RS Vfgh 2021/12/15 G229/2021

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Veröffentlicht am 15.12.2021
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Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art137
B-VG Art143
B-VG Art144
B-VG Art140 Abs1 Z1 litb
StGG Art2
VfGG §7 Abs1, §34, §35, §57a Abs5, §62a Abs5
ZPO §530, §531, §534

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht sowie des Rechtsstaatsprinzips durch den Ausschluss der Wiederaufnahme des Verfahrens bei Parteianträgen auf Normenkontrolle gemäß einer Bestimmung des VfGG; Wiederaufnahme auch anderer Verfahren als Beschwerdeverfahren, Klagen wegen vermögensrechtlicher Ansprüche und Anklagen oberster Bundes- und Landesorgane verfassungsrechtlich geboten

Rechtssatz

Aufhebung des §34 VfGG idF BGBl I 33/2013 unter Fristsetzung mit Ablauf des 31.12.2022 wegen Widerspruchs gegen den Gleichheitssatz und das Rechtsstaatsprinzip.

Der Zweck des Institutes der Wiederaufnahme des Verfahrens ist die Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung wegen eines der im Gesetz genannten schwerwiegenden Mängel und ihre Ersetzung durch eine fehlerfreie Entscheidung. Bei der Abwägung zwischen dem Interesse an Rechtssicherheit und Bestandskraft eines Rechtsaktes einerseits und dessen Rechtmäßigkeit andererseits hat der Gesetzgeber zwar einen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum, der größer ist, wenn es um ein Verfahren geht, bei dem der individuelle Rechtsschutz des Einzelnen nicht im Vordergrund steht. So hat zB bei Verfahren nach Art 141 B-VG das allgemeine Interesse an der Rechtssicherheit und Bestandskraft Vorrang, sodass hier die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder einer Wiederaufnahme des Verfahrens nicht verfassungsrechtlich geboten ist (VfSlg 16309/2001). Hingegen ist im Hinblick auf die besondere Bedeutung, die die Bundesverfassung der Normenkontrolle auch im Zusammenhang mit dem individuellen Rechtsschutz beimisst, das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme insoweit mindestens ebenso wichtig wie das der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (VfSlg 20107/2016).

Mit ihrem Vorbringen zur Möglichkeit der eigenständigen Prüfung der Zulässigkeit des in Art140 Abs1 Z1 litd B-VG angesprochenen Rechtsmittels verkennt die Bundesregierung, dass der VfGH gemäß §57a Abs5, §62a Abs5 VfGG das ordentliche Gericht erster Instanz von der Stellung eines Parteiantrages auf Normenkontrolle zu verständigen hat, welches dem VfGH seine Entscheidung über die Rechtzeitigkeit und Zulässigkeit des Rechtsmittels mitzuteilen hat. Dabei ist der VfGH an diesbezügliche rechtskräftige Entscheidungen der ordentlichen Gerichte im Anlassverfahren gebunden, sofern es sich dabei nicht um bloße "Verständigungen" handelt, sondern um nach außen getretene Rechtsakte, die auch gegenüber den Parteien des Anlassverfahrens ergangen sind. In den Fällen, in denen der VfGH an die rechtskräftigen Entscheidungen der ordentlichen Gerichte hinsichtlich der Zulässigkeit des Rechtsmittels im Anlassverfahren gebunden ist, ist somit bei geänderter Vorfrageentscheidung die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens verfassungsrechtlich geboten.

(Anlassfall G83/2021, E v 15.12.2021, Ablehnung der Behandlung des Antrags nach Art140 Abs1 Z1 litd B-VG nach Bewilligung der Wiederaufnahme des Verfahrens des gem §35 Abs1 VfGG iVm §530 Abs1 Z5 ZPO aufgehobenen B v 26.11.2020, G345/2020).

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Wiederaufnahme, Rechtsstaatsprinzip, Zivilprozess, VfGH / Individualantrag, VfGH / Parteiantrag, VfGH / Fristsetzung, Rechtsschutz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:G229.2021

Zuletzt aktualisiert am

27.07.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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