TE Vfgh Erkenntnis 2022/3/18 V272/2021 (V272/2021-11)

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Veröffentlicht am 18.03.2022
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Index

90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art89 Abs1, Art139 Abs1 Z1
GeschwindigkeitsbeschränkungsV des Bundesministers vom 06.11.2006 betreffend die A2
StVO 1960 §43, §44, §52, §94
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Aufhebung einer GeschwindigkeitsbeschränkungsV des Bundesministers betreffend Streckenabschnitte der A2 Südautobahn; mangelhafte Kundmachung der Verordnung durch signifikante Abweichung (von 15 Metern) des Aufstellungsortes der Verkehrszeichen vom räumlichen Geltungsbereich der Verordnung

Spruch

I. Punkt A) 3. der Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 6. November 2006, Z BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

II. Die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, der Verfassungsgerichtshof möge "die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie (nunmehr: Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie) vom 06. November 2006, GZ. BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006, hinsichtlich Punkt A) 3." als gesetzwidrig aufheben. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich stellt ferner den Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge "in eventu feststellen, dass die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie (nunmehr: Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie) vom 06. November 2006, GZ. BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006, hinsichtlich Punkt A) 3., am 29.12.2020 von 15:14 Uhr bis 15:45 Uhr nicht rechtmäßig kundgemacht und daher gesetzwidrig war".

II. Rechtslage

1. Die mit dem vorliegenden Antrag angefochtene Verordnung des (ehemaligen) Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 6. November 2006, Z BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006, lautet (ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Auf Grund §43 Abs1 StVO 1960, BGBl Nr 159, in der derzeit gültigen Fassung, wird verordnet:

A) Aus Gründen der Sicherheit des Verkehrs, insbesondere zur Hintanhaltung von Unfallgefahren, wird aus der Richtungsfahrbahn Wien der A 2 Südautobahn für den Fall von nasser Fahrbahn oder von Schneelage oder Eisbildung:

1. im Bereich von km 81,590 bis km 81,286 die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h beschränkt,

2. im Bereich von km 81,286 bis km 74,170 die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt und

3. im Bereich von km 73,595 bis km 66,790 die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt.

Diese Verordnung ist gemäß §44 StVO 1960 durch die entsprechenden Straßenverkehrszeichen kundzumachen, wobei die Kundmachung für den Bereich von km 73,595 bis km 66,790 auf Grundlage des vorgelegten Lageplans 'A 2 Südautobahn Bereich Wechsel – Wechselverkehrszeichenanlage Section Control – Planzeichen ST2-VI-811 Einlage Nr 1' (gez. Retter & Partner Ziviltechniker Ges.m.b.H, GZL 03184) zu erfolgen hat. Dieser Plan bildet einen integrierenden Bestandteil dieser Verordnung.

B) Aufhebungen:

a) Die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 20.08.1991, GZ 165.002/69-I/6-91, wird hinsichtlich der unter Z.2 genannten Verkehrsbeschränkungen, Verkehrsgebote und -verbote aufgehoben.

b) Die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 18.12.1992, GZ 138.002/173-I/31-92 wird zur Gänze aufgehoben.

c) Die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 19.11.1997, GZ 138.002/182-II/A/31-97 ('Einhausung Königsberg') wird dahingehend abgeändert, dass im Bereich von km 74,170 bis km 73,595 die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h beschränkt wird.

d) Die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 08.11.2004, GZ BMVIT-138.002/0106-II/ST5/2004 wird zur Gänze aufgehoben.

[…]

Für den Bundesminister:

[…]"

2. Mit Verordnung des (ehemaligen) Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 27. November 2008, Z BMVIT-138.002/0031-II/ST5/2008, wurde die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf der A2 Süd Autobahn, Richtungsfahrbahn Wien, im Bereich von Straßenkilometer 81,590 bis Straßenkilometer 74,170 für den Zeitraum bis 31. Dezember 2009 auf 100 km/h beschränkt. Punkt A) 1. der angefochtenen Verordnung (erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h für den Fall von nasser Fahrbahn oder von Schneelage oder Eisbildung im Bereich von Straßenkilometer 81,590 bis Straßenkilometer 81,286 der Richtungsfahrbahn Wien) wurde aufgehoben.

