TE Vwgh Erkenntnis 2021/12/21 Ra 2020/21/0446

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Veröffentlicht am 21.12.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
ZustG §13 Abs1
ZustG §2 Z4
ZustG §2 Z5 idF 2004/I/010
ZustG §4
ZustG §8 Abs1
ZustG §8 Abs2

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger sowie den Hofrat Dr. Chvosta als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. September 2020, I422 2232293-1/9E, I422 2232293-2/2E, betreffend Zurückweisung einer Beschwerde in einer fremdenrechtlichen Angelegenheit (insbesondere Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot) sowie Zurückweisung eines Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (mitbeteiligte Partei: D G, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) leitete gegen den Mitbeteiligten, einen Staatsangehörigen von Bosnien und Herzegowina, mit Schreiben vom 4. Oktober 2018 ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbots ein, indem es dem Mitbeteiligten dazu schriftlich Parteiengehör gewährte.

2        Mit Bescheid vom 4. April 2019 - dessen Zustellung strittig ist - erteilte das BFA dem Mitbeteiligten (von Amts wegen) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und wegen seiner Straffälligkeit ein sechsjähriges Einreiseverbot, stellte fest, dass seine Abschiebung „nach Serbien“ zulässig sei, gewährte keine Frist für die freiwillige Ausreise und erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab.

3        Mit Schriftsatz vom 16. März 2020 stellte der Mitbeteiligte einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen diese Erledigung und holte unter einem die Beschwerde nach.

4        Der Wiedereinsetzungsantrag wurde vom BFA mit Bescheid vom 13. Mai 2020 abgewiesen, wogegen der Mitbeteiligte Beschwerde erhob.

5        Mit der angefochtenen Entscheidung wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen den Bescheid vom 4. April 2019 als unzulässig zurück (Spruchpunkt I., in Beschlussform). In Erledigung der Beschwerde gegen den Bescheid vom 13. Mai 2020 wurde dieser der Sache nach dahingehend abgeändert, dass der Wiedereinsetzungsantrag als unzulässig zurückgewiesen werde (Spruchpunkt II., in Erkenntnisform).

6        Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass an den Mitbeteiligten am 8. Oktober 2018 nachweislich die Zustellung des Schreibens des BFA vom 4. Oktober 2018 zur beabsichtigten aufenthaltsbeendenden Maßnahme erfolgt sei. Der Mitbeteiligte sei in diesem Schreiben darauf hingewiesen worden, dass er der Behörde jede Änderung seiner Zustelladresse unverzüglich mitzuteilen habe. Der Mitbeteiligte sei bei seinem „Haftantritt“ am 3. Oktober 2018 erstmals in Österreich melderechtlich erfasst worden und sodann bis 6. März 2019 „in verschiedenen Justizanstalten“ gemeldet gewesen. Das BFA habe die Erledigung vom 4. April 2019 in Ermangelung einer Zustelladresse durch Hinterlegung im Akt zugestellt.

7        In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, das BFA habe die Hinterlegung im Akt ohne vorhergehenden Zustellversuch auf § 8 ZustG gestützt. Der Mitbeteiligte habe aber während seines gesamten Aufenthalts in Österreich über keine Abgabestelle im Sinn des ZustG verfügt, weil er lediglich in zwei Justizanstalten gemeldet gewesen sei. Insoweit habe ihn die Mitteilungspflicht nach § 8 Abs. 1 ZustG mangels Änderung seiner bisherigen Abgabestelle nicht getroffen, sodass ein Vorgehen nach § 8 Abs. 2 ZustG nicht zulässig gewesen sei. Der Zustellmangel sei auch in weiterer Folge nicht geheilt worden, sodass der Bescheid vom 4. April 2019 nicht wirksam zugestellt worden sei. Er sei daher als nicht erlassen zu qualifizieren und die dagegen erhobene Beschwerde somit zurückzuweisen. Im Hinblick darauf, dass die Beschwerdefrist noch nicht zu laufen begonnen habe, sei auch der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückzuweisen.

8        Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht jeweils aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

9        Über die gegen diese Entscheidung erhobene Amtsrevision des BFA hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen:

10       Das BFA macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei. Nach dieser Rechtsprechung sei eine Haftanstalt - entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts - eine Abgabestelle im Sinn des ZustG und die Aufgabe dieser Abgabestelle infolge einer Haftentlassung eine mitteilungspflichtige Änderung nach § 8 Abs. 1 ZustG.

11       Die Revision ist aus dem genannten Grund zulässig und berechtigt.

12       Gemäß § 8 Abs. 1 ZustG hat eine Partei, die während eines Verfahrens, von dem sie Kenntnis hat, ihre bisherige Abgabestelle ändert, dies der Behörde unverzüglich mitzuteilen. Wird diese Mitteilung unterlassen, so ist gemäß § 8 Abs. 2 ZustG, soweit die Verfahrensvorschriften nicht anderes vorsehen, die Zustellung durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch vorzunehmen, falls eine Abgabestelle nicht ohne Schwierigkeiten festgestellt werden kann.

13       Das Bundesverwaltungsgericht verneinte die Anwendbarkeit des § 8 ZustG, weil der Mitbeteiligte über keine „bisherige Abgabestelle“, deren Änderung mitzuteilen gewesen wäre, verfügt habe. Dabei ging es - ohne dies zu begründen - davon aus, dass es sich bei einer Justizanstalt um keine Abgabestelle handle. Dies trifft jedoch - jedenfalls in dieser Allgemeinheit - nicht zu.

14       Abgabestelle ist gemäß § 2 Z 4 ZustG „die Wohnung oder sonstige Unterkunft, die Betriebsstätte, der Sitz, der Geschäftsraum, die Kanzlei oder auch der Arbeitsplatz des Empfängers, im Falle einer Zustellung anlässlich einer Amtshandlung auch deren Ort, oder ein vom Empfänger der Behörde für die Zustellung in einem laufenden Verfahren angegebener Ort“.

15       Diese Begriffsbestimmung fand sich zuvor in § 2 Z 5 ZustG (bis zum 31. Dezember 2007) bzw. in § 4 ZustG (bis zum 29. Februar 2004). Da die Formulierungen (abgesehen vom letzten Teil betreffend den vom Empfänger für die Zustellung angegebenen Ort, der in § 4 ZustG noch fehlte) textgleich sind, kann die zu den genannten Vorgängerbestimmungen ergangene Rechtsprechung auf die nunmehr geltende Rechtslage übertragen werden (so schon - implizit - VwGH 25.5.2020, Ra 2018/19/0708, Rn. 20; vgl auch Stumvoll in Fasching/Konecny3 II/2 § 2 ZustG Rz 6).

16       Nach dieser Rechtsprechung werden als „Wohnung“ Räumlichkeiten verstanden, die im Zeitpunkt der Zustellung dem Empfänger tatsächlich als Unterkunft in der Art eines Heimes dienen; Räumlichkeiten also, die der Empfänger tatsächlich benützt, wo er gewöhnlich zu nächtigen oder sich sonst aufzuhalten pflegt. Eine „sonstige Unterkunft“ liegt vor, wenn sich der Empfänger in Räumlichkeiten aufhält, die nicht das sind, was nach den allgemeinen Lebensgewohnheiten als Wohnung zu betrachten ist, selbst wenn der Aufenthalt nicht ständig, sondern nur vorübergehend ist, also nicht, wie dies bei Wohnungen der Fall ist, auf Dauer angelegt ist. Stets muss es sich um Räumlichkeiten handeln, die als Wohnungsersatz in Betracht kommen können und die dem Unterkommen dienen, wie z.B. Unterkünfte in Pensionen, Hotels oder Heimen (so z.B. Studenten- oder Seniorenheimen), Pendlerwohngelegenheiten, ein Wohnwagen sowie Unterkünfte für Asylwerber in Lagern oder Betreuungsstellen (vgl. VwGH 7.10.2010, 2006/20/0035, mwN). Bei einem nur vorübergehenden Aufenthalt bedarf es einer gewissen - hinsichtlich der Mindestdauer von den Umständen des Einzelfalles abhängigen - zeitlichen Verfestigung (vgl. VwGH 27.4.2006, 2005/20/0645, mwN; dies wurde im diesem Erkenntnis zugrunde liegenden Fall bei zweimaliger Übernachtung und Aufenthalt während eines Tages in einem „Notquartier“ des Bundesasylamtes verneint).

17       Als Abgabestelle im dargestellten Sinn wurde vom Verwaltungsgerichtshof etwa ein Polizeianhaltezentrum, in dem sich der Empfänger für etwas mehr als zwei Monate in Schubhaft befand, qualifiziert (vgl. das schon genannte Erkenntnis VwGH 7.10.2010, 2006/20/0035, mwN); Justizanstalten, in denen der Empfänger in Strafhaft angehalten wurde, wurden ebenfalls - ohne dass dies als näher begründungbedürftig erachtet wurde - als Abgabestellen angesehen (vgl. etwa VwGH 7.9.2004, 2001/18/0037; VwGH 29.6.2006, 2006/01/0250; s auch Stumvoll in Fasching/Konecny3 II/2 § 2 ZustG Rz 21 mit Hinweis auf OGH 17.3.1964, 8 Ob 80/64; Raschauer in Frauenberger-Pfeiler u.a. (Hrsg.), Österreichisches Zustellrecht2, § 2 ZustG Rz 7c), auch wenn das Tatbestandsmerkmal der Änderung der Abgabestelle im Sinn des § 8 Abs. 1 ZustG durch eine Inhaftierung für sich genommen noch nicht bewirkt wird, sondern das nicht nur vorübergehende Verlassen der bisherigen Abgabestelle voraussetzt (vgl. VwGH 12.9.2002, 2002/20/0229).

18       Der Mitbeteiligte war, wie sich aus der im Akt liegenden Melderegisterauskunft ergibt, von 3. Oktober bis 11. Oktober 2018 in der Justizanstalt Wels und von 11. Oktober 2018 bis 6. März 2019 in der Justizanstalt Garsten gemeldet. Die Zustellung im Rahmen des Parteiengehörs im gegenständlichen Verfahren erfolgte am 8. Oktober 2018 in der Justizanstalt Wels, wo er in Untersuchungshaft angehalten wurde. Auf Grund des mehr als einwöchigen Aufenthalts in dieser Justizanstalt war von einer derartigen zeitlichen Verfestigung auszugehen, dass eine Abgabestelle im Sinn des § 2 Z 4 ZustG begründet wurde. Deren Änderung - zunächst schon durch die Verlegung in die Justizanstalt Garsten und schließlich durch die Haftentlassung - wäre daher vom Mitbeteiligten, der vom Verfahren infolge der unstrittigen Zustellung Kenntnis hatte, gemäß § 8 Abs. 1 ZustG dem BFA mitzuteilen gewesen. Da der Mitbeteiligte dies unterlassen hat, war das BFA - unter der weiteren, vom Bundesverwaltungsgericht ausgehend von seiner falschen Rechtsansicht nicht geprüften Voraussetzung, dass eine Abgabestelle nicht ohne Schwierigkeiten festgestellt werden konnte - gemäß § 8 Abs. 2 ZustG zur Zustellung durch Hinterlegung ohne vorherigen Zustellversuch berechtigt.

19       Da das Bundesverwaltungsgericht dies verkannt hat und - auf Basis seiner Feststellungen - zu Unrecht von einer unwirksamen Zustellung des Bescheides des BFA vom 4. April 2019 ausgegangen ist, waren sowohl der Spruchpunkt I. der angefochtenen Entscheidung betreffend die Zurückweisung der Beschwerde als unzulässig als auch der darauf aufbauende Spruchpunkt II. betreffend die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Wien, am 21. Dezember 2021

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Auslegung unbestimmter Begriffe VwRallg3/4 Verfahrensbestimmungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210446.L00

Im RIS seit

10.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

24.02.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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