TE Vwgh Erkenntnis 2022/4/7 Ra 2021/14/0263

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Veröffentlicht am 07.04.2022
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §37
AVG §45 Abs2
AVG §46
AVG §58 Abs2
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/14/0264
Ra 2021/14/0265

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Sembacher als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revisionen 1. des A M, 2. der S G, und 3. des H M, alle vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2020, 1. W242 2193805-1/20E, 2. W242 2193803-1/19E und 3. W242 2193808-1/17E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige des Iran. Der Erstrevisionswerber ist mit der Zweitrevisionswerberin verheiratet, sie sind die Eltern des Drittrevisionswerbers.

2        Der Erstrevisionswerber reiste am 23. Juli 2016 nach Aufenthalten in Ungarn und Deutschland nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er mit einer Verfolgung seiner Person aufgrund seiner Mitgliedschaft bei der kurdischen Partei „Kurdistan-Israel Friendship Association - KIFA“ (KIFA) durch das iranische Regime begründete.

3        Die Zweitrevisionswerberin und der Drittrevisionswerber reisten am 3. Juli 2016 über Bulgarien und Ungarn kommend nach Österreich ein und stellten ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005, in denen sie sich in weiterer Folge auf die Fluchtgründe des Erstrevisionswerbers bezogen.

4        Mit Bescheiden je vom 24. Februar 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück und sprach aus, dass Bulgarien für die Prüfung der Anträge zuständig sei. Die Außerlandesbringung der Revisionswerber wurde gemäß § 61 Abs. 1 FPG angeordnet und festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerber nach Bulgarien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei. Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) je vom 22. Juli 2017 wurde den gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerden stattgegeben und die Verfahren der revisionswerbenden Parteien in Österreich zugelassen.

5        Mit Bescheiden je vom 14. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der revisionswerbenden Parteien sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch des Status der subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Iran zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde jeweils mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

6        Die revisionswerbenden Parteien erhoben dagegen jeweils Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin brachten sie zusammengefasst vor, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe den Beweisantrag auf Einvernahme des Präsidenten der KIFA völlig ignoriert und das Vorbringen zur westlichen Orientierung der Zweitrevisionswerberin außer Acht gelassen. Im weiteren Verlauf des Verfahrens legten die revisionswerbenden Parteien unter anderem Dokumente zur exilpolitischen Tätigkeit des Erstrevisionswerbers vor und beantragten wiederholt die Einvernahme des Präsidenten der KIFA, Dr. B., zum Beweis der politischen Tätigkeit des Erstrevisionswerbers, zuletzt mit Schriftsatz vom 9. September 2020.

7        Der in Deutschland wohnhafte Zeuge Dr. B. wurde mit Schreiben des BVwG vom 10. September 2020 zur Verhandlung am 30. September 2020 geladen. Ein diesbezüglicher Rückschein langte am 23. September 2020 am BVwG ein.

8        Am 30. September 2020 führte das BVwG eine mündliche Verhandlung durch. Im Verhandlungsprotokoll ist festgehalten, dass der Vertreter der revisionswerbenden Parteien zu Beginn mitteilte, dass der beantragte Zeuge am selben Tage nicht habe stellig gemacht werden können, weil er aufgrund der Corona-Situation nicht aus Deutschland anreisen werde, der Zeuge stehe aber für eine Einvernahme per Videokonferenz zur Verfügung. Am Ende der Verhandlung beantragte der Vertreter der revisionswerbenden Parteien auch die Einsichtnahme in ein Video zum Beweis der exilpolitischen Tätigkeiten des Erstrevisionswerbers. Auf Nachfrage des Richters, warum dieses nicht schon früher vorgelegt worden wäre, teilte der Vertreter mit, dass dieses erst nach der letzten Aufforderung zur Stellung von Beweisanträgen hervorgekommen sei. Unmittelbar vor Verkündung des Schlusses der Verhandlung wies der Richter pauschal und ohne nähere Begründung alle offenen Beweisanträge ab.

9        Mit den nunmehr angefochtenen Erkenntnissen wies das BVwG die Beschwerden der revisionswerbenden Parteien als unbegründet ab und stellte fest, dass die Erhebung von Revisionen gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

10       Begründend stellte es - soweit für das Revisionsverfahren wesentlich - fest, dass es dem Erstrevisionswerber nicht gelungen sei, asylrelevante Fluchtgründe glaubhaft zu machen. Dies gelte auch für die Zweitrevisionswerberin und den minderjährigen Drittrevisionswerber, die sich auf keine eigenen Fluchtgründe stützten.

11       Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das BVwG aus, dass dem beantragten Zeugen die Ladung für den Termin am 30. September 2020 rechtzeitig zugestellt worden sei, der Zeuge sei aber unentschuldigt nicht erschienen. Die vom Rechtsvertreter der Revisionswerber in der Verhandlung genannte Corona-Situation habe bereits seit 16. September 2020, dem Tag, an dem die deutsche Bundesregierung Wien zur Risikozone erklärt habe, bestanden. Auch habe der Zeuge nicht rechtzeitig stellig gemacht werden können, eine zwangsweise Durchsetzung der Ladung scheide aus, die Einvernahme habe schon deswegen unterbleiben können. Der Antrag auf Einvernahme per Videokonferenz sei trotz mehrmaliger Aufforderung zur Stellung von Beweisanträgen erst in der Verhandlung gestellt worden. Durch die verspätete Beantragung der Zeugeneinvernahme per Videokonferenz und die verspätete Bekanntgabe in der Verhandlung, dass dieser nicht stellig gemacht habe werden können, sei beim Verwaltungsgericht der Eindruck entstanden, dass der Antrag auf Einvernahme per Videokonferenz nur gestellt worden wäre, um die Dauer des Verfahrens hinauszuzögern. Dem Vorbringen des Erstrevisionswerbers zufolge, habe der beantragte Zeuge Dr. B. diesen zu politischen Aktivitäten im Iran veranlasst. Zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen komme es deswegen auf den persönlichen Eindruck des Richters vom Verhältnis des Erstrevisionswerbers mit dem Zeugen an. Dieser könne „via Bildschirm“ wegen immer wieder vorkommenden Problemen mit der Tonqualität im Rahmen einer Videokonferenz aber nicht vermittelt werden, weshalb die persönliche Einvernahme auch nicht durch eine Einvernahme über Videokonferenz ersetzt werden könne. Ebenso hätte die Beweisaufnahme durch Einsichtnahme in das im Rahmen der mündlichen Verhandlung angebotene Video unterbleiben können, weil dazu ebenso davon ausgegangen werden könnte, dass dieser Beweisantrag bewusst und aus Gründen der Verfahrensverzögerung erst so spät gestellt worden wäre.

12       In rechtlicher Hinsicht kam das BVwG unter anderem zum Ergebnis, dass nach den getroffenen Feststellungen die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl nicht gegeben seien, weshalb die Beschwerden diesbezüglich als unbegründet abzuweisen gewesen seien.

13       Gegen diese Erkenntnisse richten sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, zu deren Zulässigkeit unter anderem vorgebracht wird, das BVwG sei durch die unterlassene Einvernahme des Zeugen von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, habe sein Erkenntnis mit Begründungsmängeln hinsichtlich des Vorbringens (exil-)politischer Tätigkeit und der westlichen Orientierung der Zweitrevisionswerberin belastet, unzureichende Ermittlungen hinsichtlich der Behandelbarkeit einer näher genannten Krankheit des Drittrevisionswerbers getätigt und im Rahmen der Rückkehrentscheidung eine unvertretbare Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK vorgenommen.

