TE Vwgh Erkenntnis 2022/3/3 Ra 2020/18/0159

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.03.2022
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §19 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A H, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15, als bestellter Verfahrenshelfer, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. März 2020, W264 2193100-1/13E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein der Volksgruppe der Hazara zugehöriger afghanischer Staatsangehöriger, stellte im Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er insbesondere damit begründete, dass er in Afghanistan zwei Jahre lang für eine amerikanische Firma gearbeitet habe. Weil er deshalb von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei, sei er geflüchtet.

2        Mit Bescheid vom 19. März 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Das BVwG erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4        Was die Nichtzuerkennung von Asyl betrifft, stellte das BVwG fest, der Revisionswerber habe eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber als Angehöriger der Hazara psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre. Ihm drohe auch nicht aufgrund der Rückkehr aus dem westlichen Ausland Verfolgung. In der Beweiswürdigung hielt das BVwG zu den behaupteten Bedrohungen durch die Taliban insbesondere fest, der Revisionswerber habe zur Art der Bedrohung nicht über das gesamte Verfahren stringente Angaben gemacht. So habe er während der Erstbefragung nur Drohungen mit dem Umbringen, jedoch noch keine Verletzung seiner Person durch die Taliban erwähnt, in der Einvernahme vor dem BFA erstmals vorgebracht, von den Taliban eine Ohrfeige und einen Schlag mit einem Gewehr erhalten zu haben, und erst in der Verhandlung vor dem BVwG erwähnt, dass ihm dabei auch Zähne ausgeschlagen worden seien.

5        Die vorliegende außerordentliche Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit insbesondere vor, dass sich das BVwG nicht mit dem Vorbringen beschäftigt habe, dass der Revisionswerber in Afghanistan für ein amerikanisches Unternehmen gearbeitet habe und deshalb durch die Taliban bedroht sei.

6        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und begründet.

9        Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 21.10.2021, Ra 2021/18/0066, mwN).

10       Der Revisionswerber hat - wie die Revision zutreffend aufzeigt - sowohl in der Erstbefragung als auch in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA sowie in der Beschwerde gegen den Bescheid des BFA als wesentliche Ursache seiner Flucht vorgebracht, dass er in Afghanistan zwei Jahre für ein amerikanisches Unternehmen gearbeitet habe und deshalb von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG wies der Revisionswerber auf seine Arbeit für „die Amerikaner“ und darauf hin, dass die Taliban „hinter solchen Leuten her“ seien.

11       Das BVwG hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob (und gegebenenfalls in welcher Funktion) der Revisionswerber für ein amerikanisches Unternehmen gearbeitet hat und ob die gegebenenfalls ausgeübte Tätigkeit bei Rückkehr nach Afghanistan zu einer Verfolgung führen könnte. Auch im Rahmen der Beweiswürdigung hat sich das BVwG mit diesem zentralen Aspekt des Fluchtvorbringens nicht auseinandergesetzt.

12       Die Beweiswürdigung des BVwG setzt sich damit über erhebliche Behauptungen des Revisionswerbers ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinweg.

13       Im Übrigen ist die Beweiswürdigung auch insofern mangelhaft, als sie die Unglaubhaftigkeit der behaupteten Übergriffe durch die Taliban tragend daraus ableitet, dass der Revisionswerber bei der Erstbefragung Verletzungen am Körper, die ihm die Taliban zugefügt hätten, noch nicht erwähnt habe, obwohl sich die Erstbefragung nach § 19 Abs. 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat (vgl. näher VwGH 16.7.2020, Ra 2019/19/0419, mwN).

14       Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG daher nach einem vollständigen Ermittlungsverfahren - unter Einbeziehung aktueller Länderberichte zu Afghanistan - mit dem gesamten Vorbringen des Revisionswerbers, insbesondere seiner behaupteten Tätigkeit für „die Amerikaner“, auseinanderzusetzen und auf dieser Grundlage zu beurteilen haben, ob ihm in Afghanistan Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention droht.

15       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. Bei diesem Ergebnis konnte eine Auseinandersetzung mit dem weiteren Revisionsvorbringen entfallen.

16       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 3. März 2022

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020180159.L00

Im RIS seit

04.04.2022

Zuletzt aktualisiert am

11.04.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten