TE Vwgh Beschluss 1996/9/18 96/15/0065

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Veröffentlicht am 18.09.1996
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Index

E1E;
E3L E09301000;
E6J;
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
32/04 Steuern vom Umsatz;
50/05 Kammern der gewerblichen Wirtschaft;

Norm

11992E177 EGV Art177;
31977L0388 Umsatzsteuer-RL 06te Art17;
31977L0388 Umsatzsteuer-RL 06te Art33;
61981CJ0283 CILFIT und Lanificio di Gavardo VORAB;
61988CJ0093 Wisselink VORAB;
61990CJ0097 Lennartz VORAB;
61990CJ0109 Giant VORAB;
61990CJ0200 Dansk Denkavit und Poulsen Trading VORAB;
61990CJ0347 Aldo Bozzi VORAB;
61995CJ0347 UCAL VORAB;
61996CJ0028 Fricarnes VORAB;
61996CJ0130 Solisnor-Estaleiros Navais VORAB;
61996CJ0318 Spar VORAB;
B-VG Art129;
HKG 1946 §57;
UStG 1994 §12;
VwGG §38a;

Beachte

Vorabentscheidungsverfahren:* EU-Register: EU 97/0122 * EuGH-Zahl: C-318/96 Spar * EuGH-Entscheidung:EuGH 61996CJ0318 19. Februar 1998 * Enderledigung des gegenständlichen Ausgangsverfahrens im fortgesetzten Verfahren: 96/15/0065 E 19. März 1998 Besprechung in:ÖStZ 1996/19, S 468 - 470;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pokorny und die Hofräte Dr. Wetzel, Dr. Steiner, Dr. Mizner und Dr. Zorn als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hajicek in der Beschwerdesache der S-AG in Salzburg, vertreten durch Dr. P, Rechtsanwalt in S, gegen den Bescheid (Berufungsentscheidung) der Finanzlandesdirektion für Salzburg vom 31. Jänner 1996, Zl. 13/41-GA7-DIn/95, betreffend Kammerumlage I, den Beschluß gefaßt:

Spruch

Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Verbietet Artikel 17 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames

Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG) einem Mitgliedstaat die Erhebung einer Abgabe, die in einem festen Satz aus folgender

Bemessungsgrundlage bemessen wird:

a)

der Umsatzsteuer, die auf Grund der an den Abgabepflichtigen für dessen Unternehmen von anderen Unternehmern erbrachten Lieferungen oder sonstigen Leistungen, ausgenommen auf Grund von Geschäftsveräußerungen, geschuldet wird, und

b)

der Umsatzsteuer, die vom Abgabepflichtigen auf Grund der Einfuhr von Gegenständen für sein Unternehmen oder auf Grund des innergemeinschaftlichen Erwerbes für sein Unternehmen geschuldet wird?

                 2.       Verbietet Artikel 33 der Richtlinie 77/388/EWG die Erhebung einer in Frage 1 beschriebenen Abgabe?

Begründung

1. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

Die Beschwerdeführerin ist eine im Handel tätige AG. Sie ist aufgrund des § 3 Abs. 2 Handelskammergesetz, Bundesgesetzblatt Nr. 182/1946 in der geltenden Fassung (im folgenden HKG) ex lege Mitglied der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und der entsprechenden Landeskammer. Als solches trifft sie gemäß § 57 Abs. 1 bis 6 HKG die Verpflichtung zur Entrichtung der sogenannten Kammerumlage I.

Die Beschwerdeführerin gab dem Finanzamt Salzburg-Stadt die Bemessungsgrundlagen für die Kammerumlage I (erstes Quartal 1995: xxxx S; zweites Quartal 1995: xxxx S; drittes Quartal 1995: xxxx S) bekannt. Mit der Begründung, durch § 57 HKG würde sie in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (Gleichheitssatz, Unverletzlichkeit des Eigentums) verletzt, gab sie den Betrag der geschuldeten Kammerumlage mit 0 S an.

Das Finanzamt Salzburg-Stadt setzte die Kammerumlage I mit Bescheid vom 4. Juli 1995 für das erste Quartal 1995 (mit dem Betrag von xxxx S), mit Bescheid vom 6. September 1995 für das zweite Quartal 1995 (mit dem Betrag von xxxx S) und mit Bescheid vom 1. Dezember 1995 für das dritte Quartal 1995 (mit dem Betrag von xxxx S) fest.

Gegen die Bescheide des Finanzamtes berief die Beschwerdeführerin. Die Berufungen wurden mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid (Berufungsentscheidung) vom 31. Jänner 1996 als unbegründet abgewiesen. In der Bescheidbegründung wird im wesentlichen ausgeführt, das Berufungsvorbringen beschränke sich darauf, daß § 57 Abs. 1 HKG in der Fassung der Novelle BGBl. 661/1994 verfassungswidrig sei; die Berufungsbehörde sei aber an gehörig kundgemachte Gesetze gebunden und nicht zur Prüfung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes zuständig.

Gegen diese Berufungsentscheidung wendet sich die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Vor dem Verwaltungsgerichtshof behauptet die Beschwerdeführerin verletzt zu sein im "durch unmittelbar anwendbares

Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Recht ... auf Nichterlassung

eines Bescheides, der die Kammerumlage I vorschreibt". Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Bescheides. Zur Begründung bringt die Beschwerdeführerin im wesentlichen vor, die Kammerumlage I sei eine durch Art 33 der

6. Umsatzsteuer-Richtlinie, 77/388/EWG, untersagte umsatzsteuerähnliche Abgabe; diese Abgabe verstoße zudem wegen des Ausschlusses des Vorsteuerabzuges gegen das in der Richtlinie festgelegte System einer Allphasen-Netto-Umsatzsteuer.

2. Einschlägige Vorschriften des nationalen Rechts

§ 57 HKG in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 661/1994 normiert zur Kammerumlage I auszugsweise folgendes:

Abs 1: Zur Bedeckung der in den genehmigten Jahresvoranschlägen vorgesehenen und durch sonstige Erträge nicht gedeckten Aufwendungen der Landeskammern und der Bundeskammer kann von den Kammermitgliedern eine Umlage nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Inanspruchnahme eingehoben werden; die Verhältnismäßigkeit ist auch an dem Verhältnis zwischen den Umlagebeträgen und der Differenz zwischen Einkaufs- und

Verkaufspreisen zu messen. ... Die Umlage ist zu berechnen von

jenen Beträgen, die

a)

auf Grund der an das Kammermitglied für dessen Unternehmen von anderen Unternehmern erbrachten Lieferungen oder sonstigen Leistungen vom anderen Unternehmer, ausgenommen auf Grund von Geschäftsveräußerungen, als Umsatzsteuer geschuldet werden,

b)

auf Grund der Einfuhr von Gegenständen für das Unternehmen des Kammermitgliedes oder auf Grund des innergemeinschaftlichen Erwerbs für das Unternehmen des Kammermitgliedes vom Kammermitglied als Umsatzsteuer geschuldet werden.

Die Umlage wird vom Kammertag der Bundeskammer mit einem Tausendsatz der Bemessungsgrundlage gemäß lit. a und b festgesetzt. Der Tausendsatz darf höchstens 4,3 v.T. betragen.

Abs. 2: Abweichend von Abs. 1 wird die Bemessungsgrundlage für einzelne Gruppen von Kammermitgliedern wie folgt bestimmt:

1.

Bei Kreditinstituten ....

2.

Bei Versicherern ...

Abs. 3: ...

Abs. 4: ...

Abs. 5: Die Umlage gemäß Abs. 1 und 2 ist von den Abgabenbehörden des Bundes nach Maßgabe folgender Bestimmungen zu erheben:

1. Die für die Umsatzsteuer geltenden Abgabenvorschriften sind mit Ausnahme des § 20 Abs. 1 vierter Satz und des § 21 UStG 1994 sinngemäß anzuwenden.

2.

...

3.

Ist auf dem amtlichen Formular für die Umsatzsteuererklärung die Angabe des Jahresbetrages der Umlage vorgesehen, so ist dieser Jahresbetrag in der Umsatzsteuererklärung bekanntzugeben.

              4.       Von Kammermitgliedern, deren Umsätze gemäß § 1 Abs. 1 Z. 1 UStG 1994, BGBl. Nr. 663/1994, in der jeweils geltenden Fassung, jährlich zwei Millionen Schilling nicht übersteigen, wird die Umlage nicht erhoben.

              5.       ...

Abs. 6: Die Umlage gemäß Abs. 1 und 2 ist von den Abgabenbehörden des Bundes an die Bundeskammer zu überweisen. Sie wird im Verhältnis 12:13 zwischen den Landeskammern und der

Bundeskammer geteilt. ... Vom Anteil der Bundeskammer sind

75 v.H. für Zwecke der Außenwirtschaftsförderung zu verwenden.

Das Präsidium der Wirtschaftskammer Österreich hat mit Verordnung vom 1. Jänner 1995 gemäß § 57 Abs. 1 HKG in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 661/1994 festgelegt, daß die Umlage 3,9 von Tausend der Bemessungsgrundlage beträgt.

3. Voraussetzungen der Vorlage

Dem Verwaltungsgerichtshof ist im Rahmen der Sicherung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 129 B-VG) auch die Sicherung der Konformität der österreichischen Verwaltung mit dem Gemeinschaftsrecht übertragen (vgl. Jabloner, Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts und Verwaltungsgerichtsbarkeit, ÖJZ 1995, 922). Gemeinschaftsrecht, welchem unmittelbare Anwendbarkeit und Geltung zukommt, ist insofern "Gesetz" iSd "Gesetzmäßigkeit" nach Art. 129 B-VG (vgl. Öhlinger, Unmittelbare Geltung und Vorrang des Gemeinschaftsrechts und die Auswirkungen auf das verfassungsrechtliche Rechtsschutzsystem, in FS-Rill, Wien 1995, 377).

Der Verwaltungsgerichtshof ist ein Gericht iSd Art. 177 Abs. 3 EGV, also ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.

Wie der EuGH im Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs. 283/81, C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 ff, ausgesprochen hat, hat ein Gericht im Sinne des Art. 177 Abs. 3 EGV, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Verfahren eine Frage der Auslegung von Gemeinschaftsrecht stellt, diese dem EuGH vorzulegen, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, "daß die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder daß die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechtes derart offenkundig ist, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt." Der EuGH führt zum Fehlen vernünftiger Zweifel aus, das innerstaatliche Gericht dürfe nur dann davon ausgehen, daß ein solcher Fall vorliege, "wenn es überzeugt ist, daß auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewißheit bestünde."

Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren legt der Beschwerdeführer durch die Bezeichnung des Beschwerdepunktes die Grenzen des Rechtsstreites fest (§ 41 Abs. 1 iVm § 28 Abs. 1 Z. 4 VwGG). An diese ist der Verwaltungsgerichtshof gebunden. Im gegenständlichen Fall ist die Frage des Verstoßes gegen Art. 17 und 33 der Richtlinie 77/388/EWG vom Beschwerdepunkt umfaßt.

4. Erläuterung zu den Vorlagefragen

Die Kammern der gewerblichen Wirtschaft (Wirtschaftskammern) sind berufen, die Interessen aller Personen, aller Personengesellschaften des Handelsrechts und aller eingetragenen Erwerbsgesellschaften zu vertreten, die sich aus dem selbständigen Betrieb von Unternehmungen des Gewerbes, der Industrie, des Handels, des Geld-, Kredit- und Versicherungswesens, des Verkehrs und des Fremdenverkehrs ergeben. Gemäß § 3 Abs. 2 HKG sind die erwähnten Träger selbständig geführter Unternehmen zwangsweise Mitglieder der jeweiligen Landeskammer und der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft. Die Handelskammerorganisation ist kraft Gesetzes als Verband mit Pflichtmitgliedschaft eingerichtet. Der Handelskammerorganisation ist die Vertretung der gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder und die Durchführung von Hilfstätigkeiten für den Staat aufgetragen. Ein erheblicher Anteil der ihr durch Gesetz übertragenen Aufgaben beruft die Handelskammerorganisation zur Mitwirkung an der Ausübung der drei Staatsfunktionen (vgl. im einzelnen Rill, Handelskammerfinanzierung und Bundesverfassung - Ist die sogenannte Kammerumlage I verfassungswidrig, RdW 1995, 501).

Der Kammerumlage I nach § 57 Abs. 1 bis 6 HKG in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 661/1994 kommt steuerähnlicher Charakter zu (vgl. den Beschluß des Verfassungsgerichtshofes vom 20. Juni 1996, B 998/96, unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 7. März 1995, B 1933/94). Die Umlage dient der Finanzierung der Aufgaben der Handelskammern; eine individuelle Zuordnung der zentralen Aufgaben der Handelskammern an einzelne Mitglieder ist nicht möglich.

Seitens des Verwaltungsgerichtshofes bestehen - selbst unter Bedachtnahme auf Art. 17 Abs. 5 lit. e der Richtlinie 77/388/EWG - Zweifel daran, ob die Regelung des § 57 Abs. 1 bis 6 HKG betreffend die Kammerumlage I mit Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG vereinbar ist.

Art. 17 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 77/388/EWG räumt das Recht auf Vorsteuerabzug ein. Die Bestimmung ist eindeutig, genau und unbedingt und erfüllt daher die Voraussetzungen dafür, daß sich ein einzelner vor den nationalen Gerichten auf diese Bestimmung berufen kann (vgl. das Urteil des EuGH vom 11. Juli 1991, Rs C-97/90, Lennartz, Slg. 1991, I-3795 ff). Der Vorsteuerabzug des Steuerpflichtigen besteht auf Grund der Richtlinienbestimmung für

a)

die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden bzw erbracht werden,

b)

die Mehrwertsteuer, die für eingeführte Gegenstände im Inland geschuldet wird oder entrichtet worden ist,

c)

die Mehrwertsteuer, die nach Artikel 5 Abs. 7 Buchstabe a, Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 28a Absatz 6 geschuldet wird,

d)

die Mehrwertsteuer, die nach Artikel 28a Absatz 1 Buchstabe a geschuldet wird.

Das österreichische Umsatzsteuergesetz setzt die Richtlinienbestimmung in § 12 und Art. 12 UStG 1994 um und räumt grundsätzlich die volle Vorsteuerabzugsberechtigung ein. Die Regelung des § 57 Abs. 1 HKG führt aber im Ergebnis dazu, daß den von ihr betroffenen Unternehmern der Vorsteuerabzug nicht zu 100% gewährt wird, sondern nur in einem geringeren Ausmaß. Der Betrag, der als Vorsteuer geltend gemacht werden kann, wird nämlich durch § 57 Abs. 1 HKG als Bemessungsgrundlage für eine steuerähnliche Abgabe herangezogen. Es wird somit zwar einerseits durch § 12 und Art. 12 UStG 1994 der Vorsteuerabzug gewährt, andererseits aber für eine große Gruppe von Unternehmern ein Anteil dieses Vorsteuerbetrages wiederum vom Finanzamt rückgefordert. Dies geschieht in der Weise, daß die Summe aus der Umsatzsteuer für Lieferungen und sonstige Leistungen an den Unternehmer sowie aus Erwerbssteuer für innergemeinschaftliche Erwerbe und aus Einfuhrumsatzsteuer die Bemessungsgrundlage für die Kammerumlage I bildet. Die Bemessungsgrundlage für die Kammerumlage I wird also durch jenen Betrag gebildet, der als Vorsteuerabzugsbetrag dem Unternehmer zusteht.

Ein Mitgliedstaat könnte den durch Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG eingeräumten Vorsteueranspruch in jeder Weise einschränken, wenn ihm die Bestimmung nicht verbietet, den Vorsteuerbetrag im Wege einer Abgabe einzubehalten.

Dazu kommt, daß die Kammerumlage I grundsätzlich auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe anfällt. Jeder Wirtschaftsteilnehmer aus Industrie, Gewerbe und Handel ist nämlich Mitglied von Wirtschaftskammern (Bundeskammer und entsprechende Landeskammer). Wenn der Gesetzgeber eines Mitgliedstaates auf allen Umsatzstufen den Vorsteuerabzug verkürzt, indem er zwar mit dem einen Gesetz den Vorsteueranspruch einräumt, ihn aber zugleich mit einem anderen Gesetz wieder teilweise zurücknimmt, dann könnte ein Verstoß gegen das System der in der Richtlinie 77/388/EWG festgelegten Mehrwertsteuer vorliegen, weil zu diesem - wie dies in Art. 17 der Richtlinie festgelegt ist - die vollständige Vorsteuerentlastung gehört. Die Kammerumlage I bewirkt auf jeder Umsatzstufe, daß die Besteuerung über die Steuer auf den bloßen Mehrwert zwischen Umsatz und Vorumsatz hinausgeht.

§ 57 Abs. 1 HKG dürfte, falls ein Verstoß gegen Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG vorläge, wegen des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechtes nicht zur Anwendung kommen. Die Vereinbarkeit des § 57 Abs. 1 HKG mit dem Gemeinschaftsrecht ist nicht derart offenkundig, daß für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleiben würde. Diese Frage ist auch nicht bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH gewesen. Die Frage ist aber entscheidungserheblich, weil der Verwaltungsgerichtshof, falls von einer Verdrängung des § 57 Abs. 1 HKG auszugehen wäre, den angefochtenen Bescheid gemäß § 42 Abs. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben hätte.

