TE Vfgh Erkenntnis 2021/12/15 E3466/2021

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.12.2021
beobachten
merken

Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art2, Art3
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Leben und im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden durch die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten an einen Staatsangehörigen von Afghanistan; Verkennung der spätestens seit 20.07.2021 erkennbaren extremen Volatilität der Sicherheitslage begründet eine reale Gefahr der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte durch die später ergangene Entscheidung

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Leben sowie darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreter die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein am 1. Jänner 1998 geborener Staatsangehöriger Afghanistans, der der Volksgruppe der Paschtunen angehört und sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam bekennt. Nach eigenen Angaben stamme er aus der Provinz Nangarhar. Dort habe er bis zu seiner Ausreise nach Europa gelebt. Am 18. September 2016 stellte der Beschwerdeführer in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 21. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 2. August 2021 – mit Erkenntnis vom 10. August 2021 als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer keine individuell gegen seine Person gerichtete asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen habe können.

Die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründet das Bundesverwaltungsgericht damit, dass dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe. Seiner Entscheidung über die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten legt das Bundesverwaltungsgericht das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 11. Juni 2021 samt Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19. Juli 2021 zugrunde und hält darauf gestützt fest, dass der Beschwerdeführer auf Grund der schlechten Sicherheitslage nicht in seine Herkunftsprovinz Nangarhar zurückkehren könne. Mazar-e Sharif sei jedoch weitgehend sicher, sodass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in diese Stadt keiner realen Gefahr einer Verletzung der gemäß Art2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre. Auf Grund der persönlichen Umstände des Beschwerdeführers, die das Bundesverwaltungsgericht näher darlegt, sei ihm eine Neuansiedlung in dieser Stadt zumutbar.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Der Beschwerdeführer bringt unter anderem vor, dass sich die Sicherheitslage in ganz Afghanistan zuletzt wieder derart verschlechtert habe, dass eine Rückkehr nach Afghanistan nicht als zulässig erachtet werden könne.

5. Der Verfassungsgerichtshof führte zu dieser Beschwerde im Hinblick auf §19 Abs3 Z4 VfGG kein weiteres Verfahren durch.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde entspricht hinsichtlich des aufhebenden Spruchteiles in allen entscheidungswesentlichen Belangen der dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 30. September 2021, E3445/2021, zugrunde liegenden Beschwerde, die sich gegen eine in den wesentlichen Entscheidungsgründen gleichlautende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes wendet.

Der Verfassungsgerichtshof kann sich daher darauf beschränken, insbesondere auf Rz 17 ff. der Entscheidungsgründe seines zu E3445/2021 am 30. September 2021 gefällten Erkenntnisses hinzuweisen. Daraus ergibt sich auch für den vorliegenden Fall, dass auf Grundlage des Länderinformationsblattes vom 11. Juni 2021 sowie der Kurzinformation vom 19. Juli 2021 der Staatendokumentation (und der zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes verfügbaren, breiten medialen Berichterstattung) spätestens ab 20. Juli 2021 von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK aussetzt (VfGH 30.9.2021, E3445/2021; zur Bedeutung dieses Umstandes für die Beurteilung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinne des Art2 und 3 EMRK siehe statt vieler VfSlg 19.466/2011, 20.296/2018, 20.358/2019; VfGH 6.10.2020, E2406/2020).

Indem das Bundesverwaltungsgericht somit von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers in Afghanistan ausgegangen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10. August 2021, soweit sie sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran knüpfend – die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, gegen das Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie das Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, und ist insoweit aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird das Bundesverwaltungsgericht bei der Entscheidung, ob dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, auch §9 Abs2 AsylG 2005 zu beachten haben (vgl §8 Abs3a AsylG 2005).

2. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

3. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer 14-tägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Leben sowie darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3466.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.03.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten