TE Vfgh Erkenntnis 2022/9/22 E1245/2022

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Veröffentlicht am 22.09.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
EMRK Art8
StbG 1985 §10 Abs1 Z6, §20
StVO 1960 §99
COVID-19-MaßnahmenG §8
VfGG §7 Abs1
  1. StVO 1960 § 99 heute
  2. StVO 1960 § 99 gültig ab 01.09.2021 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 154/2021
  3. StVO 1960 § 99 gültig von 31.03.2013 bis 31.08.2021 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 39/2013
  4. StVO 1960 § 99 gültig von 01.09.2012 bis 30.03.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 50/2012
  5. StVO 1960 § 99 gültig von 01.01.2012 bis 31.08.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 59/2011
  6. StVO 1960 § 99 gültig von 31.05.2011 bis 31.12.2011 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 34/2011
  7. StVO 1960 § 99 gültig von 01.09.2009 bis 30.05.2011 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 93/2009
  8. StVO 1960 § 99 gültig von 26.03.2009 bis 31.08.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2009
  9. StVO 1960 § 99 gültig von 02.04.2005 bis 25.03.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 15/2005
  10. StVO 1960 § 99 gültig von 25.05.2002 bis 01.04.2005 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 80/2002
  11. StVO 1960 § 99 gültig von 01.01.2002 bis 24.05.2002 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 32/2002
  12. StVO 1960 § 99 gültig von 24.07.1999 bis 31.12.2001 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 134/1999
  13. StVO 1960 § 99 gültig von 22.07.1998 bis 23.07.1999 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/1998
  14. StVO 1960 § 99 gültig von 06.01.1998 bis 21.07.1998 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 3/1998
  15. StVO 1960 § 99 gültig von 28.01.1997 bis 05.01.1998 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/1997
  16. StVO 1960 § 99 gültig von 01.10.1994 bis 27.01.1997 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 518/1994
  17. StVO 1960 § 99 gültig von 01.05.1986 bis 30.09.1994 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 105/1986
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander betreffend die Verleihung der Staatsbürgerschaft; keine hinreichende Prüfung der vom Beschwerdeführer – durch besonders gewichtige, neu hinzutretende Umstände – ausgehenden Gefahr für das Grundinteresse der Gesellschaft in der Begründung des Widerrufs der Zusicherung der Staatsbürgerschaft; Verkennung der verfassungsgesetzlichen Bedeutung der Voraussetzungen des Widerrufs wegen Verletzungen der StVO 1960 und des COVID-19-MaßnahmenG

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Das Land Salzburg ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreter die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer hält sich (zumindest) seit 5. Oktober 2010 ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Er verfügt über ein Sprachzeugnis auf dem Niveau B2 des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen, arbeitet als Fuhrparkleiter bei einem Unternehmen mit Sitz im Bundesgebiet, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Am 6. September 2017 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft mit Erstreckung auf seine beiden minderjährigen Kinder.

2. Mit Bescheid der Salzburger Landesregierung vom 13. Oktober 2020 wurde dem Beschwerdeführer die Verleihung der Staatsbürgerschaft für den Fall zugesichert, dass binnen zwei Jahren die vorgeschriebene Entlassung aus dem Staatsverband des Kosovo nachgewiesen wird.

Das Ermittlungsverfahren, das diesem Bescheid zugrunde lag, ergab unter anderem, dass der Beschwerdeführer zwischen 2014 und 2017 vier Verwaltungsübertretungen nach der StVO begangen hat: Mit Strafverfügung vom 5. Mai 2014 wurde dem Beschwerdeführer gemäß §99 Abs3 StVO eine Geldstrafe in der Höhe von € 180,– auferlegt, da der vorgesehene Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug nicht eingehalten worden war. Mit Strafverfügung vom 23. November 2015 wurde über den Beschwerdeführer gemäß §99 Abs2c Z4 StVO eine Geldstrafe in der Höhe von € 300,– verhängt, da wiederum die Abstandsregelungen nicht eingehalten worden waren. Mit Strafverfügung vom 13. November 2017 wurde über den Beschwerdeführer gemäß §99 Abs2d StVO eine Geldstrafe in der Höhe von € 120,– verhängt, weil die Höchstgeschwindigkeit um 35 km/h überschritten worden war. Mit Strafverfügung vom 13. Dezember 2017 wurde über den Beschwerdeführer gemäß §99 Abs3 lita StVO eine Geldstrafe in der Höhe von € 40,– verhängt, weil die Höchstgeschwindigkeit um 8 km/h überschritten worden war.

