TE Vwgh Erkenntnis 2021/12/21 Ro 2019/21/0016

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Veröffentlicht am 21.12.2021
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3R E19103000
E3R E19104000
E6J
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §28
AsylG 2005 §5
AsylG 2005 §5 Abs1
AVG §56
EURallg
FrPolG 2005 §52 Abs1 Z1
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
FrPolG 2005 §61 Abs2
FrPolG 2005 §61 Abs4
FrPolG 2005 §61 Abs4 idF 2012/I/087
VwGG §42 Abs1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28 Abs1
VwGVG 2014 §28 Abs2
VwRallg
32003R0343 Dublin-II Art19 Abs4
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs1
32013R0604 Dublin-III Art22 Abs7
32013R0604 Dublin-III Art29 Abs1
32013R0604 Dublin-III Art29 Abs2
62016CJ0201 Shiri VORAB

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher, den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin Dr. Wiesinger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juli 2019, I401 2220826-1/7E, betreffend Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (mitbeteiligte Partei: T E in K), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revision wird abgewiesen.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein nigerianischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Festnahme im österreichischen Bundesgebiet im Zuge einer fremdenpolizeilichen Kontrolle am 1. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Ein EURODAC-Treffer ergab, dass der Mitbeteiligte bereits am 17. März 2014 einen Asylantrag in Italien gestellt hatte. Mit Schreiben vom 14. April 2015 stimmte Italien der Wiederaufnahme des Mitbeteiligten zu.

2        Mit Bescheid des BFA vom 10. Juli 2015 wurde der Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung dieses Antrages gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Dublin III-Verordnung (Dublin III-VO) Italien zuständig sei. Weiters wurde gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung des Mitbeteiligten (nach Italien) angeordnet und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.

3        Die dagegen erhobene Beschwerde, der mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 22. Juli 2015 aufschiebende Wirkung zuerkannt worden war und worüber das BFA die italienischen Behörden mit Schreiben vom 27. Juli 2015 in Kenntnis gesetzt hatte, wies das BVwG mit Erkenntnis vom 30. November 2017, zugestellt am 1. Dezember 2017, als unbegründet ab.

4        Am 14. Februar 2018 wurde der Mitbeteiligte wegen des Verdachts der Begehung von strafbaren Handlungen nach dem Suchtmittelgesetz in Untersuchungshaft genommen und aufgrund der in der Folge ergangenen Verurteilung vom 5. September 2018 zu einer Freiheitsstrafe von 21 Monaten in Strafhaft angehalten, weshalb er bis zum Ablauf der 12-monatigen Überstellungsfrist (am 1. Dezember 2018) - von der Verlängerung der Frist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO hatte das BFA die italienischen Behörden mit Schreiben vom 16. Februar 2018 verständigt - nicht nach Italien überstellt werden konnte.

5        Mit Bescheid vom 29. Mai 2019 sprach das BFA aus, dass dem Mitbeteiligten (von Amts wegen) kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt werde. Unter einem erließ es gegen den Mitbeteiligten gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 1 Z 1 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, und erließ gegen ihn gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 55 FPG gewährte es keine Frist für die freiwillige Ausreise und erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab.

6        Das BFA stellte - soweit für das vorliegende Verfahren relevant - im Wesentlichen fest, die Überstellungsfrist nach der Dublin III-VO sei abgelaufen, weshalb die Zuständigkeit zur Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz des Mitbeteiligten auf Österreich übergegangen sei. Nachdem das Asylverfahren des Mitbeteiligten vom BVwG rechtskräftig abgeschlossen worden sei und dieses Erkenntnis des BVwG vom BFA nicht behoben werden könne, sei der Mitbeteiligte im Zuge einer Einvernahme am 11. April 2019 aufgefordert worden, bekannt zu geben, ob er einen weiteren Asylantrag stellen wolle. Trotz Belehrung und mehrmaliger Nachfrage habe der Mitbeteiligte keinen neuerlichen Asylantrag, der einer Prüfung unterzogen werden könnte, gestellt. Gegen den unrechtmäßig in Österreich aufhältigen Mitbeteiligten könne somit eine Rückkehrentscheidung erlassen und damit wegen seiner Straffälligkeit ein Einreiseverbot verbunden werden.

