TE Vwgh Erkenntnis 1996/10/24 95/20/0552

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Veröffentlicht am 24.10.1996
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1991 §1 Z1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Bachler und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde des K in S, vertreten durch Dr. G, Rechtsanwalt in S, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 26. Juli 1995, Zl. 4.346.745/1-III/13/95, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und reiste am 23. März 1995 in das Bundesgebiet ein. Er stellte am 28. März 1995 den schriftlichen Antrag, ihm Asyl zu gewähren, und begründete diesen in einem weiteren Schriftsatz im wesentlichen und zusammengefaßt dahingehend, er sei Kurde und habe in einem ländlichen Weiler im Bezirk Nazimiye als Bauer gelebt, sei relativ wohlhabend und nicht nur im Besitz von Grundeigentum, sondern auch einer Bienenzucht, von Schafen, Ziegen, Kühen sowie von zwei Pferden gewesen. Am 11. Juni 1990 sei er im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Befreiungsbewegung erstmals selbst von Sicherheitskräften attackiert worden, die ihn aus seinem Hause verschleppt und mit einem Gewehrkolben derart geschlagen hätten, bis sie ihn in der Folge am Straßenrand als vermeintlich tot liegengelassen hätten, wo er von einem Hirten gefunden und nach Hause gebracht worden sei. Von diesem Vorfall habe er schwere Verletzungen am Kopf und am Bein davongetragen. In der Folge sei es immer wieder zwangsweise zu Vernehmungen durch die Sicherheitskräfte bzw. Militärs gekommen, die ihm Kontakt zur PKK unterstellt hätten. Ebenso habe man ihn auch bedrängt, seinen Hof zu verlassen. Dies habe er jedoch über Jahre hindurch verweigert, sodaß die Schikanen und der Druck der Sicherheitskräfte auf ihn immer stärker geworden sei. Dazu sei die allgemeine Bedrohung durch militärische Aktionen, wie das Abwerfen von Brandbomben in der näheren Umgebung gekommen. Anfang September 1994 sei sein Nachbar, der verdächtigt worden sei, Angehörige der PKK durch Benützung seines Telefones unterstützt zu haben, sowie dessen Tochter verschleppt worden. Man habe die beiden in der Folge erschossen aufgefunden. Etwa am 20. September 1994 seien Angehörige der türkischen Streitkräfte zu ihm ins Haus gekommen und hätten nach seinem Sohn gefragt. Seiner Antwort, dieser befinde sich bei seinem Großvater in Tunceli, sei kein Glaube geschenkt worden, man habe das ganze Haus durchsucht, das Stallgebäude in Brand gelegt und ihm selbst gedroht, solle beim nächsten Mal sein Sohn nicht da sein, werde man ihn töten. Daraufhin sei er nach Tunceli gegangen, um seinen Sohn zu suchen, habe diesen jedoch nicht angetroffen. Als er am 26. September 1994 zu seinem Anwesen zurückgekehrt sei, habe er feststellen müssen, daß sein Wohnhaus wenige Stunden zuvor in Brand gesetzt worden sei, nachdem die Sicherheitskräfte seine Frau gezwungen hätten, das Haus zu verlassen. Übrig geblieben seien lediglich sein Vieh und sein erspartes Geld. Dies habe ihn veranlaßt, zunächst nach Tunceli, dann nach Istanbul und von dort nach Österreich zu fliehen.

Anläßlich seiner in Gegenwart seines Rechtsvertreters vorgenommenen expliziten niederschriftlichen Befragung durch das Bundesasylamt bestätigte der Beschwerdeführer im wesentlichen die bereits schriftlich gemachten Angaben.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 27. Juni 1995 wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers abgewiesen. Das Bundesasylamt erachtete den von ihm geschilderten Vorfall im Juni 1990 u.a. auch wegen des mangelnden zeitlichen Zusammenhanges zu seiner Flucht als nicht mehr asylrelevant und führte zu den unmittelbaren Anlaß zur Flucht bildenden Ereignissen im September 1994 folgendes aus:

"So lassen sich die Ereignisse rund um Ihren Nachbarn, welcher mußmaßlich von türkischen Soldaten ermordet worden sein soll, nicht Ihrer Person zuordnen und ist auch nicht hervorgekommen, daß dessen Tod in irgendeinem näheren Zusammenhang zu Ihrem Asylvorbringen steht. Ihre im Verlauf des Interviews gemachte Behauptung, Sie hätten die Türkei verlassen müssen, um nicht auch noch umgebracht zu werden, hält das Bundesasylamt für nicht vorstellbar.

Nach ho. Ansicht zeigt sich dies auf die noch weiter unten ausführlicher dargelegte Vorgangsweise der türkischen Sicherheitskräfte hinsichtlich der Bekämpfung der PKK, wo anhand Ihrer Darlegungen jedenfalls davon auszugehen ist, daß Sie und Ihre Ehefrau zwar in Ihren materiellen Gütern schwer geschädigt wurden (was kein geschütztes Rechtsgut im Sinne der Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention darstellt), körperliche Übergriffe jedoch tunlichst vermieden wurden.

So ist nicht nur Ihre Ehefrau vor Zerstörung Ihres Anwesens zum Verlassen des Objektes aufgefordert worden, auch Sie selbst wurden am 20.9.1994 anläßlich der Frage nach dem Aufenthaltsort Ihres Sohnes nicht weiter körperlich belästigt, woran auch nicht die Drohungen einzelner Soldaten, die nicht dem offiziellen politischen Programm Ihres Heimatstaates entsprechen, etwas ändern können.

Außerdem bleibt festzuhalten, daß Sie sich nach diesem Ereignis bis zur endgültigen Flucht noch immer mehrere Monate in Ihrer Heimat aufgehalten haben. Daß Sie sich während dieses Zeitraumes versteckt gehalten haben muß nach Ansicht des Bundesasylamtes in Zusammenschau mit Ihren sonstigen Ausführungen relativiert werden, steht doch fest, daß Sie zur Beschaffung von Barmitteln einen Großteil des Viehbestandes verkauft haben, was naturgemäß nicht im Verborgenen geschehen kann.

Hinsichtlich der Zerstörung Ihres Anwesens ist festzuhalten, daß die politischen Artikulationsmöglichkeiten der Kurden in der Türkei starken Einschränkungen unterworfen sind, welche seinerseits aus dem bereits rund ein Jahrzehnt währenden in letzter Zeit kriegsähnliche Ausmaße annehmenden Kampf gegen die für ein unabhängiges Kurdistan eintretende Kurdische Arbeiterpartei PKK resultieren.

Ein Ziel der speziell im Südosten der Türkei operierenden Militäreinheiten bzw. sonstiger paramilitärischer Gruppierungen ist es, die logistische Basis der PKK dadurch zu zerstören, indem diese in einem "leeren Raum" isoliert wird.

Dies geschieht u.A. durch die Evakuierung bzw. Zerstörung von im Südosten der Türkei gelegenen Dörfern, um für den Lebensunterhalt der PKK-Kämpfer dienende mögliche Nahrungsquellen systematisch unbrauchbar zu machen.

Alle diese im Zusammenhang mit der Bekämpfung der terroristische Züge aufweisenden PKK stehenden zweifelsohne inhumanen und schweren finanziellen Schaden nach sich ziehenden Maßnahmen ändern jedoch nichts an der Tatsache, daß sich diese der militärischen Strategie entnommenen Operationen nicht gegen das einzelne Individuum kurdischer Herkunft wenden sondern als eine alle Menschen im Südosten der Türkei als dem Aufmarschgebiet der türkischen Armee und der Guerilla-Kämpfer der PKK in gleicher Weise treffende Maßnahme einzustufen ist.

Eine ethnisch motivierte Verfolgung ist dabei nicht nur wegen fehlender individueller Verfolgungsmaßnahmen auszuschließen, eine solche könnte auch objektiv betrachtet nicht angenommen werden, da die von militärischen Sachzwängen gekennzeichneten obangeführten Maßnahmen keine möglicherweise lebensbedrohende staatlich geduldete Verfolgung im Sinne der Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention darstellt und auch keine solche nach sich zieht."

In der gegen diesen Bescheid gerichteten Berufung bekräftigte der Beschwerdeführer im wesentlichen seine in erster Instanz dargelegten Fluchtgründe unter gleichzeitigem Anschluß einer die allgemeinen Verhältnisse in der Türkei betreffenden "Dokumentation Türkisch-Kurdistan" des Beschwerdevertreters.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde diese Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab, übernahm dabei die Sachverhaltsdarstellung und rechtliche Begründung des erstinstanzlichen Bescheides und führte lediglich ergänzend auf der Grundlage des Ergebnisses des Ermittlungsverfahrens erster Instanz im Sinne des § 20 Abs. 1 AsylG 1991, da die belangte Behörde einen der Fälle des § 20 Abs. 2 leg. cit. nicht als gegeben erachtete, dazu aus, den Angaben des Beschwerdeführers sei nicht zu entnehmen gewesen, daß er nicht Schutz vor etwaigen Fährnissen in einem anderen, befriedeten Teil der Türkei hätte finden können bzw. nicht sogar schon während seines Aufenthaltes in Istanbul gefunden habe (sogenannte "inländische Fluchtalternative"), zumal er anläßlich seiner Einvernahme selbst angegeben habe, während seines Aufenthaltes in Istanbul keinerlei Verfolgungshandlungen erlitten zu haben. Eine allgemeine Bestreitung sei irrelevant, weil es auf konkrete Verfolgungshandlungen ankomme.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Zunächst ist der belangten Behörde zuzugeben, daß sowohl die Schilderungen des Beschwerdeführers betreffend den Vorfall im Juni 1990 (fünf Jahre vor der Ausreise des Beschwerdeführers) als auch die - sicherlich entsetzlichen - Ereignisse betreffend seinen Nachbarn und dessen Familie wie auch die allgemeinen und weitwendigen Darstellungen des Beschwerdevertreters zur politischen Lage im Heimatgebiet des Beschwerdeführers aus den von der belangten Behörde übernommenen und zutreffenden Erwägungen des Bundesasylamtes für sich allein genommen für eine Asylgewährung nicht ausreichten. Wie der Verwaltungsgerichtshof aber bereits wiederholt betont hat, können auch Umstände, denen im einzelnen Asylrelevanz nicht zukommt, dann für die Beurteilung des Einzelfalles von Bedeutung sein, wenn sie bei Darstellung des konkreten Einzelschicksales lediglich illustrativ eine Gesamtschau ermöglichen, die den in der Genfer Flüchtlingskonvention aufgestellten Kriterien einer "Wohlbegründetheit" der Furcht vor Verfolgung entspricht. Auch erscheint in diesem Zusammenhang zweifelhaft, daß es der Dokumentation des Beschwerdevertreters bedurft hat, um die Verwaltungsbehörden von der Brisanz der allgemeinen Lage im Heimatland des Beschwerdeführers in Kenntnis zu setzen, geht doch bereits aus der Argumentation des erstinstanzlichen Bescheides, der inhaltlich auch von der belangten Behörde übernommen wurde, hervor, daß die Verwaltungsbehörden die Situation der in die bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse im Heimatgebiet des Beschwerdeführers verwickelten Bevölkerung keineswegs verkannt haben. Der Verwaltungsgerichtshof sieht darin keine Veranlassung, von seiner ständigen Judikatur abzugehen, wonach das Vorliegen einer "wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung" jeweils im Einzelfall anhand der von jedem Betroffenen darzustellenden Umstände der ihn selbst betreffenden, von ihm behaupteten Verfolgungsgefahr zu prüfen ist.

Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde - durch Übernahme der Sachverhaltsfeststellungen und rechtlichen Beurteilung durch die Behörde erster Instanz - zu Unrecht angenommen, eine konkret den Beschwerdeführer betreffende, wohlbegründete Furcht vor Verfolgung läge nicht vor, hat er doch anläßlich seiner erstinstanzlichen Einvernahme auch angegeben, daß die Sicherheitskräfte seines Heimatstaates nach seinem Sohn gesucht, diesen nicht vorgefunden, jedoch dem Beschwerdeführer offensichtlich unterstellt haben, vom Aufenthaltsort seines Sohnes Kenntnis zu haben und diesen zu verschweigen. Daher mußte er angesichts der nach seinen Schilderungen bereits erlittenen Mißhandlungen die ausgesprochenen Drohungen ernst nehmen. Des weiteren geht aus seinen Angaben hervor, daß - möglicherweise daraus folgend - ein direkter Zusammenhang zwischen der von den Sicherheitskräften vermuteten Weigerung zur Bekanntgabe des Aufenthaltsortes seines Sohnes und dem Abwurf von Brandbomben auf sein Anwesen bestanden habe. Diesen Zusammenhang hat die belangte Behörde - wie auch bereits das Bundesasylamt - nicht festgestellt bzw. ohne Vorliegen entsprechender Ermittlungsergebnisse angenommen, die Zerstörung des Hofes des Beschwerdeführers sei - losgelöst von der ihm gegenüber ausgesprochenen Drohung der Sicherheitskräfte - lediglich einem allgemeinen militärischen Kalkül gehorchend erfolgt. Auch kann die Annahme der belangten Behörde, der Beschwerdeführer habe die Möglichkeit einer "inländischen Fluchtalternative" in einem "befriedeten" Teil seines Heimatlandes, wenn nicht gar in Istanbul, haben können bzw. bereits gehabt, dem Akteninhalt nicht entnommen werden. Bereits anläßlich seiner Ersteinvernahme gab der Beschwerdeführer an, daß er sich nach Verlassen seines Anwesens im September 1994 bei verschiedenen Verwandten versteckt gehalten und seine Flucht zusammen mit seinem Sohn vorbereitet habe. Auch die Annahme der Behörde, der Verkauf der Tiere könne nicht "im Verborgenen" durchgeführt worden sein, entbehrt einer entsprechenden Grundlage, weil es durchaus denkbar wäre, daß dies durch einen Mittelsmann im Wege eines Barkaufs geschah, anläßlich dessen Personalien üblicherweise nicht ausgetauscht werden. Insoweit sich der Beschwerdeführer daher erstmals in der Beschwerde ausdrücklich gegen die Annahme einer inländischen Fluchtalternative, insbesondere in Istanbul wendet, sind seine Ausführungen beachtlich, weil er im Verwaltungsverfahren zu diesem Aspekt nicht näher befragt wurde, sein diesbezügliches Beschwerdevorbringen daher auch nicht gegen das Neuerungsverbot des § 41 Abs. 1 VwGG verstößt. Die belangte Behörde hätte vielmehr die näheren Umstände seines Aufenthaltes in Tunceli bzw. Istanbul, insbesondere die Dauer dieser jeweiligen Aufenthalte zum Gegenstand von Ermittlungen machen müssen, um ihrer Annahme einer "inländischen Fluchtalternative" eine entsprechende Sachverhaltsbasis zu verleihen.

Da die belangte Behörde im aufgezeigten Sinne Verfahrensvorschriften außer acht gelassen hat, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 20 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1994.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:1995200552.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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