Am 23. Oktober 2020 – und somit nach der Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft – beging der Beschwerdeführer wiederum eine Verwaltungsübertretung nach der StVO, indem er die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 33 km/h überschritt, weshalb er eine Geldstrafe in der Höhe von € 150,– erhielt.

Mit Schreiben vom 11. Dezember 2020 wurde der Beschwerdeführer aus dem kosovarischen Staatsverband entlassen. Nach Vorlage der entsprechenden Unterlagen wurde der Beschwerdeführer in der Folge von der Behörde, wie in einem Aktenvermerk vom 2. April 2021 dokumentiert, zur Abgabe des Gelöbnisses und zur Einzahlung der Gebühren eingeladen bzw aufgefordert.

Mit Bescheid vom 29. April 2021 widerrief die Behörde die Zusicherung gemäß §20 Abs2 StbG und wies den Antrag des Beschwerdeführers vom 6. September 2017 ab. Die in §10 Abs1 Z6 StbG normierte allgemeine Verleihungsvoraussetzung sei auf Grund der zwischenzeitlich verwirklichten schweren Verwaltungsübertretung (Geschwindigkeitsübertretung nach der StVO) nicht mehr erfüllt.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Salzburg mit Erkenntnis vom 31. März 2022 als unbegründet ab. Während des Beschwerdeverfahrens beging der Beschwerdeführer zwei Verwaltungsübertretungen gemäß §11 Abs2 sechster Punkt der einschlägigen COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung, da er an seinem Arbeitsplatz keinen "3G-Nachweis" vorlegen konnte, weshalb über ihn zweimal eine Geldstrafe in der Höhe von € 100,– gemäß §8 Abs2 Z1 COVID-19-Maßnahmengesetz verhängt wurde. Das Landesverwaltungsgericht Salzburg erachtet die im Oktober 2020 begangene Verwaltungsübertretung, bei der der Beschwerdeführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 33 km/h überschritt, als "entscheidungswesentlich". Unter Berücksichtigung der Verstöße gegen die Corona-Schutzmaßnahmen sei seit der Zusicherung der Staatsbürgerschaft im Verhalten des Beschwerdeführers ein "massiver Negativtrend" erkennbar. Da es sich um "schwerwiegende Straftaten" handle, sei ein Widerruf der Zusicherung und die Abweisung des Antrages auf Verleihung der Staatsbürgerschaft – auch unter Berücksichtigung der Staatenlosigkeit – verhältnismäßig.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der mit näherer Begründung die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

5. Das Landesverwaltungsgericht Salzburg und die Salzburger Landesregierung haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, die Salzburger Landesregierung hat auch eine Äußerung erstattet.

II. Rechtslage

Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über die österreichische Staatsbürgerschaft (Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 – StbG), BGBl 311/1985 (WV), idF BGBl I 234/2021 lauten auszugsweise wie folgt:

"Verleihung

§10. (1) Die Staatsbürgerschaft darf einem Fremden, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, nur verliehen werden, wenn

1. er sich seit mindestens zehn Jahren rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat und davon zumindest fünf Jahre niedergelassen war;

2. er nicht durch ein inländisches oder ausländisches Gericht wegen einer oder mehrerer Vorsatztaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, die der Verurteilung durch das ausländische Gericht zugrunde liegenden strafbaren Handlungen auch nach dem inländischen Recht gerichtlich strafbar sind und die Verurteilung in einem den Grundsätzen des Art6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), BGBl Nr 210/1958, entsprechendem Verfahren ergangen ist;

3. er nicht durch ein inländisches Gericht wegen eines Finanzvergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist;

4. gegen ihn nicht wegen des Verdachtes einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Vorsatztat oder eines mit Freiheitsstrafe bedrohten Finanzvergehens bei einem inländischen Gericht ein Strafverfahren anhängig ist;

5. durch die Verleihung der Staatsbürgerschaft die internationalen Beziehungen der Republik Österreich nicht wesentlich beeinträchtigt werden;

6. er nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür bietet, dass er zur Republik bejahend eingestellt ist und weder eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt noch andere in Art8 Abs2 EMRK genannte öffentliche Interessen gefährdet;

7. sein Lebensunterhalt hinreichend gesichert ist oder der Fremde seinen Lebensunterhalt aus tatsächlichen, von ihm nicht zu vertretenden Gründen dauerhaft nicht oder nicht in ausreichendem Maße sichern kann und

8. er nicht mit fremden Staaten in solchen Beziehungen steht, dass die Verleihung der Staatsbürgerschaft die Interessen der Republik schädigen würde.

(1a) […]

(2) Die Staatsbürgerschaft darf einem Fremden nicht verliehen werden, wenn

1. […]

2. er mehr als einmal wegen einer schwerwiegenden Verwaltungsübertretung mit besonderem Unrechtsgehalt, insbesondere wegen §99 Abs1 bis 2 der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl Nr 159, wegen §37 Abs3 oder 4 des Führerscheingesetzes (FSG), BGBl I Nr 120/1997, §366 Abs1 Z1 i.V.m. Abs2 der Gewerbeordnung 1994 (GewO), BGBl Nr 194, wegen §§81 bis 83 des Sicherheitspolizeigesetzes (SPG), BGBl Nr 566/1991, oder wegen einer schwerwiegenden Übertretung des Fremdenpolizeigesetzes 2005, des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl I Nr 100/2005, des Grenzkontrollgesetzes (GrekoG), BGBl Nr 435/1996, oder des Ausländerbeschäftigungsgesetzes (AuslBG), BGBl Nr 218/1975, rechtskräftig bestraft worden ist; §55 Abs1 des Verwaltungsstrafgesetzes (VStG), BGBl Nr 52/1991, gilt;

3. […]

§20. (1) Die Verleihung der Staatsbürgerschaft ist einem Fremden zunächst für den Fall zuzusichern, daß er binnen zwei Jahren das Ausscheiden aus dem Verband seines bisherigen Heimatstaates nachweist, wenn

1. er nicht staatenlos ist;

2. weder §10 Abs6 noch die §§16 Abs2 oder 17 Abs4 Anwendung finden und

3. ihm durch die Zusicherung das Ausscheiden aus dem Verband seines bisherigen Heimatstaates ermöglicht wird oder erleichtert werden könnte.

(2) Die Zusicherung ist zu widerrufen, wenn der Fremde mit Ausnahme von §10 Abs1 Z7 auch nur eine der für die Verleihung der Staatsbürgerschaft erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt.

(3) Die Staatsbürgerschaft, deren Verleihung zugesichert wurde, ist zu verleihen, sobald der Fremde

1. aus dem Verband seines bisherigen Heimatstaates ausgeschieden ist oder

2. nachweist, daß ihm die für das Ausscheiden aus seinem bisherigen Staatsverband erforderlichen Handlungen nicht möglich oder nicht zumutbar waren.

(4) Die Staatsbürgerschaft, deren Verleihung zugesichert wurde, kann verliehen werden, sobald der Fremde glaubhaft macht, daß er für das Ausscheiden aus seinem bisherigen Staatsverband Zahlungen zu entrichten gehabt hätte, die für sich allein oder im Hinblick auf den für die gesamte Familie erforderlichen Aufwand zum Anlaß außer Verhältnis gestanden wären.

(5) Die Bestimmungen der Abs1 bis 4 gelten auch für die Erstreckung der Verleihung."

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001).

Ein solcher Fehler ist dem Landesverwaltungsgericht Salzburg unterlaufen.

3. Die Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft gemäß §20 Abs1 StbG setzt voraus, dass – abgesehen vom Ausscheiden aus dem bisherigen Staatsverband binnen zwei Jahren – beim Fremden alle Verleihungsvoraussetzungen vorliegen. Dementsprechend begründet sie einen nur durch den Nachweis des Ausscheidens aus dem bisherigen Staatsverband bedingten Anspruch auf Verleihung (siehe mwN zB VwGH 14.12.2011, 2009/01/0067; Thienel, Österreichische Staatsbürgerschaft II, 1990, 272). Allerdings ist die Zusicherung gemäß §20 Abs2 StbG zu widerrufen, wenn der Fremde auch nur eine für die Verleihung der Staatsbürgerschaft erforderliche Voraussetzung – mit Ausnahme derjenigen des Erfordernisses des hinreichend gesicherten Lebensunterhaltes – nicht mehr erfüllt. Entfällt nach Erbringung des Nachweises über das Ausscheiden aus dem bisherigen Staatsverband eine dieser Verleihungsvoraussetzungen, so ist gemäß §20 Abs2 StbG die Zusicherung zu widerrufen, womit der Fremde gegebenenfalls staatenlos wird (s VfSlg 20.322/2019).