7        Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das BVwG mit dem revisionsgegenständlichen Erkenntnis vom 29. Juli 2019 Folge und sprach aus, dass der angefochtene Bescheid des BFA vom 29. Mai 2019 (ersatzlos) behoben werde.

8        Das BVwG begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, die Dublin III-VO sei in allen ihren Teilen verbindlich und gelte unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Aus der in Art. 3 Abs. 1 iVm Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO vorgesehenen Verpflichtung zur Prüfung jedes Antrages auf internationalen Schutz ergebe sich für den zuständigen bzw. wieder zuständig gewordenen Mitgliedstaat die Verpflichtung, den auf seinem Hoheitsgebiet gestellten Asylantrag zu prüfen. Im konkreten Fall sei nach Ablauf der Überstellungsfrist „infolge des in der Dublin-Verordnung normierten Selbsteintrittsrechts bzw. der Selbsteintrittsverpflichtung“ die Zuständigkeit Österreichs gegeben, das Asylverfahren des Mitbeteiligten zuzulassen sowie der noch unerledigte, seinerzeit wegen Unzuständigkeit gemäß § 5 AsylG 2005 zurückgewiesene Antrag auf internationalen Schutz inhaltlich zu prüfen und darüber zu entscheiden. Eine förmliche Aufhebung der Entscheidung des BVwG vom 30. November 2017 durch das BFA, dem hierfür auch keine Zuständigkeit zukomme, sei aufgrund des Vorranges des Unionsrechtes nicht notwendig. Da es das BFA unterlassen habe, den vom Mitbeteiligten gestellten Antrag auf internationalen Schutz inhaltlich zu prüfen, sei der angefochtene Bescheid zu beheben, weil die Erlassung einer Rückkehrentscheidung (verbunden mit einem Einreiseverbot) nicht zulässig sei, bevor über einen Antrag auf internationalen Schutz abgesprochen worden sei.

9        Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei. Es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob es mangels ausdrücklicher Regelung über ein „ex-lege-Außerkrafttreten“ auch in den Fällen, in denen das BVwG eine auf § 5 AsylG 2005 gestützte „Dublin-Entscheidung“ des BFA bestätigt habe, zur Beseitigung der Rechtskraftwirkungen einer „förmlichen Aufhebung“ bedürfe.

10       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Amtsrevision des BFA, die sich zur Klarstellung der Rechtslage unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig erweist und zu der vom Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung erstattet wurde.

11       Der Verwaltungsgerichthof hat hierüber erwogen:

12       Nach Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 der Dublin III-VO erfolgt die Überstellung der betreffenden Person nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat.

13       Nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO ist der zuständige Mitgliedstaat, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt wird, nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte.

14       Im Urteil EuGH (Große Kammer) 25.10.2017, Shiri, C-201/16, hielt der Gerichtshof der Europäischen Union dazu fest, schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergebe sich, dass sie „von Rechts wegen“ einen Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat vorsehe, ohne dies von irgendeiner Reaktion des zuständigen Mitgliedstaats abhängig zu machen (Rn. 30). Werde der Antragsteller nicht vor Ablauf der Überstellungsfrist vom ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt, gehe die Zuständigkeit „von Rechts wegen“ auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (Rn. 39), wobei die Überstellungsfrist auch nach Erlassung der Überstellungsentscheidung ablaufen könne (Rn. 42). In einer solchen Situation dürften die zuständigen Behörden des ersuchenden Mitgliedstaats den Betroffenen nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellen, sondern seien verpflichtet, von Amts wegen die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Zuständigkeit des erstgenannten Mitgliedstaats anzuerkennen und unverzüglich mit der Prüfung des von dieser Person gestellten Antrags auf internationalen Schutz zu beginnen (Rn. 43). Es besteht somit kein Zweifel, dass nach der Dublin III-VO der ersuchende Mitgliedstaat verpflichtet ist, den (ursprünglich gestellten) Antrag auf internationalen Schutz nach ungenütztem Ablauf der Überstellungsfrist inhaltlich zu prüfen; hierfür bedarf es nicht der Stellung eines weiteren (neuen) Antrags auf internationalen Schutz.