Der Verwaltungsgerichtshof hält weiters Bedenken für gerechtfertigt, ob durch die Regelung der Kammerumlage I nicht gegen das in Art. 33 der Richtlinie 77/388/EWG normierte Verbot von Steuern mit Umsatzsteuercharakter verstoßen wird. Wie der EuGH wiederholt, u.a. im Urteil vom 31. März 1992, Rs C-200/90, Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217, ausgesprochen hat, verbietet Art. 33 der Richtlinie 77/388/EWG die Einführung und Beibehaltung von "Steuern, Abgaben und Gebühren", die den Charakter von Umsatzsteuern haben, die also die wesentlichen Merkmale der Umsatzsteuer aufweisen. Merkmale der Umsatzsteuer sind dabei folgende:

-

Die Mehrwertsteuer wird allgemein auf Umsätze angewandt, bei denen es um Gegenstände oder Dienstleistungen geht;

-

sie ist dem Preis dieser Gegenstände und Dienstleistungen proportional;

-

sie wird auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe erhoben, und

-

sie erfaßt den Mehrwert der Gegenstände und Dienstleistungen, da die für einen Umsatz geschuldete Mehrwertsteuer unter Abzug der auf den vorangegangenen Umsatz gezahlten Mehrwertsteuer berechnet wird.

Wie sich aus dem Urteil des EuGH vom 7. Mai 1992, Rs C-347/90, Aldo Bozzi, Slg. 1992, I-2947, ergibt, das zu Beiträgen der Rechtsanwälte und Procuratori legali in Italien zur Cassa Nazionale di Previdenza ed Assistenza a favore degli Avvocati e dei Procuratori legali ergangen ist, steht es dem Umsatzsteuercharakter einer gesetzlich festgelegten Zwangsleistung nicht entgegen, wenn diese der Finanzierung anderer Einrichtungen als Gebietskörperschaften dient. Da die Kammerumlage I aber nicht in einem Prozentsatz der Entgelte aus Lieferungen und Leistungen des Schuldners dieser Abgabe besteht, sondern in einem Anteil des Vorsteuerbetrages aus den beim Unternehmer eingegangenen Lieferungen und sonstigen Leistungen, und da damit auch nicht an den Mehrwert aus Umsatz und vorangegangenem Umsatz angeknüpft wird, scheint die Kammerumlage I der Mehrwertsteuer nicht ähnlich.

Dessenungeachtet erhebt sich die Frage, ob sie nicht der Intention und damit dem Geist der Richtlinie 77/388/EWG widerspricht. Diese Intention geht nämlich dahin, das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems nicht dadurch zu beeinträchtigen, daß der Waren- und Dienstleistungsverkehr in einer mit der Mehrwertsteuer vergleichbaren Weise belastet wird (vgl. EuGH vom 13. Juli 1989, Rs 93/88, Wisselink, Slg. 1989, 2671, und vom 19. März 1991, Rs C-109/90, Giant, Slg. 1991, I-1385). Eine derartige Beeinträchtigung kann aber auch dadurch bewirkt werden, daß eine dem Mehrwertsteuersystem immanente Kürzungskomponente, nämlich die Vorsteuer, nicht in vollem Ausmaß zum Tragen kommt und dadurch die Umsatzsteuer atypisch und ALLGEMEIN erhöht wird. Für das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems scheint es nämlich unerheblich, ob die zu vermeidende Beeinträchtigung durch eine zusätzliche, der Umsatzsteuer gleichartige Abgabe oder durch einen Zuschlag zur Umsatzsteuer oder durch eine Abgabe erfolgt, die GENERELL eine die Umsatzsteuer erhöhende Auswirkung hat.

Gemäß Art. 177 EGV waren daher die im Spruch formulierten Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.

5. Zum gegenständlichen verwaltungsgerichtlichen Verfahren

Gemäß § 38a VwGG idF BGBl. 470/1995 darf der VwGH, wenn er den auch den Parteien zuzustellenden Beschluß gefaßt hat, dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung nach Art. 177 EGV vorzulegen, in der Folge bis zum Einlangen der Vorabentscheidung nur solche Handlungen vornehmen und nur solche Entscheidungen und Verfügungen treffen, die durch die Vorabentscheidung nicht beeinflußt werden können oder die die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten. Aus der Regelung des § 38a VwGG folgt, daß im Zusammenhang mit der Vorlage an den EuGH ein Beschluß auf Unterbrechung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht zu ergehen hat.

Gerichtsentscheidung

EuGH 61981CJ0283 CILFIT und Lanificio di Gavardo VORAB;
EuGH 61990CJ0200 Dansk Denkavit und Poulsen Trading VORAB;
EuGH 61990CJ0347 Aldo Bozzi VORAB;
EuGH 61990CJ0109 Giant VORAB;
EuGH 61988CJ0093 Wisselink VORAB;

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:1996150065.X00

Im RIS seit

05.03.2002

Zuletzt aktualisiert am

04.03.2016
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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