14       Nach Vorlage der Revisionen samt der Verfahrensakten durch das BVwG und der Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

15       Die Revisionen sind aus den in der Begründung ihrer Zulässigkeit angeführten Gründen zur Abweichung des BVwG von näher genannter Rechtsprechung zu § 19 AVG und zu den Ermittlungspflichten des BVwG zulässig und auch begründet.

16       Der Verwaltungsgerichtshof hat im Zusammenhang mit den sowohl die Behörde als auch das Verwaltungsgericht treffenden Ermittlungspflichten festgehalten, dass auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG gilt. Für das Asylverfahren stellt § 18 AsylG 2005 eine Konkretisierung der aus § 37 AVG iVm § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde und des Verwaltungsgerichtes dar, den für die Erledigung der Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen vollständig zu ermitteln und festzustellen (vgl. VwGH 10.8.2018, Ra 2018/20/0314, und 15.6.2021, Ra 2020/19/0344 bis 0346, je mwN).

17       Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Beweisanträgen grundsätzlich zu entsprechen, wenn die Aufnahme des darin begehrten Beweises im Interesse der Wahrheitsfindung notwendig erscheint. Dementsprechend dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts beizutragen (VwGH 26.4.2021, Ra 2021/14/0015, Rz 29, mwN).

18       Eine mit abstrakten Befürchtungen zu einer möglichen Verfahrensverzögerung begründete generelle Ablehnung nicht sofort ausführbarer Beweise steht mit der oben angeführten Rechtsprechung nicht im Einklang (vgl. VwGH 19.10.2021, Ra 2020/14/0135, mwN).

19       Das BVwG hat mit der Ladung des Zeugen - den mehrfach gestellten Anträgen der revisionswerbenden Parteien sowohl in der Beschwerde gegen die Bescheide des BFA als auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entsprechend - die Notwendigkeit einer näheren Abklärung des Sachverhalts durch dessen Einvernahme erkannt, die nicht durch Mutmaßungen hinsichtlich der Gründe für das Fernbleiben von der anberaumten mündlichen Verhandlung revidiert werden kann. Ebenso stellt es im Rahmen der Beweiswürdigung sogar die Wichtigkeit des persönlichen Eindrucks vom Verhältnis zwischen dem Zeugen Dr. B. und dem Erstrevisionswerber zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens zur politischen Betätigung dar. Auch hätten allfällige Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Entschuldigungsgrunds nähere Ermittlungen erfordert. Die Begründung des BVwG zum Absehen von der Einvernahme setzt sich jedoch weder mit der Erforderlichkeit noch mit der dauerhaften Unmöglichkeit der Beweisaufnahme auseinander. Es ist daher einem begründungslosen Hinwegsetzen über einen gestellten - und nicht von vornherein untauglichen - Beweisantrag gleichzuhalten, was sich als unzulässig erweist (vgl. dazu auch VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0164).

20       Schon dieser aufgezeigte Verfahrensmangel ist auch von Relevanz für den Verfahrensausgang, weil die unterbliebene Zeugeneinvernahme des Dr. B. - wie das BVwG selbst ausführt - zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Erstrevisionswerbers hinsichtlich des Vorbringens zur politischen Tätigkeit maßgeblich beitragen würde.

21       Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG somit diese Zeugeneinvernahme nachzuholen haben und sich unter einem auch mit der Erforderlichkeit der weiteren Beweisanträge auseinanderzusetzen haben.

22       Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher - jeweils zur Gänze, weil die rechtlich von der Nichtgewährung des Status der Asylberechtigten abhängenden Aussprüche ihre Grundlage verlieren - gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

23       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 7. April 2022

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Begründungspflicht Beweiswürdigung und Beweismittel Behandlung von Parteieinwendungen Ablehnung von Beweisanträgen Abstandnahme von Beweisen Beweismittel Zeugenbeweis Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Zeugenbeweis

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021140263.L00

Im RIS seit

05.05.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.05.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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