15       In diesem Sinn hatte der Verwaltungsgerichtshof schon zur im Wesentlichen inhaltsgleichen Bestimmung des Art. 19 Abs. 4 der Dublin II-VO die Auffassung vertreten, werde die Überstellungsfrist versäumt, so dürfe der Betroffene nicht mehr in den ersuchten Mitgliedstaat überstellt werden. Die Republik Österreich sei zur Prüfung seines hier gestellten Asylantrages zuständig geworden; die in Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO zum Ausdruck gebrachte unionsrechtliche Verpflichtung, den Antrag zu prüfen, sei auf Österreich übergegangen, das nunmehr die Prüfung des Asylantrags abzuschließen habe (vgl. zum Ganzen VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0173, Rn. 13/14, mit dem Hinweis auf VwGH 16.5.2013, 2012/21/0218, und VwGH 19.6.2008, 2007/21/0509).

16       Im vorliegenden Fall ist die nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO eingeräumte Frist zur Überstellung des Mitbeteiligten nach Italien unstrittig abgelaufen und demzufolge nach dem ersten Satz der genannten Bestimmung die Zuständigkeit zur Prüfung des vom Mitbeteiligten am 1. April 2015 gestellten Antrags auf internationalen Schutz auf Österreich übergegangen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und in welcher Form die rechtskräftige Zurückweisungsentscheidung gemäß § 5 AsylG 2005 (und die damit verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung nach Italien) zu beseitigen ist, um die inhaltliche Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zu ermöglichen.

17       Die Revision vertritt dazu die Ansicht, dass für die Annahme des BVwG, wonach die Dublin-Unzuständigkeitsentscheidung ex lege außer Kraft getreten sei, keine Rechtsgrundlage bestehe. § 5a Abs. 3 AsylG 1997 habe noch vorgesehen, dass eine Zurückweisung wegen der Dublin-Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates ex lege außer Kraft trete, wenn die Überstellung aus faktischen Gründen nicht vorgenommen werden konnte. Eine derartige Regelung habe der Gesetzgeber mit dem AsylG 2005 ausdrücklich nicht schaffen wollen; vielmehr habe er in den diesbezüglichen Gesetzesmaterialien festgehalten, dass die Dublin-Entscheidung bei einem nachträglichen Zuständigkeitsübergang aufzuheben sei. Dem sei der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung zur Rechtslage vor 2014 gefolgt (Hinweis auf VwGH 19.6.2008, 2007/21/0509, und auf VwGH 16.5.2013, 2012/21/0218). Soweit diese Rechtsprechung, wonach es der ausdrücklichen Aufhebung der Dublin-Entscheidung bedürfe, auf die Dublin III-VO und die Rechtslage nach dem 1. Jänner 2014 übertragbar sei, weiche das BVwG davon durch die Annahme, dass es keiner solchen Aufhebung bedürfe, ab.

18       Die Revision vertritt diesbezüglich fallbezogen aber auch den Standpunkt, dass nach innerstaatlichem Recht keine Möglichkeit bestehe, die Entscheidung des BVwG vom 30. November 2017, mit der im Beschwerdeweg die (nicht fristgerecht umgesetzte) Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz nach § 5 AsylG 2005 (samt Anordnung zur Außerlandesbringung des Mitbeteiligten) rechtskräftig ausgesprochen worden war, von Amts wegen aufzuheben. Es existiere dafür nämlich „keine eigene Aufhebungsbestimmung“. Eine Aufhebung der Entscheidung des BVwG nach § 68 Abs. 2 AVG komme aber weder für das BFA noch für das BVwG in Betracht, weil dem BFA hierfür nach der genannten Bestimmung keine Zuständigkeit zukomme und das BVwG gemäß § 17 VwGVG den § 68 AVG nicht anzuwenden habe.

19       Der Fremde habe jedoch - so die Revision weiter - durch die Stellung eines weiteren Antrags auf internationalen Schutz die Möglichkeit, den Zuständigkeitsübergang geltend zu machen und so eine Zulassung des Verfahrens zu erwirken, was gemäß § 61 Abs. 4 FPG das Außerkrafttreten der Anordnung zur Außerlandesbringung (nach Italien) zur Folge habe. Mache der Fremde - wie der Mitbeteiligte - von der gegebenen Gelegenheit, einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, keinen Gebrauch, sei er unrechtmäßig aufhältig und es sei gegen ihn eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 1 FPG zu erlassen.

