TE Vfgh Erkenntnis 2022/3/18 E1595/2021

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Veröffentlicht am 18.03.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
VwGVG §29
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan mangels zeitnaher schriftlicher Ausfertigung der beinahe 7 Monate vorher mündlich verkündeten Entscheidung insbesondere mit Blick auf die Sicherheitslage

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Am 6. Februar 2016 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 7. März 2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 abgewiesen. Gemäß §57 AsylG 2005 wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gegen ihn wurde gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG 2005 erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG 2005 festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß §46 FPG 2005 nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für seine freiwillige Ausreise gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG 2005 wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 24. August 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab.

3.1. Das gegenüber dem Beschwerdeführer mündlich verkündete Erkenntnis wird (ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung) wie folgt begründet:

"[…] Der Beschwerdeführer konnte nicht glaubwürdig vorbringen, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung verfolgt werden würde.

Mit seinem Vorbringen, wonach er als Tanzjunge missbraucht worden sei und im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan Verfolgungshandlungen zu befürchten hätte, konnte er das Gericht nicht überzeugen. Zum einen war sein Vorbringen in wesentlichen Punkten zu den fluchtauslösenden Ereignissen widersprüchlich. So führte er in der Verhandlung vom 23.06.2020 an, dass er von zwei Freunden seines Arbeitsgebers zur Hochzeit mitgenommen worden wäre, die viel älter als der BF gewesen seien, nämlich im Alter seines Arbeitgebers, und er auch diese persönlich noch nicht gekannt hätte. Dagegen aber bei der Einvernahme vor dem BFA am 09.02.2018 mehrmals angeführt hätte, dass Schulkollegen von ihm zur Hochzeit mitgenommen hätten. Ebenso widersprüchlich waren seine Angaben, wonach er in der erwähnten Verhandlung anführte, dass die erste Vergewaltigung 'nur' durch die beiden Freunde des Arbeitgebers erfolgt worden sei, er dagegen bei der genannten Einvernahme vor dem BFA angeführt hätte, dass er nicht nur von den beiden Schulkollegen, sondern auch zusätzlich von zwei fremden Männern erstmals vergewaltigt worden sei, er zudem in der Beschwerdeschrift, die nach dem Gespräch mit ihm von der Rechtsvertretung verfasst worden ist, anführt, dass diese Vergewaltigung bei der Hochzeit in Shakar Dar vom Lehrmeister und zwei anderen Männern erfolgt sei. Auch widersprüchlich war sein Vorbringen, wonach er bei der Einvernahme vor dem BFA am 09.02.2018 auf die Frage, ob er mit seinen Verwandten noch in Kontakt stehen würde, geantwortet hätte, dass er sie nicht anrufen würde, aber diese würden ihn hin und wieder anrufen, sowie in der gleichen Einvernahme auf die Frage: 'Wie geht es der Familie?' mit 'Gut' geantwortet habe[.] […] [D]ieses [weicht] von seinen Angaben in der Verhandlung vom 23.06.2020 [ab], wonach er den letzten Kontakt bereits im [Jahr] 2017 gehabt habe und seine Familie [seinet]wegen […] Afghanistan verlassen hätten, weil sie mit ihm wegen seiner angeblichen Tätigkeit als Tanzknabe nichts mehr zu tun haben woll[ten]. Die Rechtfertigung des BF mit dem Hinweis, dass bei der erwähnten Einvernahme beim BFA eine iranische Dolmetscherin beigezogen gewesen sei, relativierte sich schon deswegen von, da der BF den Vorhalt des [Gerichtes] in der erwähnten Verhandlung, warum der BF bei der Einvernahme des BFA auf die Frage, ob er die Dolmetscherin verstanden habe, geantwortet habe: 'Ich habe alles gut verstanden' damit erwiderte, dass diese Frage am Anfang von der Einvernahme gestellt worden sei, quasi im Rahmen der Begrüßung, tatsächlich diese Frage, ob er die Dolmetscherin verstanden habe, aber erst am Ende des Protokolls, also nach seiner Einvernahme angeführt wurde. Nur der Vollständigkeit halber passt zu seiner Unglaubwürdigkeit auch, dass er bei der Erstbefragung anlässlich seiner Einreise mit keinen Wort den späteren Fluchtgrund betreffend den Missbrauch als Tanzjunge anführte, sondern lediglich angegeben hat, dass er in Österreich sei, um Geld zu verdienen, um seine Familie in Afghanistan zu versorgen und dass er keine weiteren Fluchtgründe habe sowie bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte, von den Taliban getötet zu werden.

Zudem entspricht das Vorbringen des BF zu einer möglichen Verfolgungsgefahr im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht den Berichten über Opfer von Bachabazi, da der BF, volljährig und sehr männlich wirkend, überhaupt nicht dem Bild der für Knabenliebe attraktiven Kinder und Jugendlichen entspricht. Auch der vom RV mit Stellungnahme vom 18.06.2020 vorgelegte Bericht nennt als Beispielfälle 10-, 13- und 15-jährige Junge (s.a der entsprechende Bericht von faz.net) – der BF ist hingegen jetzt schon im 22 Lebensjahr. Abgesehen davon, dass dem BF wegen seiner Unglaubwürdigkeit auch nicht seinem Vorbringen als missbrauchter Tanzknabe zu folgen war, ist für das Gericht auch nicht nachvollziehbar, weshalb der BF nicht durch Inanspruchnahme eine[r] innerstaatlichen Fluchtalternative sich in einer (anderen) Großstadt niederlassen kann, um Verfolgungen zu entgehen. Ebenso ist nicht nachvollziehbar, warum seine Verwandtschaft, wissend von dem in Afghanistan allgemeinen Phänomen des Missbrauchs von Tanzjungen, die in unfreiwillige[…] Zwangslage geraten, deswegen nun ihn verfolgen würde.

Diese Beurteilung stützt sich aufgrund der in das Beschwerdeverfahren eingeführten nachvollziehbaren und mit Ermittlungsergebnissen belegten Gutachten eines beim Bundesverwaltungsgericht[…] seit vielen Jahren eingesetzten anerkannten und seriösen Sachverständigen. Seine Einschätzungen stehen im Einklang mit den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten seriösen und anerkannten Informationsunterlagen über die politischen, gesellschaftlichen und menschenrechtlichen Verhältnisse in Afghanistan.

Auch sonstige asylwürdige Gründe sind nicht hervorgekommen.

Auch diese Beurteilung ergibt sich aufgrund der dem BVwG vorliegenden und in das Verfahren eingeführten […] seriösen und anerkannten Informationsunterlagen über die politischen, gesellschaftlichen und menschenrechtlichen Verhältnisse in Afghanistan.

Im Übrigen wird auf die Ausführungen im bekämpften erstinstanzlichen Bescheid verwiesen.

[…] Da der Beschwerdeführer ein volljähriger, somit im erwerbsfähigen Alter stehender gesunder Mensch ist, und im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch auf nationale und internationale Rückkehrhilfe sowie zudem auf die Unterstützung seiner in Afghanistan lebenden Familie (da seinem gegenteiligen Vorbringen aus den oben erwähnten Gründen nicht gefolgt wird) zurückgreifen kann, stehen nach den dem BVwG vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Informationsunterlagen über Afghanistan auch keine im Lichte der Art2 und 3 EMRK relevante Umstände entgegen, dass er sich in eine afghanische[…] Großstadt wie Herat oder Mazar-e Sharif begeben und dort in zumutbarer Weise leben kann.

Aufgrund der festgestellten Situation von Rückkehrern unterscheidet sich die Lage des Beschwerdeführers im Falle seiner Rückführung nach Afghanistan nicht entscheidungswesentlich von derjenigen eines gesunden, mit beruflichen Erfahrungen und/oder für eine Erwerbsarbeit dienlichen Kenntnissen (schulische Bildung etc.) versehenen Landsmannes, der sein ganzes Leben in Afghanistan verbracht hat und dort sozialisiert wurde (s.a. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001; 30.01.2018, Ra 2018/18/0001) – dies auch vor dem Hintergrund der verschlechterten Wirtschaftslage und der damit geminderten Erwerbsmöglichkeiten aufgrund der Covid-19-Pandemie. Der Beschwerdeführer zählt daher nicht zum Kreis der besonders schutzbedürften afghanischen Asylsuchenden nach den einschlägigen Richtlinien des UNHCR (s VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405, demzufolge nach den EASO-Richtlinien vom Juni 2019 bei der Prüfung der Zumutbarkeit der persönliche Hintergrund der betroffenen Person, insbesondere deren Selbständigkeit, die vorhandene Ausbildung und allfällige Berufserfahrungen, sowie auch ein unterstützendes [familiäres] Netzwerk, ins Kalkül gezogen werden müsse. Die Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 müsse stets unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Antragstellenden erfolgen).

Deshalb wird der Beschwerdeführer nicht mit einer Situation unter exzeptionellen Umständen konfrontiert sein, bei der er keine Lebensgrundlage vorfinden würde, weil die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz nicht gedeckt werden können (vgl VwGH 21.02.2017, Ro 2016/18/0005, mwN).

[…] Auch weitere Anhaltspunkte in Bezug auf den Schutz des Familien- und Privatlebens gemäß Art8 EMRK, die gegen seine Ausweisung aus Österreich sprechen würden, sind nicht hervorgekommen. Weder verfügt der Beschwerdeführer über hinreichende familiäre Beziehungen zu in Österreich aufenthaltsberechtigten Personen noch ist seine Integration in Österreich, in dessen Bundesgebiet er unter Umgehung der Grenzkontrollen und somit illegal einreiste, vor allem auch durch seine nicht ausreichend lange Aufenthaltsdauer seit erst viereinhalb Jahren in Österreich, derart fortgeschritten, dass in seinem Fall sein Interesse an einem Weiterverbleib in Österreich die entgegenstehenden öffentlichen Interessen überwiegen würden (s VwGH 23.06.2015, Ra 2015/22/0026, mwN, wonach einem inländischen Aufenthalt von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der durchzuführenden Interessenabwägung zukomme). Der Beschwerdeführer hat keine beachtlichen freundschaftlichen Beziehungen zu Österreichern und weist nicht besonders hervorgehobene Deutschkenntnisse [auf]. […] Er kann einzig auf seine[n] Besuch einer Waldorf Schule verweisen, darüberhinausgehende schulische oder sonstige[…] berufsqualifizierende Ausbildungen in Österreich liegen nicht vor. Er nahm auch sonst nicht in nennenswerter Weise am gesellschaftlichen Leben in Österreich (Vereinsmitgliedschaften, ehrenamtliche Tätigkeiten etc.) teil. Demgegenüber ist nach wie vor von einer engen Bindung des Beschwerdeführers nach Afghanistan auszugehen, zumal er dort den Großteil seines bisherigen Lebens verbracht hat. Er wurde in Afghanistan sozialisiert und bestritt dort seinen Lebensunterhalt. Er spricht auch eine Landessprache als Muttersprache. Hinzu kommt, dass er nach wie vor familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan hat.

Im Übrigen wird auf die Ausführungen im bekämpften erstinstanzlichen Bescheid verwiesen."

3.2. Mit Schreiben vom 25. August 2020 beantragte der Beschwerdeführer die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

4. Am 8. Februar 2021 erging die schriftliche Ausfertigung des am 24. August 2020 mündlich verkündeten Erkenntnisses. Am 19. März 2021 erfolgte ihre Zustellung.

5. In der vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde behauptet der Beschwerdeführer die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof.

Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, das angefochtene Erkenntnis sei mit Willkür belastet, weil kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt worden sei. Zudem sei der Beschwerdeführer in seinen gemäß Art2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechten verletzt, weil das Erkenntnis von einer Rückkehrmöglichkeit nach Afghanistan ausgehe. Dabei verkenne das Gericht, dass es sich bei dem Beschwerdeführer um einen jungen Mann mit geringer Schulbildung und ohne Berufsausbildung handle. Zudem habe sich die Lage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban massiv verschlechtert. Ferner sei die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK unzutreffend.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 7. Oktober 2021, E837/2021, im Hinblick auf die Beurteilung der Zeitspanne zwischen der das verwaltungsgerichtliche Verfahren abschließenden mündlichen Verkündung der Entscheidung und der Erlassung der schriftlichen Ausfertigung derselben ausgesprochen, dass eine Ausfertigung acht Monate nach mündlicher Verkündung den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Erlassung von verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen nicht entspricht (vgl auch VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua).

2.2. Im vorliegenden Fall erfolgte die Zustellung der schriftlichen Ausfertigung der am 24. August 2020 mündlich verkündeten Entscheidung mit Datum vom 8. Februar 2021 am 19. März 2021 beinahe sieben Monate nach der mündlichen Verkündung. Im Hinblick auf die lange Zeitspanne zwischen mündlicher Verkündung und Zustellung der schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung wurde dem Beschwerdeführer dadurch ein effektiver Rechtsschutz verwehrt (vgl VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua; 23.6.2021, E720/2021; 7.10.2021, E837/2021).

Zudem ist eine möglichst zeitnahe schriftliche Ausfertigung nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes gerade im Zusammenhang mit besonders volatilen Sachlagen, die für das Bundesverwaltungsgericht als notorisch gelten können, wie etwa der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan (vgl VfGH 24.9.2021, E3047/2021; 30.9.2021, E3445/2021; 16.12.2021, E4227/2021), von besonderer Bedeutung.

3. Im Hinblick auf das vom Bundesverwaltungsgericht fortzusetzende Verfahren weist der Verfassungsgerichtshof darauf hin, dass nach seiner ständigen Rechtsprechung die im Asylverfahren herangezogenen Länderberichte hinreichend aktuell sein müssen; dies betrifft insbesondere Staaten mit sich rasch ändernder Sicherheitslage (vgl etwa VfGH 24.9.2019, E2576/2019; 6.10.2021, E2905/2021 jeweils mwN).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

4. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Asylrecht, Verhandlung mündliche, Entscheidungsverkündung, Verwaltungsgerichtsverfahren, Rechtsschutz, Rechtsstaatsprinzip, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E1595.2021

Zuletzt aktualisiert am

24.05.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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