3. Die Verordnung der (ehemaligen) Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 29. Juni 2011, Z BMVIT-138.002/0013-IV/ST5/2011, lautet auszugsweise (ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Auf Grund §43 Abs1 StVO 1960, BGBl Nr 159/60, in der derzeit gültigen Fassung, wird verordnet:

1. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit wird im Bereich von km 81,590 bis km 66,790 der Richtungsfahrbahn Wien der A 2 Süd Autobahn auf 100 km/h beschränkt.

2. Die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 06.11.2006, GZ BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006 idF der Verordnung vom 27.11.2008, GZ BMVIT-138.002/0031-II/ST5/2008 wird durch diese Verordnung nicht berührt (Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h für den Fall von nasser Fahrbahn oder von Schneelage oder Eisbildung in den Bereichen von km 81,286 bis km 74,170 und von km 73,595 bis km 66,790 der Richtungsfahrbahn Wien der A 2 Süd Autobahn).

3.-4. […]

5. Die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 19.11.1997, GZ 138.002/182-II/A/31-97 idF der Verordnung vom 06.11.2006, GZ BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006 wird durch diese Verordnung aufgehoben (Geschwindigkeitsbeschränkung auf 100 km/h für den Bereich der 'Einhausung Königsberg' von km 74,170 bis km 73,595 der Richtungsfahrbahn Wien der A 2 Süd Autobahn).

6. Diese Verordnung tritt mit 01.07.2011 in Kraft und ist gemäß §44 StVO 1960 durch die entsprechenden Straßenverkehrszeichen kundzumachen.

[…]

Für die Bundesministerin:

[…]"

4. Die Verordnung des (ehemaligen) Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie über die Verwendung eines automatischen Geschwindigkeitsmesssystems auf einem Abschnitt der A 2 Süd Autobahn (Section Control-Messstreckenverordnung Wechselabschnitt 2015), BGBl II 307/2015, lautet:

"Aufgrund §100 Abs5b StVO 1960 wird verordnet:

§1. Als Wegstrecke, auf der die Einhaltung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit mit einem automatischen Geschwindigkeitsmesssystem, mit dem die durchschnittliche Fahrgeschwindigkeit eines Fahrzeugs auf dieser Wegstrecke gemessen wird, zu überwachen ist (Messstrecke), wird der Abschnitt von km 73,05 bis km 67,09 der Richtungsfahrbahn Wien der A 2 Süd Autobahn festgelegt.

§2. Der Beginn und das Ende der Messstrecke sowie der Datenerhebung sind anzuzeigen.

§3. (1) Diese Verordnung tritt mit 16. Oktober 2015 in Kraft

(2) Die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie über die Verwendung eines automatischen Geschwindigkeitsmesssystems auf einem Abschnitt der A 2 Süd Autobahn (Section Control-Messstreckenverordnung Wechselabschnitt), BGBl II Nr 169/2007, in der Fassung der Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie, mit der die Section Control-Messstreckenverordnung Wechselabschnitt geändert wird (Section Control-Messstreckenverordnung Wechselabschnitt 2008), BGBl II Nr 429/2008, tritt mit Ablauf des 15. Oktober 2015 außer Kraft.

[…]"

5. Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden (Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO 1960), BGBl 159/1960 in der jeweils maßgeblichen Fassung, lauten auszugsweise:

"§43. Verkehrsverbote, Verkehrserleichterungen und Hinweise.

(1) Die Behörde hat für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung

a) […]

b) wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert,

1. dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote, insbesondere die Erklärung von Straßen zu Einbahnstraßen, Maß-, Gewichts- oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halte- oder Parkverbote und dergleichen, zu erlassen,

2. […]

c)-d) […]

(1a)-(11) […]

§44. Kundmachung der Verordnungen.

(1) Die im §43 bezeichneten Verordnungen sind, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft. Der Zeitpunkt der erfolgten Anbringung ist in einem Aktenvermerk (§16 AVG) festzuhalten. […]

(1a) Werden Verkehrsverbote, Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrserleichterungen für den Fall zeitlich nicht vorherbestimmbarer Verkehrsbedingungen (wie etwa Regen, Schneefall, besondere Verkehrsdichte) verordnet und erfolgt die Kundmachung dieser Verordnung im Rahmen eines Systems, das selbsttätig bei Eintritt und für die Dauer dieser Verkehrsbedingungen die entsprechenden Straßenverkehrszeichen anzeigt (Verkehrsbeeinflussungssystem), so kann der in Abs1 genannte Aktenvermerk entfallen. In diesem Fall ist jedoch sicherzustellen, dass der Inhalt, der Zeitpunkt und die Dauer der Anzeige selbsttätig durch das System aufgezeichnet werden; diese Aufzeichnungen sind entweder in elektronisch lesbarer Form zu speichern oder in Form von Ausdrucken aufzubewahren. Parteien im Sinne des §8 AVG ist auf Verlangen ein Ausdruck der Aufzeichnungen oder eine Kopie des Ausdrucks auszufolgen.

(2)-(5) […]

[…]

§52. Die Vorschriftszeichen

Die Vorschriftszeichen sind

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen,

b) Gebotszeichen oder

c) Vorrangzeichen.

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen

1.-9d. […]

10a.'GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG (ERLAUBTE HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT)'

[Zeichen]

Dieses Zeichen zeigt an, dass das Überschreiten der Fahrgeschwindigkeit, die als Stundenkilometeranzahl im Zeichen angegeben ist, ab dem Standort des Zeichens verboten ist. Ob und in welcher Entfernung es vor schienengleichen Eisenbahnübergängen anzubringen ist, ergibt sich aus den eisenbahnrechtlichen Vorschriften.

10b.-14b. […]

b) Gebotszeichen.

15.-22a. […]

c) Vorrangzeichen

23.-25b. […]

[…]

Zuständigkeit des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie

§94. Behörde im Sinne dieses Bundesgesetzes ist der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie

1. für die Erlassung der ihm in diesem Bundesgesetz ausdrücklich vorbehaltenen Verordnungen,

2. für die Erlassung von Verordnungen, die Autobahnen betreffen, ausgenommen jedoch Verordnungen gemäß §43 Abs1a, und

3. für die Erlassung von Verordnungen, mit denen Bundesstraßen zu Autostraßen oder Vorrangstraßen erklärt werden.

[…]

§99. Strafbestimmungen.

(1)-(2e) […]

(3) Eine Verwaltungsübertretung begeht und ist mit einer Geldstrafe bis zu 726 Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Wochen, zu bestrafen,

a) wer als Lenker eines Fahrzeuges, als Fußgänger, als Reiter oder als Treiber oder Führer von Vieh gegen die Vorschriften dieses Bundesgesetzes oder der auf Grund dieses Bundesgesetzes erlassenen Verordnungen verstößt und das Verhalten nicht nach den Abs1, 1a, 1b, 2, 2a, 2b, 2c, 2d, 2e oder 4 zu bestrafen ist,

b)-k) […]

(4)-(7) […]

[…]"

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Beim Landesverwaltungsgericht Niederösterreich ist ein Verfahren über eine Beschwerde gegen ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen vom 14. Mai 2021 anhängig. Dem Beschwerdeführer vor dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht (im Folgenden: Beschwerdeführer) wird zur Last gelegt, er habe am 29. Dezember 2020, von 15.38 Uhr bis 15.42 Uhr im Gemeindegebiet Grimmenstein, auf der A 2 Süd Autobahn nächst Straßenkilometer 067,090, "Messstrecke von km 73,05 bis 67,09, Fahrtrichtung Wien (Section Control, Freiland)" mit einem nach dem Kennzeichen näher bestimmten Kraftfahrzeug die auf Grund des angebrachten Vorschriftszeichens "Geschwindigkeitsbeschränkung" erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h überschritten. Über den Beschwerdeführer wurde daher wegen eines Verstoßes gegen §52 lita Z10a StVO 1960 gemäß §99 Abs3 lita StVO 1960 eine Geldstrafe in der Höhe von € 50,– (Ersatzfreiheitsstrafe in der Dauer von 23 Stunden) verhängt.

2. Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich gemäß Art139 Abs1 Z1 B-VG den Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge "die Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie (nunmehr: Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie) vom 06. November 2006, GZ. BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006, hinsichtlich Punkt A) 3." als gesetzwidrig aufheben, in eventu feststellen, dass diese Verordnungsbestimmung am 29. Dezember 2020 in der Zeit von 15.14 Uhr bis 15.45 Uhr nicht rechtmäßig kundgemacht und daher gesetzwidrig war.