20       Dazu ist Folgendes auszuführen:

21       Richtig ist, dass das Erkenntnis VwGH 16.5.2013, 2012/21/0218, die sich auf die grundlegenden Ausführungen im Erkenntnis VwGH 19.6.2008, 2007/21/0509, stützende zusammenfassende Aussage enthält, wonach dem dargestellten Zuständigkeitsübergang bzw. der entstandenen Prüfpflicht dadurch Rechnung zu tragen sei, dass die ursprüngliche (nicht fristgerecht umgesetzte) Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz nach § 5 AsylG 2005 „von den Asylbehörden wieder aufzuheben“ sei. Diese Aufhebung sei unverzüglich nach fruchtlosem Ablauf der jeweiligen Überstellungsfrist, auch von Amts wegen, vorzunehmen. Diese Passage wurde - allerdings nicht in tragender Weise, somit nur als „obiter dictum“ - auch noch im Erkenntnis VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0173, wiederholt.

22       Dieser Judikatur ist jedoch angesichts der seit 1. Jänner 2014 geltenden Bestimmung des § 61 Abs. 4 FPG der Boden entzogen. Danach tritt nämlich die Anordnung zur Außerlandesbringung außer Kraft, wenn das Asylverfahren gemäß § 28 AsylG 2005 zugelassen wird. Demzufolge tritt bei Zulassung des Asylverfahrens eine zuvor ergangene (rechtskräftige) Anordnung zur Außerlandesbringung (samt der darauf aufbauenden Feststellung nach § 61 Abs. 2 FPG über die Zulässigkeit der Abschiebung in den Zielstaat) außer Kraft, ohne dass es zuvor ihrer förmlichen Aufhebung bedarf.

23       Zum Verständnis dieser Bestimmung hat der Gerichtshof im Erkenntnis VwGH 11.5.2017, Ra 2017/21/0047, in Rn. 12, bereits festgehalten, dass die Regelung des § 61 Abs. 4 FPG in erster Linie ein einheitliches Asylverfahren im Auge habe, was sich - wie ergänzend auszuführen ist - schon aus der Verwendung der Wortfolge „das Asylverfahren“ ergibt. Demnach bezieht sich § 61 Abs. 4 FPG - den Gesetzesmaterialien (ErläutRV zum FNG 1803 BlgNR 24. GP 68) lässt sich dazu nichts Näheres entnehmen - auch auf eine Konstellation wie die vorliegende, in der nach der gemäß § 5 AsylG 2005 wegen Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates vorgenommenen Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz samt Anordnung der Außerlandesbringung in diesen Staat die Zuständigkeit wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf Österreich übergegangen, demnach „das Asylverfahren“, also jenes über den ursprünglichen Antrag auf internationalen Schutz, weiterzuführen und der Antrag inhaltlich zu prüfen ist. Aus der genannten Bestimmung iVm Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO folgt somit auch die Pflicht, dass der Antrag nach Ablauf der Überstellungsfrist umgehend (durch Ausfolgung der Aufenthaltsberechtigungskarte) zuzulassen und inhaltlich zu prüfen ist.

24       Allerdings fällt auf, dass § 61 Abs. 4 FPG ausdrücklich nur das Außerkrafttreten der Anordnung zur Außerlandesbringung normiert, sich jedoch nicht auf die seinerzeitige Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz (samt der gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 damit zu verbindenden Feststellung der Zuständigkeit des anderen Mitgliedstaates zur Antragsprüfung) bezieht. Will man dem Gesetzgeber insoweit keine unbeabsichtigte Lücke unterstellen, dann kann dem nur die Auffassung zugrunde liegen, dass diese Entscheidungen mit dem Ablauf der Überstellungsfrist und dem deshalb „von Rechts wegen“ eingetretenen Zuständigkeitsübergang (vgl. dazu oben Rn. 14) ohne Weiteres außer Kraft getreten sind und daher die gebotene Zulassung des Verfahrens über den wieder offenen Antrag auf internationalen Schutz und dessen inhaltliche Prüfung nicht (mehr) hindern. Das steht nämlich durchaus im Einklang mit einer vom Gesetzgeber in diesem Zusammenhang schon früher geäußerten Auffassung (vgl. zum Nachfolgenden des Näheren das schon erwähnte Erkenntnis VwGH 19.6.2008, 2007/21/0509).