Der Verfassungsgerichtshof hat bereits in VfSlg 19.516/2011 ausgesprochen, dass der Widerruf der Zusicherung gemäß §20 Abs2 StbG nur soweit einer sachlichen Rechtfertigung zugänglich ist, als dafür schwerwiegende Gründe vorliegen. In VfSlg 20.322/2019 hat der Verfassungsgerichtshof daran anknüpfend festgehalten, dass es für die Annahme eines nachträglichen Wegfalles der – auch im vorliegenden Fall einschlägigen – Verleihungsvoraussetzung gemäß §10 Abs1 Z6 StbG, wonach der Fremde nach seinem bisherigen Verhalten Gewähr dafür bieten muss, dass er zur Republik bejahend eingestellt ist und weder eine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstellt noch andere in Art8 Abs2 EMRK genannte öffentlichen Interessen gefährdet, besonders gewichtiger und neu hinzutretender Umstände bedarf. Diese müssen, wie der Verwaltungsgerichtshof im Anschluss an einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (zu Konstellationen im Anwendungsbereich der Unionsbürgerschaft siehe EuGH 18.1.2022, Rs. C-118/20, JY/Wiener Landesregierung) auch unter unionsrechtlichem Blickwinkel präzisiert hat, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr begründen (VwGH 25.2.2022, Ra 2018/01/0159).

Es kann an dieser Stelle dahinstehen, inwieweit sich die aus der Unionsbürgerschaft und damit Art20 AEUV folgenden unionsrechtlichen Vorgaben für die Auslegung der hier maßgeblichen Bestimmungen des StbG über den Widerruf der Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft im Einzelnen allenfalls von den hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Anforderungen in bestimmter Hinsicht unterscheiden (vgl zu solchen Konstellationen VfSlg 20.330/2019 bzw VfGH 17.6.2019, E1302/2019), wenn es um Sachverhalte außerhalb des Anwendungsbereiches des Unionsrechtes geht. Im Grundsatz bedarf es für einen Widerruf der Zusicherung jedenfalls neu hinzutretender Umstände, die von so besonderem Gewicht sind, dass sie – anders als noch im Zeitpunkt der Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft – eine entsprechende Gefährdung der durch §10 Abs1 Z6 StbG geschützten öffentlichen Interessen begründen und, wie der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen hat, "in der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung zu einer negativen, einen Widerruf rechtfertigenden Gefährdungsprognose führen" (VwGH 25.2.2022, Ra 2018/01/0159 unter grundsätzlicher Bezugnahme auf VfSlg 20.322/2019 und 19.516/2011).

4.1. Vor diesem Hintergrund steht es zunächst mit den wiedergegebenen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslegung des §20 Abs2 iVm §10 Abs1 Z6 StbG im Widerspruch, wenn das Landesverwaltungsgericht Salzburg seine Entscheidung auf den Umstand stützt, dass der Beschwerdeführer nach erfolgter Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft eine (weitere) schwere Verwaltungsübertretung gemäß §99 Abs2d StVO begangen hat, unterscheidet sich diese doch – insbesondere in der relativen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit – nicht von jenen Verwaltungsverstößen, die die Behörde schon bei der Zusicherung zu beurteilen hatte.

4.2. Das Landesverwaltungsgericht Salzburg stützt aber eine entsprechende nunmehr negative Gefährdungsprognose insbesondere darauf, dass über den Beschwerdeführer seit der Zusicherung (während des vor dem Landesverwaltungsgericht anhängigen Beschwerdeverfahrens) zweimal gemäß §8 Abs2 Z1 COVID-19-Maßnahmengesetz (BGBl I 12/2020 idF BGBl I 255/2021) eine Geldstrafe von je € 100,– wegen Übertretung der zum damaligen Zeitpunkt geltenden COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung verhängt wurde, weil der Beschwerdeführer bei einer Kontrolle an seinem Arbeitsplatz den durch die damals geltende COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung vorgesehenen "3G-Nachweis" nicht vorlegen konnte. Im Zusammenhang mit der Feststellung des Sachverhaltes hält das Landesverwaltungsgericht Salzburg in diesem Zusammenhang ausdrücklich fest, dass der Beschwerdeführer der Ansicht gewesen sei, dass "wegen der Tatsache, dass er alleine ein Büro hätte, und die anderen Mitarbeiter der Firma ein anderes Zimmer nutzen, keine Tests notwendig sind. [...] Nach diesen zwei Vorfällen wurde der [B]eschwerdeführer ins Homeoffice versetzt. Für die Zukunft hat er mit seinem Chef vereinbart, dass er sich für Kundentermine testen lassen werde."