2.1. Das antragstellende Landesverwaltungsgericht führt zunächst aus, dass die angefochtene Verordnungsbestimmung Grundlage für die dem Beschwerdeführer angelastete Verwaltungsübertretung und daher präjudiziell im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht sei.

2.2. In der Folge legt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich seine Bedenken gegen die angefochtene Verordnungsbestimmung dar:

Der Vorschrift des §44 Abs1 erster Satz StVO 1960, nach der die in §43 StVO 1960 bezeichneten Verordnungen, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergebe, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen seien, sei immanent, dass die bezüglichen Straßenverkehrszeichen dort angebracht seien, wo der räumliche Geltungsbereich der Verordnung beginne und ende. Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts sei zur Kundmachung von Verkehrsbeschränkungen zwar keine "zentimetergenaue" Aufstellung der Verkehrszeichen erforderlich. Es liege jedoch ein Kundmachungsmangel vor, wenn der Aufstellungsort vom Ort des Beginns bzw des Endes des verordneten Geltungsbereiches einer Geschwindigkeitsbeschränkung signifikant abweiche. Diese Rechtsprechung gelte auch für Verkehrsbeeinflussungssysteme.

Die angefochtene Bestimmung der Verordnung des (ehemaligen) Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 6. November 2006 lege einen konkreten räumlichen Geltungsbereich von Straßenkilometer 073,595 bis Straßenkilometer 066,790 auf der A 2 Süd Autobahn, Richtungsfahrbahn Wien, fest. Laut Mitteilung der ASFINAG Service GmbH vom 30. September 2021 werde der Beginn der mit dieser Verordnungsbestimmung festgelegten Geschwindigkeitsbeschränkung bei Straßenkilometer 073,610 und das Ende bei Straßenkilometer 066,860 kundgemacht. Der Ort der Kundmachung weiche daher hinsichtlich des Beginns der verordneten Geschwindigkeitsbeschränkung um 15 Meter, hinsichtlich des Endes um 70 Meter von dem in der angefochtenen Verordnungsbestimmung vorgesehenen Geltungsbereich ab. Durch diese signifikante Abweichung sei die angefochtene Verordnungsbestimmung mit einem Kundmachungsmangel belastet und daher gesetzwidrig.

3. Die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie hat die Akten betreffend das Zustandekommen der zur Prüfung gestellten Verordnungsbestimmung vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der den im Antrag dargelegten Bedenken wie folgt entgegengetreten wird:

3.1. Am 21. Dezember 2021 seien durch den zuständigen Autobahnmeister der ASFINAG die Standorte der der Kundmachung der angefochtenen Verordnungsbestimmung dienenden Straßenverkehrszeichen eingemessen worden. Dieser Messung zufolge sei der Standort des Anzeigequerschnittes, bei dem der Beginn der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h auf der Richtungsfahrbahn Wien kundgemacht werde, bei Straßenkilometer 073,610. Der Standort des Anzeigequerschnittes, bei dem das Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h angezeigt werde, befinde sich bei Straßenkilometer 066,789.

3.2. Die ASFINAG habe zudem auf den Umstand hingewiesen, dass die Anzeigequerschnitte, mit denen der Beginn bzw das Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h kundgemacht seien, (intern) die Bezeichnung "AQ_A02_2_073,610" bzw "AQ_A02_2_066,860" tragen würden. Diese Bezeichnungen fänden sich auch auf den Schaltbildprotokollen wieder. Die Zahlenwerte, die sich in diesen Bezeichnungen fänden, würden jedoch – wie im vorliegenden Fall – nicht immer den tatsächlichen Kilometerstandorten der jeweiligen Anlagen entsprechen, da die Bezeichnungen für die Anlagen bereits vor der Einrichtung – und damit lange vor der exakten Einmessung – derselben vergeben würden. Diese (internen) Bezeichnungen würden nicht für die Verordnung von Verkehrsbeschränkungen durch die Bundesministerin herangezogen. Vielmehr würden in den entsprechenden Verordnungen Beginn und Ende einer Verkehrsbeschränkung mit der Positionierung angegeben, nach der sich in der Folge die Errichtung der betreffenden Straßenverkehrszeichen (und damit die Kundmachung der Verordnung) richte.

Bei der im Beschwerdeverfahren vor dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht erteilten Auskunft der ASFINAG Service GmbH vom 30. September 2021 zur Kundmachungssituation sei offenbar von den Zahlenwerten in der Standortbezeichnung und nicht von der geografisch korrekten Situation ausgegangen worden. Für den gegenständlichen Fall ergebe sich daraus, dass die angefochtene Verordnungsbestimmung ordnungsgemäß kundgemacht worden sei.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Der Verfassungsgerichtshof vertritt zu Art89 Abs1 B-VG beginnend mit dem Erkenntnis VfSlg 20.182/2017 die Auffassung, dass eine "gehörig kundgemachte" generelle Norm – also eine an einen unbestimmten, externen Personenkreis adressierte, verbindliche Anordnung von Staatsorganen – bereits dann vorliegt, wenn eine solche Norm ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz erlangt (VfSlg 20.182/2017 mwN). Es ist nicht notwendig, dass die Kundmachung der Norm in der rechtlich vorgesehenen Weise erfolgt. Demnach haben auch Gerichte gesetzwidrig kundgemachte Verordnungen gemäß Art139 B-VG anzuwenden und diese, wenn sie Bedenken gegen ihre rechtmäßige Kundmachung haben, vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten. Bis zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof sind sie für jedermann verbindlich (vgl VfSlg 20.251/2018).

Die Kundmachung der mit der angefochtenen Verordnungsbestimmung verordneten Geschwindigkeitsbeschränkung ist ausweislich des von der verordnungserlassenden Behörde vorgelegten Bildmaterials durch die Anbringung entsprechender Straßenverkehrszeichen erfolgt. Gemäß §44 Abs1 StVO 1960 ist die Verordnung im Umfang der Anfechtung damit jedenfalls kundgemacht worden, sodass sie mit verbindlicher Wirkung für jedermann zustande gekommen ist und in Geltung steht.

1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Dem Beschwerdeverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich liegt ein Straferkenntnis zugrunde, in dem dem Beschwerdeführer eine Übertretung der mit der angefochtenen Verordnungsbestimmung festgelegten Geschwindigkeitsbeschränkung zur Last gelegt wird. Es bestehen daher keine Zweifel an der Präjudizialität der angefochtenen Verordnungsbestimmung im Verfahren vor dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht.

1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Der Antrag ist begründet.

2.2.1. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich macht geltend, dass die Kundmachung der angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung laut einer Mitteilung der ASFINAG Service GmbH vom 30. September 2021 erheblich von dem in der angefochtenen Verordnungsbestimmung vorgesehenen Geltungsbereich abweiche.

2.2.2. Gemäß §44 Abs1 StVO 1960 sind die in §43 StVO 1960 bezeichneten Verordnungen, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft (vgl VfGH 25.2.2019, V68/2018 mwN).

Der Vorschrift des §44 Abs1 StVO 1960 ist immanent, dass die bezüglichen Straßenverkehrszeichen dort angebracht sind, wo der räumliche Geltungsbereich der Verordnung beginnt und endet. Zwar ist zur Kundmachung von Verkehrsbeschränkungen keine "zentimetergenaue" Aufstellung der Verkehrszeichen erforderlich (vgl dazu VwGH 13.2.1985, 85/18/0024; 25.1.2002, 99/02/0014; 10.10.2014, 2013/02/0276), jedoch wird dieser Vorschrift nicht Genüge getan und liegt ein Kundmachungsmangel vor, wenn der Aufstellungsort vom Ort des Beginns bzw Endes des verordneten Geltungsbereiches einer Verkehrsbeschränkung signifikant abweicht (vgl VfSlg 15.749/2000 mwN; zu den in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien vgl VwGH 3.7.1986, 86/02/0038; 16.2.1999, 98/02/0338; 22.2.2006, 2003/17/0138; 24.11.2006, 2006/02/0232; 5.9.2008, 2008/02/0011; 21.11.2008, 2008/02/0231; 25.11.2009, 2009/02/0095; zur Kundmachung mittels eines Verkehrsbeeinflussungssystems gemäß §44 Abs1a StVO 1960 vgl VwGH 25.6.2014, 2013/07/0294; vgl auch VfSlg 20.251/2018).

2.2.3. Die verordnungserlassende Behörde verweist in ihrer Äußerung auf die am 21. Dezember 2021 durchgeführten Messungen durch den zuständigen Autobahnmeister der ASFINAG, nach denen der Standort des Anzeigequerschnittes, bei dem der Beginn der angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung auf 80 km/h auf der A 2 Süd Autobahn, Richtungsfahrbahn Wien, kundgemacht wird, bei Straßenkilometer 073,610 festgestellt wurde. Die Anbringung der Straßenverkehrszeichen an diesem Standort entspricht entgegen der Ansicht der verordnungserlassenden Behörde nicht den Anforderungen des §44 StVO 1960 an eine ordnungsgemäße Kundmachung:

Gemäß Punkt A) 3. der Verordnung des (ehemaligen) Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 6. November 2006, Z BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006, ist aus Gründen der Sicherheit des Verkehrs, insbesondere zur Hintanhaltung von Unfallgefahren, auf der A 2 Süd Autobahn, Richtungsfahrbahn Wien, für den Fall von nasser Fahrbahn oder von Schneelage oder Eisbildung im Bereich von Straßenkilometer 073,595 bis Straßenkilometer 066,790 die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h beschränkt. Die Kundmachung des Beginns dieser Geschwindigkeitsbeschränkung erfolgte jedoch bereits 15 Meter vor Beginn des verordneten Geltungsbereiches (bei Straßenkilometer 073,610). Dies stellt nach der – auf Kundmachungen mittels Verkehrsbeeinflussungssystems gemäß §44 Abs1a StVO 1960 übertragbarenRechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu §44 Abs1 StVO 1960 eine signifikante Abweichung dar, die zu einer nicht ordnungsgemäßen Kundmachung führt (VfSlg 20.251/2018 mwN). Auch wenn die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zur Kundmachung von Verordnungen iSd §44 Abs1 StVO 1960 je nach örtlichen Verkehrsverhältnissen eine bestimmte Fehlertoleranz vorsieht – die Aufstellung der entsprechenden Verkehrszeichen hat nicht "zentimetergenau" zu erfolgen –, bewirkt die festgestellte Abweichung von 15 Metern im vorliegenden Fall, in dem der Geltungsbereich der angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung in der angefochtenen Verordnung auf den Meter genau festgelegt ist, jedenfalls eine nicht ordnungsgemäße Kundmachung.

Die nicht den Anforderungen des §44 StVO 1960 entsprechende Kundmachung der angefochtenen Verordnungsbestimmung bewirkt deren Gesetzwidrigkeit. Die angefochtene Verordnungsbestimmung ist daher aufzuheben.

2.3. Gemäß Art139 Abs3 Z3 B-VG hat der Verfassungsgerichtshof nicht nur die präjudiziellen Teile einer Verordnung, sondern die ganze Verordnung aufzuheben (vgl zB VfSlg 18.068/2007), wenn er zur Auffassung gelangt, dass die ganze Verordnung gesetzwidrig kundgemacht wurde. Diese Bestimmung ist von dem Gedanken getragen, den Verfassungsgerichtshof in die Lage zu versetzen, in all jenen Fällen, in denen die festgestellte Gesetzwidrigkeit der präjudiziellen Verordnungsstelle offenkundig auch alle übrigen Verordnungsbestimmungen erfasst, die ganze Verordnung als gesetzwidrig aufzuheben (vgl VfSlg 19.128/2010). Der festgestellte Kundmachungsmangel betrifft ausschließlich die angefochtene – im Verfahren vor dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht präjudizielle – Geschwindigkeitsbeschränkung. Die Verordnung des (ehemaligen) Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 6. November 2006, Z BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006, verfügt weitere Verkehrsregelungen, die auf andere Weise, insbesondere an anderen näher bezeichneten Orten, kundzumachen sind. Eine Aufhebung der ganzen Verordnung gemäß Art139 Abs3 Z3 B-VG kommt daher nicht in Betracht.

V. Ergebnis

1. Punkt A) 3. der Verordnung des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 6. November 2006, Z BMVIT-138.002/0033-II/ST5/2006, ist als gesetzwidrig aufzuheben.

2. Die Verpflichtung der Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §59 Abs2 VfGG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Geschwindigkeitsbeschränkung, Straßenverkehrszeichen, Geltungsbereich (örtlicher) einer Verordnung, Verordnung Kundmachung, VfGH / Gerichtsantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:V272.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.07.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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