TE OGH 2021/12/22 3Ob225/21s

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Veröffentlicht am 22.12.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Exekutionssache der betreibenden Partei M***** GmbH, *****, vertreten durch Haslinger/Nagele Rechtsanwälte GmbH in Linz, gegen die verpflichtete Partei B***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Friedrich Helml, Rechtsanwalt in Wien, wegen Unterlassung (§ 355 EO), aus Anlass des außerordentlichen Revisionsrekurses der verpflichteten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 11. Oktober 2021, GZ 14 R 134/21f, 14 R 135/21b-11, mit dem die Rekurse der verpflichteten Partei gegen die Beschlüsse des Bezirksgerichts Urfahr vom 7. Juli 2021, GZ 7 E 821/21s-4, und vom 29. Juli 2021, GZ 7 E 821/21s-6, zurückgewiesen wurden, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Akt wird dem Erstgericht zurückgestellt.

Text

Begründung:

[1]            Mit Beschluss vom 7. 7. 2021 (ON 4) bewilligte das Erstgericht der Betreibenden gegen die Verpflichtete aufgrund der vollstreckbaren einstweiligen Verfügung des Landesgerichts Linz vom 19. 5. 2021, AZ 4 Cg 67/21x, die Exekution gemäß § 355 EO zur Erwirkung der Unterlassung, im geschäftlichen Verkehr während des aufrechten Wettbewerbsverbots in ***** ein Fitnessstudio bzw einen Betrieb zu eröffnen und zu betreiben oder sich daran direkt oder indirekt zu beteiligen, das in wesentlichen Bestandteilen auf dem M*****-System basiert. Gleichzeitig verhängte es wegen behaupteter Zuwiderhandlungen eine Geldstrafe von 1.500 EUR. Mit Beschluss vom 29. 7. 2021 (ON 6) verhängte das Erstgericht aufgrund des behaupteten neuerlichen Zuwiderhandelns der Verpflichteten eine weitere Geldstrafe von 4.000 EUR.

[2]       Das Rekursgericht wies die Rekurse der Verpflichteten gegen diese beiden Beschlüsse wegen Verspätung zurück. Der Beschluss ON 4 sei dem Vertreter der Verpflichteten am 13. 7. 2021 und der Beschluss ON 6 am 3. 8. 2021 nachweislich zugestellt worden. Der am 29. 7. 2021 gegen den Beschluss ON 4 und der am 18. 8. 2021 gegen den Beschluss ON 6 eingebrachte Rekurs seien daher verspätet. Der ordentliche Revisionsrekurs sei jeweils nicht zulässig.

[3]            In ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs wegen Mangelhaftigkeit, unrichtiger Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung führt die Verpflichtete aus, dass die zurückgewiesenen Rekurse in Wirklichkeit rechtzeitig eingebracht worden seien. Aus den von ihrem Vertreter bei der Post veranlassten Sendungsverfolgungen ergebe sich, dass der Beschluss ON 4 zu Sendungsnummer BB00BBJ456210065091833 tatsächlich am 15. 7. 2021 am Zustellort Linz (Beilage ./B) und der Beschluss ON 6 zu Sendungsnummer BB00BBJ456210065514752 tatsächlich am 4. 8. 2021 ebenfalls am Zustellort Linz (Beilage ./D) zugestellt worden seien. Aus einem ähnlich gelagerten Fall sei dem Verpflichtetenvertreter bekannt, dass die Post bei Nachsendeaufträgen offenbar teilweise wegen eines EDV-Problems ein falsches Zustelldatum im Rückschein ausweise.

Rechtliche Beurteilung

[4]            Über den außerordentlichen Revisionsrekurs kann derzeit noch nicht entschieden werden.

[5]            1. Nach § 22 Abs 1 ZustG ist die Zustellung vom Zusteller auf dem Zustellnachweis zu beurkunden. Die vom Zusteller ausgestellten Zustellnachweise sind nach § 292 Abs 1 ZPO öffentliche Urkunden, die – wenn sie die gehörige äußere Form aufweisen – den vollen Beweis dafür erbringen, dass die Zustellung vorschriftsmäßig erfolgt ist. § 292 ZPO gilt bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (vgl § 20 E-GovG) auch für den „hybriden Rückschein“. Auch wenn § 292 Abs 2 ZPO zur Widerlegung der beurkundeten Tatsachen den Beweis des Gegenteils erfordert, begnügt sich die Rechtsprechung beim Zustellnachweis mit dem Gegenbeweis, was mit dem Gebot der amtswegigen Überprüfung des Zustellvorgangs begründet wird (RS0006957; vgl auch RS0006965 und 4 Ob 90/21w EvBL-LS 2021/141 [Brenn]).

[6]            Rechtsmittelausführungen, die Umstände betreffen, die jederzeit von Amts wegen wahrzunehmen sind, verstoßen nicht gegen das Neuerungsverbot (vgl RS0108589 [T1], RS0006957 [T3]). In Bezug auf die Rechtzeitigkeit eines Rechtsmittels kann auch der Oberste Gerichtshof Tatsacheninstanz mit Erhebungspflichten sein (RS0006965 [T16]).

[7]            2. Die Verpflichtete hat in ihrem Rechtsmittel Umstände vorgebracht, die geeignet sind, im Hinblick auf den Zeitpunkt der Zustellung der erstgerichtlichen Beschlüsse ON 4 und ON 6 Zweifel an der Richtigkeit der beurkundeten Angaben in den betreffenden Zustellscheinen zu begründen. Die Zustellvorgänge sind daher amtswegig zu überprüfen.

[8]            3.1 Aus der Aktenlage und den vorgelegten Bescheinigungsmitteln ergibt sich bisher:

[9]       Die RSb-Sendung (Kuvert zum Hybrid-RSb) zu ON 4 (BB00BBJ456210065091833) war an den Kanzleisitz des Verpflichtetenvertreters in Wien adressiert. In der Jv-Zustellübersicht scheinen dazu folgende Angaben auf: „Nachgesendet am 13.07.2021 (Helml Rechtsanwälte. ***** Linz)“; „Zugestellt am 13.07.2021“; Übernahmeverhältnis: Empfänger (Dr. Friedrich Helml, LL.M.). Auf der Zustellkarte ist das Übernahmedatum mit „13.07.2021“ angegeben; die Unterschrift deutet auf „M*****“ hin und scheint identisch mit jener auf der Zustellkarte zu ON 6 zu sein. Unterhalb der Unterschrift findet sich der Vermerk: „Nachsender: ***** Linz“. In Beilage ./B (Nachschau für Briefsendungen) finden sich die Angaben: „Erfassungszeitpunkt: 15.07.2021“; „Status Sendung: zugestellt“. Bei den „Trackevents“ ist (unter „Beschreibung“) zum 13. 7. 2021 der Vermerk „Nachsendung Exportiert“ und zum 15. 7. 2021 „Empfänger Exportiert“ angegeben. Auf Beilage ./A ist der Stempel „15. Juli 2021 – H*****.AT“ angebracht.

                  3.2 Die RSb-Sendung (Kuvert zum Hybrid-RSb) zu ON 6 (BB00BBJ456210065514752) war ebenfalls an den Kanzleisitz des Verpflichtetenvertreters in Wien adressiert. In der Jv-Zustellübersicht scheinen folgende Angaben auf: „Nachgesendet am 03.08.2021 (Helml Rechtsanwälte. ***** Linz)“; „Zugestellt am 03.08.2021“; „Übernahmeverhältnis: Arbeitnehmer (M*****)“. Auf der Zustellkarte ist das Übernahmedatum mit „03.08.2021“ angegeben; die Unterschrift deutet auf „M*****“ hin und scheint identisch mit jener auf der Zustellkarte zu ON 4 zu sein. Unterhalb der Unterschrift findet sich der Vermerk: „Nachsender: ***** Linz“. In Beilage ./D (Nachschau für Briefsendungen) finden sich die Angaben: „Erfassungszeitpunkt: 04.08.2021“; „Status Sendung: zugestellt“. Bei den „Trackevents“ ist (unter „Beschreibung“) zum 3. 8. 2021 der Vermerk „Nachsendung Exportiert“ und zum 5. 8. 2021 „Arbeitnehmer Exportiert“ angegeben. Auf Beilage ./C ist der Stempel „04. Aug. 2021 – H*****.AT“ angebracht.

[10]           4.1 Zur Klärung der Rechtzeitigkeit der Rekurse der Verpflichteten gegen die Beschlüsse ON 4 und ON 6 sind – im Weg des Erstgerichts – Erhebungen zu folgenden Fragen durchzuführen:

Zu den Zustellkarten zu ON 4 und ON 6:

- Von wem stammt die jeweilige „Unterschrift“ (das Schriftbild); in welchem Verhältnis steht diese Person zum Verpflichtetenvertreter; wurden die „Unterschriften“ auf Papier oder auf einem elektronischen Gerät geleistet?

- An welchem Tag und an welchem Ort wurde die jeweilige „Unterschrift“ geleistet?

- Von wem, wann und auf welche Weise wurde die jeweilige Nachsendung vom Kanzleisitz des Verpflichtetenvertreters in Wien an die Sprechstelle in Linz veranlasst; handelte es sich um einen Nachsendeauftrag im Einzelfall und wurde dieser nach einem Zustellversuch oder aus Anlass eines Zustellversuchs in Wien erteilt, oder handelte es sich um einen generellen, vor einem konkreten Zustellversuch erteilten Nachsendeauftrag; wie lautet gegebenenfalls der generelle Nachsendeauftrag, zumal sich der Kanzleisitz des Verpflichtetenvertreters in Wien befindet?

- Wurde die jeweilige Zustellung am Kanzleisitz des Verpflichtetenvertreters in Wien versucht und hat sich der Postzusteller zu diesem Zweck in die Kanzlei in Wien begeben; an welchem Tag ist dies gegebenenfalls geschehen?

- Wurden die elektronischen Zustellkarten vom Postzusteller qualifiziert elektronisch signiert oder sind sie mit einer Amtssignatur gegebenenfalls welcher Stelle versehen; steht der Vermerk „Zustellung beurkundet gem. ZustellG § 22 Abs 1“ mit einer elektronischen Signatur in Verbindung; wie wurden die elektronischen Zustellkarten bzw Zustellnachweise an das Erstgericht übermittelt?

Zu den Beilagen ./B und ./D:

- An welchem Tag ist nach der jeweiligen Beilage die Zustellung erfolgt und auf welchen Zustellungsort bezieht sich diese Angabe?

- Was bedeuten die Vermerke „Nachsendung Exportiert“ und „Empfänger Exportiert“ konkret?

Zu den Beilagen ./C und ./D:

- Warum scheint in Beilage ./D zum Vermerk „Arbeitnehmer Exportiert“ das Datum 05.08.2021 auf, obwohl auf Beilage./C der Kanzleistempel „H-*****.AT“ bereits am 04. Aug. 2021 angebracht wurde?

Zu den Rekursen gegen beide Beschlüsse:

- Von wem stammt die Unterschrift auf diesen Rekursen?

Zur Entscheidung des Rekursgerichts ON 11:

- Warum wurde diese Entscheidung am Kanzleisitz des Verpflichtetenvertreters in Wien zugestellt und nicht an die Sprechstelle in Linz nachgesandt?

4.2 Zu diesen Fragen wollen vom Erstgericht folgende Personen einvernommen werden:

- Zuständige(r) Postzusteller/in in Wien;

- Zuständige(r) Postzusteller/in in Linz;

- Informierter Vertreter/in des Teams Behördenanfragen – Hybrid der Österreichischen Post AG, Kundenservice Wien;

- Verpflichtetenvertreter;

- Mitarbeiter/in „M*****“ des Verpflichtetenvertreters.

[11]            4.3 Die Erhebungsergebnisse wollen den Parteien (gesammelt) zur Kenntnis gebracht und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.

Textnummer

E133520

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0030OB00225.21S.1222.000

Im RIS seit

18.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

18.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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