25       Mit dem durch die AsylG Novelle 2003 in das (bis 31. Dezember 2005 in Geltung gestandene) AsylG 1997 eingefügten § 5a wurde im Abs. 3 der Fall behandelt, dass Fremde, deren Asylantrag gemäß § 5 AsylG 1997 als unzulässig zurückgewiesen wurde, aus faktischen Gründen nach Erlassung des Bescheides gemäß der Dublin II-VO nicht zurückgeschoben oder abgeschoben werden können, und ausdrücklich normiert, dass dann dieser Bescheid außer Kraft tritt. Nach den diesbezüglichen ErläutRV (120 BlgNR 22. GP 14) seien die Asylverfahren als Folge des Außerkrafttretens des zurückweisenden Bescheides zugelassen, den Asylwerbern sei eine Aufenthaltsberechtigungskarte auszustellen, und sie könnten in weiterer Folge einer Betreuungseinrichtung zugewiesen werden. Der Gesetzgeber verzichtete dann zwar darauf, eine dem § 5a Abs. 3 AsylG 1997 entsprechende ausdrückliche Regelung in das (am 1. Jänner 2006 in Kraft getretene) AsylG 2005 aufzunehmen. Das gründete sich laut den Gesetzesmaterialien zum § 5 AsylG 2005 (RV 952 BlgNR 22. GP 35) darauf, dass sich dies bereits aus den Vorschriften des Dubliner Übereinkommens und der Dublin-Verordnung ergebe, was im Einklang mit einer entsprechenden, damals aktuellen Lehrmeinung in einer Kommentarstelle (Schmid/Frank/Anerinhof, AsylG2, K 18, Seite 122) stand.

26       Zwar meinte der Gesetzgeber in den genannten Materialien auch, wenn eine Überstellung „auf Grund von Fristenablauf“ nicht mehr erfolgen könne, so sei der Bescheid nach § 5 AsylG 2005 von Amts wegen zu beheben und in die inhaltliche Prüfung des Verfahrens einzutreten. Dem folgte der Verwaltungsgerichtshof (siehe schon oben in Rn. 21), obwohl diese Auffassung in einem Spannungsverhältnis zu einem „ex lege“ (schon aufgrund des Unionsrechts) bewirkten Außerkrafttreten der im „Dublin-Verfahren“ ergangenen Zurückweisungsentscheidung steht. Daran ist daher für die Rechtslage ab 1. Jänner 2014 - weil überholt (siehe oben Rn. 23) - nicht mehr festzuhalten. Das stünde aber der Erlassung eines bloß deklarativen Bescheides über das Außerkrafttreten des nach § 5 AsylG 2005 ergangenen Bescheides durch das BFA zur Klarstellung der Rechtslage nicht entgegen.

27       Für den vorliegenden Fall folgt daraus, dass für Österreich nach Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO jedenfalls die Verpflichtung zur inhaltlichen Überprüfung des vom Mitbeteiligten am 1. April 2015 gestellten Antrags auf internationalen Schutz bestand, der die zurückweisende Dublin-Entscheidung des BVwG vom 30. November 2017 - auch wenn noch keine Zulassung des Verfahrens erfolgte - nicht (mehr) entgegenstand. Das hat das BVwG im Ergebnis zutreffend erkannt. Entgegen der Meinung des BFA bedurfte es somit vor dem maßgeblichen unionsrechtlichen Hintergrund - wie schon oben in Rn. 14 erwähnt - nicht der Stellung eines weiteren Antrags auf internationalen Schutz, um dessen inhaltliche Prüfung zu ermöglichen.

28       Daher ging das BVwG zu Recht auch davon aus, dass im gegenständlichen Fall die Erlassung einer Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) vor der Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz vom 1. April 2015 nicht zulässig und daher der Bescheid des BFA vom 29. Mai 2019 ersatzlos zu beheben war (vgl. dazu VwGH 4.8.2016, Ra 2016/21/0162, Rn. 13/14).

29       Die Revision erweist sich somit als nicht berechtigt und war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

Wien, am 21. Dezember 2021

Gerichtsentscheidung

EuGH 62016CJ0201 Shiri VORAB

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Analogie Schließung von Gesetzeslücken VwRallg3/2/3 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Rechtsgrundsätze Fristen VwRallg6/5

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RO2019210016.J00

Im RIS seit

21.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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