Aus diesen Verwaltungsübertretungen und der Aussage des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung, dass er regelmäßige Testungen "mit [seiner] Psyche nicht vereinbaren" könne, schließt das Landesverwaltungsgericht Salzburg, dass in diesen Verwaltungsübertretungen "eine Rücksicht[s]losigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Rechtsvorschriften zur Eindämmung der Corona-Pandemie" zu Tage trete, sodass "eine Prognoseentscheidung nur dahingehend getroffen werden" könne, dass der Beschwerdeführer auch in Zukunft zum Schutz der in §10 Abs1 Z6 StbG genannten öffentlichen Interessen erlassene Rechtsvorschriften missachten werde.

Auch damit verkennt das Landesverwaltungsgericht Salzburg die oben wiedergegebenen verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für einen Widerruf nach §20 Abs2 iVm §10 Abs1 Z6 StbG:

Es ist unzweifelhaft, dass die in Rede stehenden Regelungen zum Schutz vor COVID-19 bzw einer Ausbreitung dieser Krankheit besonders gewichtigen öffentlichen Interessen dienen, wie sie auch durch §10 Abs1 Z6 StbG erfasst sind (vgl zum besonderen Gewicht von einschlägigen Regelungen im Zusammenhang mit COVID-19 nur VfGH 29.4.2022, V23/2022). Ebenso wie aber nicht jede Übertretung der zum Schutz der Verkehrsteilnehmer ergangenen Regelungen der StVO für sich genommen eine negative Gefährdungsprognose gemäß §20 Abs2 StbG zu begründen vermag (siehe dazu schon VfSlg 20.322/2019), kommt es auch im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Übertretungen von Rechtsvorschriften im Zusammenhang mit COVID-19 auf eine Gesamtbetrachtung an, die die Bedeutung der in Rede stehenden Verwaltungsübertretungen im Hinblick auf die Schutzzwecke des §20 Abs2 iVm §10 Abs1 Z6 StbG in den Blick nehmen muss, eine vom Staatsbürgerschaftswerber ausgehende erhebliche, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr zu begründen (siehe abermals VwGH 25.2.2022, Ra 2018/01/0159).

Solches vermag der Verfassungsgerichtshof aus den hier in Rede stehenden Verwaltungsübertretungen durch den Beschwerdeführer nicht zu erkennen. Wie im Zusammenhang mit Straßenverkehrsregelungen kann es auch einem, die durch §10 Abs1 Z6 StbG geschützten Grundinteressen der Gesellschaft achtenden und respektierenden Mitglied dieser Gesellschaft unterlaufen, da oder dort gegen diese Regelungen zu verstoßen. Eine negative Gefährdungsprognose zur Begründung des Widerrufs der Zusicherung einer Verleihung der Staatsbürgerschaft und damit die Revidierung einer schon getroffenen staatlichen Entscheidung muss sich aber auf besonders gewichtige, neu hinzutretende Umstände, die eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr durch den Beschwerdeführer begründen können, stützen. Solche Umstände können sowohl darin liegen, dass die dem Staatsbürgerschaftswerber anzulastende neue Rechtsverletzung im Hinblick auf die in §10 Abs1 Z6 StbG genannten öffentlichen Interessen besonders gravierend ist, als auch darin, dass im Vergleich mit der im Zeitpunkt der Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft durch die Behörde beurteilten Sachlage eine besondere Häufung von (auch weniger gravierenden) Rechtsverletzungen zu verzeichnen ist.

Weder das eine noch das andere hat das Landesverwaltungsgericht Salzburg ausgehend von den von ihm festgestellten Verwaltungsübertretungen des Beschwerdeführers nachvollziehbar geprüft und damit die verfassungsrechtlich maßgebliche Bedeutung der Voraussetzungen für einen Widerruf der Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft gemäß §20 Abs2 iVm §10 Abs1 Z6 StbG verkannt.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Verleihung (Staatsbürgerschaft), Staatsbürgerschaftsrecht, Straßenpolizei, COVID (Corona), Strafe (Verwaltungsstrafrecht), Entscheidungsbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E1245.2022

Zuletzt aktualisiert am

03.11.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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