteren Personen ehrenamtlich geholfen. Sein Familienleben gestalte sich dahingehend, dass die Familie in der Früh gemeinsam aufstehe und frühstücke. Er bringe die Kinder immer in die Schule. Sie würden gemeinsam einkaufen und er koche oft für die Kinder.

Mit Bescheid vom 29. September 2020 wies das BFA diesen Antrag ab, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung in den Irak zulässig ist, und legte eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise fest.

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – diese Entscheidung mit Erkenntnis vom 15. November 2021.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird. Die Rückkehrentscheidung verstoße gegen Art8 EMRK: Der Beschwerdeführer weise überdurchschnittliche Deutschkenntnisse auf, sei mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet, habe mit ihr eine gemeinsame Tochter, die von ihm betreut werde, und lebe mit ihnen in einem Haushalt. Er sei "nicht nur am Papier Vater", sondern bringe alle Kinder zur Schule, beteilige sich am Haushalt, gehe einkaufen und koche mehrheitlich. Außerdem sei er Bezugsperson für seine zwei Stiefkinder. Eine Rückkehr hätte erhebliche negative Auswirkungen auf das Kindeswohl.

6. Das BFA und das Bundesverwaltungsgericht haben die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

II. Rechtslage

Der im vorliegenden Fall einschlägige §55 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 56/2018 lautet:

"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art8 EMRK

§55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine 'Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn

1. dies gemäß §9 Abs2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß §9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl I Nr 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§5 Abs2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl Nr 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs1 Z1 vor, ist eine 'Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen."

III. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Der Beschwerdeführer hat im Ausgangsverfahren gleichbleibend vorgebracht, dass er im gemeinsamen Haushalt mit seiner Ehefrau, einer (österreichischen) Staatsbürgerin, und deren Kindern sowie ihrer gemeinsamen Tochter lebe. Er übernehme in großem Ausmaß Aufgaben im Haushalt und die Betreuung der Kinder, insbesondere der gemeinsamen Tochter, da diese noch nicht fremdbetreut werden könne. Außerdem hat der Beschwerdeführer auf die Ausführungen des BFA im Bescheid vom 14. Februar 2020 hingewiesen, dass keine Rückkehrentscheidung erlassen worden sei, weil von einem unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht des Beschwerdeführers auszugehen sei.

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass der Beschwerdeführer auch aus seinem Herkunftsstaat mit dem Kind "über moderne Medien solange Kontakt halten kann, bis ein Aufenthaltsstatus [...] im Rahmen eines Niederlassungsverfahrens geklärt werden kann. Die Mutter kann mit dem Kind [den Beschwerdeführer] auch im Irak besuchen." Eine nähere Auseinandersetzung insbesondere mit der Bedeutung des Beschwerdeführers für die Entwicklung des Kindes vor dem Hintergrund des vom Bundesverwaltungsgericht nicht in Zweifel gezogenen Vorbringens des Beschwerdeführers erfolgt nicht.

2.3. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass es bei Kleinkindern lebensfremd sei anzunehmen, dass ein Elternteil mit dem Kind über elektronische Medien angemessenen sozialen Kontakt halten könne (siehe nur ua VfGH 24.9.2018, E1416/2018; 8.6.2021, E575/2021). Ebenso betont der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass dem Gesichtspunkt des Kindeswohls bei der hier in Rede stehenden Abwägungsentscheidung wesentliche Bedeutung zukommt (vgl VfGH 14.6.2022, E2681/2021 mwN). Indem das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung im Hinblick auf die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner rund eineinhalbjährigen Tochter gerade darauf stützt, dass der Beschwerdeführer mit ihr aus dem Irak über "moderne Medien" Kontakt halten könne und die Betreuungsleistungen des Beschwerdeführers für seine Tochter in seine Abwägungsentscheidung in keiner Weise einbezieht, belastet es diese mit Willkür (vgl VfGH 9.12.2020, E2473/2020). Das Bundesverwaltungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren auch zu prüfen haben, ob zur Beurteilung der Beziehung zwischen den betroffenen Familienmitgliedern die Durchführung einer mündlichen Verhandlung angezeigt ist.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher schon aus diesem Grund aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung, Kinder

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E4559.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.11.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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